»Auf nach Mahagonny«

Kim Kowalke


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© courtesy of Kurt Weill Foundation for Music, New York
Kim Kowalke, Präsident der Kurt Weill Foundation in New York City

Kim Kowalke, Präsident der Kurt Weill Stiftung in New York, spricht über Geschichte, Rezeption und Aufführungsprobleme des Werks Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Weills und Brechts „epische Oper“ wurde zwar nicht so oft aufgeführt wie die Dreigroschenoper, blickt jedoch zweifellos auf eine außergewöhnlich reiche, wenn auch problematische Aufführungsgeschichte zurück.

Zu Weills Lebzeiten existierte keine endgültige Version von Mahagonny, wobei die so genannten Pariser, Berliner und Wiener Versionen allesamt Adaptionen entweder des Songspiels (1927) oder der vollständigen Oper (1930) waren. Erzählen Sie uns etwas über die Aufführungs­geschichte von Mahagonny zu Weills Lebzeiten.

Kowalke: Zu Weills Lebzeiten hatte Mahagonny niemals die Chance, sich durchzusetzen, was hauptsächlich auf die politische Situation zurückzuführen war. Die Universal Edition veröffentlichte vor der Premiere am 9. März 1930 in Leipzig, die von Gustav Brecher dirigiert wurde, einen Klavierauszug. Einige Tage später dirigierte Maurice Abravanel die Oper in Kassel. Im selben Sommer führte George Szell das Werk in Prag auf, und im Oktober dirigierte Wilhelm Steinberg zwölf Aufführungen in Frankfurt. Bis dahin waren jedoch alle Aufführungschancen an den Berliner Opernhäusern geschwunden. Selbst Klemperer erklärte das Werk für „unmoralisch“ und daher für zu riskant für den ehemals als abenteuerlustig bekannten Kroll. Schließlich wagte sich Ernst Josef Aufricht, der sowohl die Dreigroschenoper als auch Happy End in Berlin kommerziell produziert hatte, an eine Aufführung im Theater am Kurfürstendamm. So fand die erste Produktion dieser Oper in Berlin nicht einmal in einem Opernhaus statt, das Werk erreichte in der Stadt aber ungefähr 50 Aufführungen.

Die Berliner Produktion arbeitete nicht nur mit Opernsängern, sondern setzte hauptsächlich Operettensänger, wie Harald Paulsen, den ursprünglichen Macheath, ein. Man kann nicht sagen, dass die Aufführung musikalisch ungeschickt war, zumal Alexander Zemlinsky dirigierte. Lotte Lenya sang hier jedoch zum ersten Mal die Jenny, eine Rolle, die Weill nie für sie vorgesehen hatte. Diese Besetzungsentscheidung erforderte eine weitreichende Adaption dieser Berliner Produktion im Dezember 1931, darunter die Komposition eines neuen „Havanna-Liedes“. Und das war eigentlich die letzte Aufführung einer erkennbar „ganzen“ Mahagonny zu Weills Lebzeiten. Das Zeitfenster, in dem die Oper aufgeführt werden konnte, betrug also nicht einmal zwei Jahre. Danach ergab sich einfach keine Möglichkeit mehr, sie an einem großen Opernhaus auf deutschsprachigem Gebiet erneut zur Aufführung zu bringen.

Lenya sang die Rolle im April 1932 in Wien in einer Version, die weniger als eine Stunde dauerte, auch dieses Mal wieder in einem privaten Theater anstatt in einem staatlich subventionierten Opernhaus. Im Dezember erweiterte Maurice Abravanel das Songspiel aus Baden-Baden für die sogenannte „Pariser Version“ von Mahagonny mit Weills Zustimmung um drei bis vier Nummern aus der großen Oper mit einer ähnlich kleinen Besetzung. Diese Version erlebte auch in London und Rom einige Aufführungen. Das war es zu Weills Lebzeiten – Mahagonny verschwand in der Versenkung. Als Lotte Lenya nach dem Krieg die Universal Edition kontaktierte und sich nach dem Verbleib von Mahagonny erkundigte, erklärte man ihr, dass die Gestapo sie beschlagnahmt hätte und dass die vollständige Partitur und die Stimmen verschwunden seien.

Stimmte das?

Kowalke: Ich vermute, dass man tatsächlich dachte, die handschriftliche Partitur sei verloren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Aufführungsunterlagen aus der Vorkriegszeit zu diesem Zeitpunkt tatsächlich verschwunden waren. Lenya fragte damals nach, weil nach dem weltweiten Erfolg der Dreigroschenoper, der 1955 hier in New York und ein wenig später in London seinen Ausgang genommen hatte, ein großes Aufnahmefieber für alle Werke des Duos Weill/Brecht herrschte. Columbia/Philips beschloss, eine Mahagonny aufzunehmen. Ich glaube, dass dies das erste Bühnenwerk nach der Drei­groschenoper war, das sie aufnahmen.

