»Als entdecke man den Ursprung der Musik«

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© Copyright 2000 by Universal Edition A.G., Wien

Georg Friedrich Haas‘ Komposition in vain ist wirklich ein erstaunliches Meisterwerk. Wie kann man es beschreiben? In der Neuen-Musik-Szene hat es sich bereits etabliert als eines der großen Meisterwerke des 21. Jahrhunderts. Haas hat mir selbst gesagt, er hätte gedacht, ein einstündiges Werk mit so großer Besetzung, das sich überwiegend außerhalb der üblichen Tonraster bewegt und bei dem es im Saal zwanzig Minuten lang vollkommen dunkel ist, so etwas würde niemals gespielt werden. Und es würde schon gar nicht ein solches Kultstück werden. Aber es bleibt nie bei einer Aufführung. Das Publikum will immer sofort mehr.

Bei den ersten Proben mit den Musikern der Orchester-Akademie habe ich versucht, das Stück irgend­wie zu beschreiben. Erstaunlicherweise gibt es aber kaum ein vergleichbares Werk. Manches klingt wie Ligeti, zum Beispiel diese umherhuschenden Figurationen im Violinkonzert, als würden hundert Alices und Kaninchen im Wunderland in Korridoren verschwinden. Manches erinnert vielleicht auch ein bisschen an Ligetis Atmosphères und deren faszinierende intergalaktische Stille.

Eines der ersten großen Meisterwerke des 21. Jahrhunderts

Simon Rattle

Aber der überwiegende Teil ist klanglich völlig unvergleichlich. Stellen Sie sich ein klingendes Rothko-Gemälde vor und Sie kommen der Sache schon näher. Wie seine Bilder hat diese Musik etwas Pulsierendes, Glühendes. Je länger man diese Bilder betrachtet, desto dynamischer wirken sie, und das gilt auch für dieses Stück. Haas selbst benutzte noch einen anderen schönen Vergleich: M. C. Eschers Treppauf Treppab war für ihn eine große Inspiration, das Bild einer Treppe, die scheinbar ständig aufwärts führt, bei der man am Ende aber wieder am Anfang steht.

Klanglich funktioniert dieses Werk ähnlich wie eine optische Täuschung. Es ist das Gegenteil der Sisyphos-Idee: Dieser war dazu verdammt, einen Stein immer wieder den Berg hinaufzurollen, der anschließend wieder herunterrollte. Hier steigt man die Treppe hinauf und glaubt, es ginge immer höher, aber tatsächlich kommt man immer wieder am Anfang an. Hier liegt wohl die Bedeutung von in vain: vergeblich.

Das Stück entstand als Reaktion auf das Erstarken der politischen Rechte in Österreich am Ende des letzten Jahrhunderts. Haas war verzweifelt angesichts dieser Entwicklung. Trotzdem ist das Stück weder tragisch noch politisch. Es ist eher so, als ginge man in einen verwunschenen Wald, eine Art Urdunkel, und als entdecke man dort den Ursprung der Musik.

Das Stück beginnt mit wild durcheinanderwirbelnden Klängen, mit einer Art akustischem Schnee­gestöber. Durch diese Klänge hindurch kann man Lichtstrahlen hören. Bei diesem Stück helfen nur Metaphern. Während sich das Schneegestöber legt und mehr und mehr lange Töne hörbar werden, wird es im Saal immer dunkler, bis es schließlich vollkommen finster ist. Nun klingt die Musik, als käme sie aus einer Art Ursuppe, als kämpfe sie sich ihren Weg ins Leben. Reine Töne reiben sich mit minimal tieferen oder höheren, als ob sie miteinander kämpften. Oder als würde man sich die Haut aufritzen.

Entschuldigen Sie diese Vergleiche! An einem gewissen Punkt klingt es, als ringe die Musik mit ihrem Werden. Es ist eine lange und schwierige Geburt. Dann bleiben die Streicher auf einem Akkord liegen und plötzlich hört man die Harfe. Man hat spontan den Eindruck, sie sei furchtbar verstimmt, aber tatsächlich spielt sie Varianten von natürlichen Obertönen, wie sie auf jedem Blechblasinstrument vorkommen. Unser modernes Stimmungssystem enthält viele Kompromisse gegenüber den natürlichen Intervallen. Haas ist zur Naturtonreihe zurückgekehrt, wie man sie zum Beispiel beim Horn bei konstanter Lippenspannung findet. So entsteht ein ganz besonderer, beinahe urtümlicher Klang. In diesem Stück geht es um Kontraste, um Licht und Dunkel, aber auch um die reinen Naturtöne, die sich mit den modernen Klängen reiben.

Am Anfang wird vor allem mit der Wirkung dieser Akkorde gespielt: Sie klingen wie fantastische Licht­effekte. Für mich wirkt die Musik dann wie etwas, das in Wagners Unterbewusstsein geschlummert haben mag, bevor er Das Rheingold schrieb, das mit diesem groß­artigen Es-Dur-Akkord beginnt. Aber diese Akkorde sind sehr viel älter, sie basieren auf der Naturtonreihe. Sie erklingen in den Posaunen und Hörnern, als würden sie uns zu einer Zeremonie rufen. Auf dem Höhepunkt des Stücks hören wir zehn Minuten lang die erstaunlichste Musik, die je geschrieben wurde. In ihrer Art ist sie für mich nur mit dem Schaffen von György Ligeti vergleichbar, der vor einigen Jahren verstarb.

Auf dem Höhepunkt des Stücks hören wir zehn Minuten lang die erstaunlichste Musik, die je geschrieben wurde.

Simon Rattle

Nun geht zum zweiten Mal das Licht aus und wir erleben die Geburt einer neuen Harmonie. Die Musiker spielen in völliger Dunkelheit. Jeder muss seinen Part auswendig beherrschen und zehn Minuten solcher Musik auswendig zu lernen, ist nicht leicht. Wir haben bis heute daran gearbeitet, auch in völliger Dunkelheit, so dass das helle Licht nun sehr überraschend kommt. Hier basiert der Klang zu großen Teilen auf einem natürlichen C-Dur, das in der Dunkelheit pulsiert und glüht, fast wie eine Halluzination. Und das Publikum spürt, dass etwas ganz Neues passiert: die Entdeckung einer reinen Harmonie, nicht nur musikalisch, sondern allumfassend.

Ich bin sicher, so hat es sich Haas gedacht. Man spürt, dass man sich an der Schwelle zur Erleuchtung befindet, zu neuer Erkenntnis. Dann wird es langsam wieder hell, und die Musik bleibt auf Eschers endloser Treppe hängen, so dass man völlig orientierungslos ist. Die Maschinerie gerät quasi ins Stocken, sie hat ihren natürlichen Zustand, ihren Urzustand verlassen, und die Vision ist wieder verloren. Tatsächlich zieht das Stück gegen Ende immer mehr an, genau, wie es sich vorher entspannt hat. Und wie am Ende von Bergs Wozzeck oder Schönbergs Erwartung hört es plötzlich und unvermittelt auf und alles war vergeblich: in vain.

Die Arbeit mit der Orchester-Akademie war eine groß­artige Erfahrung. Manche hatten Vorkenntnisse in Neuer Musik, andere nicht. Keiner hatte je ein Stück wie dieses gespielt, das nicht in normaler Stimmung, sondern in Mikrointervallen komponiert ist. Aber dieses Stück hat eine so eindrucksvolle Wirkung, dass es bestimmt in die Geschichte eingehen wird. Später wird man einmal sagen: Das war ein echter Neuanfang.

Als wir mit den Proben begannen, haben die Musiker gesagt: »Was ist das denn? Ist er verrückt? Kann man das überhaupt spielen?« Ich habe sie dann gebeten, es sich anzuhören, und danach haben einige erzählt: »Wir haben es uns angehört und konnten danach nicht einschlafen. Die Wirkung ist unglaublich!« Mich erinnert es stark an die großartigen Werke von Olafur Eliasson. Besonders an seine letzte Installation in Berlin: Man betrat einen gigantischen Raum, der voller Rauch war, und durch den Rauch strahlten gleißende Lichter. Man war vollkommen orientierungslos und ertrank geradezu in Farben.

Dieses Stück hat einen ähnlichen Effekt. Als ich anfing, es zu studieren, fielen mir sofort Eliassons Werke ein. Und als ich mich eines Abends hinsetzte, um es zum ersten Mal ganz durchzuhören, bekam ich mittendrin eine E-Mail von Olafur. Ich sah sie auf dem Computer und dachte: Wenn das kein Zeichen ist – Gedankenübertragung! Er wird zur ersten Aufführung kommen, denn an diesem Abend haben wir begonnen, über das Stück zu diskutieren. Dies kann also wirklich ein echter Neuanfang sein. Also kommen Sie und hören Sie es sich live an! Oder hören Sie eine Aufnahme! Es ist wirklich unvergleichlich. Man muss Geduld und Vertrauen mitbringen, aber es ist ein atemberaubendes Erlebnis und eines der ersten großen Meisterwerke des 21. Jahrhunderts.

Diese Einführung hielt Simon Rattle aus Anlass der Aufführung von »in vain« in der Berliner Philharmonie am 18.1.2013


Georg Friedrich Haas

in vain (für 24 Instrumente)
Besetzung: 2 1 2 1 - 2 0 2 0
Schl(2), Hf, Akk, Klav, Sax, Vl(3), Va(2), Vc(2), Kb
Uraufführung: 29.10.2000
Köln, Klangforum Wien,
Dirigent: Sylvain Cambreling