Diese Aufnahme war also der Beginn des zweiten Lebens von Mahagonny. Sie beinhaltete einige neue, stillschweigend vorgenommene Adaptionen für Lenya, die inzwischen um mindestens eine Quart oder Quint tiefer sang als 1931, als Ernst Bloch ihre Stimme als die eines Vogels beschrieb – »süß, hoch, leicht, leicht, gefährlich, kühl, mit dem Licht der Mondsichel«. Doch 1956 hatte sie eine Stimme, die sie selbst als »zwei Oktaven unter der Kehlkopfentzündung« beschrieb. Einerseits war es insofern eine echte Mahagonny, als es das erste Mal war, dass das gesamte Werk aufgeführt wurde, und zwar mit Brückner-Rüggeberg, einem guten Dirigenten. Es waren aber viele Anpassungen vorgenommen worden, damit Lenya die Rolle singen konnte, ohne dass diese Änderungen angegeben wurden. Da sie die Rolle nach 1933 nicht mehr auf der Bühne sang, bleibt nur diese Schallplatte als ihr Vermächtnis; trotzdem hat sie sich als Aufführungspraxis durchgesetzt, die von einigen heute noch als die einzig »authentische« betrachtet wird.

»Zu Weills Lebzeiten hatte Mahagonny niemals die Chance, sich durchzusetzen.«

Wann fand die erste vollständige Nachkriegsproduktion statt?

Kowalke: Das war in Darmstadt im Jahr 1957, und danach machte die Oper nach und nach in ganz Deutschland die Runde. Unglücklicherweise beschloss das Berliner Ensemble 1963, eine Version auf die Bühne zu bringen, die als Das kleine Mahagonny bezeichnet wurde und mit der nicht das Songspiel aus dem Jahr 1927 gemeint war. Man nahm einige Charaktere und Textfragmente aus der großen Oper, engagierte drei Musiker und verfälschte das Ganze in gewisser Weise, indem man es auf eine Stunde verdichtete und so tat, als handle es sich um die Original-Mahagonny in der Version von Baden-Baden. Lenya erlaubte die Aufführungen eine Zeit lang, um Brechts Witwe Helene Weigel einen Gefallen zu tun, aber als andere Theater die Produktion übernehmen wollten, sagte sie »nein«. Von dieser Darbietung existiert auch eine Aufnahme, die uns schmerzlich daran erinnert, dass in dieser Version von Kurt Weill nichts mehr zu spüren ist. Sie wurde bis auf den heutigen Tag nicht wieder zur Aufführung zugelassen. Eine der ersten wichtigen Entscheidungen, die ich nach Lenyas Tod als ihr Nachfolger als Stiftungspräsident und als Weills Nachlassverwalter zu treffen hatte, bestand darin, eine Produktion dieser verfälschten Mahagonny in Bochum einzustellen. Diese Entscheidung löste einen heftigen Aufschrei aus. Das muss etwa 1982 oder 1983 gewesen sein.

Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich Mahagonny bereits in den großen Opernhäusern etabliert. Ich kann mich genau an die Premiere an der Metropolitan Opera im Jahr 1979 mit Teresa Stratas als Jenny erinnern, eine Produktion unter der Regie von John Dexter, die James Levine dirigierte. Das war ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte von Mahagonny. Danach gab es keine groß­artigen Diskussionen mehr über die Frage: »Ist Mahagonny wirklich eine Oper?« – »Ja. Natürlich, sie gehört ja zum Repertoire der Metropolitan Opera.« (und zum Repertoire der meisten anderen großen Opernhäuser der Welt). Sie fand sogar Eingang in die Salzburger Festspiele (wenn auch leider in einer schrecklichen Produktion). Tatsächlich gibt es mittlerweile wohl nur noch wenige wichtige Opernhäuser, die Mahagonny noch nicht produziert haben. Die Royal Opera in Covent Garden hat für die Saison 2015 eine Aufführung angekündigt.

Ich weiß, dass das Mahagonny-Songspiel der Vorläufer der Oper Mahagonny in voller Länge war, aber mich interessiert Ihre Meinung über die Beziehung zwischen den beiden Werken, und ob Weill diese musikalische Sprache bei der Umformung dieses Quellenmaterials zu einer Oper mit drei Akten teilweise weicher machte. Außerdem interessieren mich die Probleme, die sich für Platzierung und Funktion des Songspiel-Materials in der Oper ergeben.

Kowalke: Nun, das Songspiel war ein Auftragswerk für die Festspiele von Baden-Baden. Es ist nur 25 Minuten lang. Es hat eine perfekt symmetrische Struktur – vier Männer, zwei Frauen. Die erste Nummer ist Auf nach Mahagonny, die von den vier Männern mit einem deutschen Text gesungen wird. Die nächste Nummer ist dann der Alabama Song für die beiden Frauen mit einem Text in Elisabeth Hauptmanns primitivem Englisch. Dann folgt eine weitere Nummer für die vier Männer auf Deutsch und danach Benares, das von allen gesungen wird, wieder auf Englisch. Eingebaut sind instrumentale Zwischenspiele, die stark an Strawinsky erinnern (1923 besuchte Weill die deutsche Premiere von L’Histoire du Soldat und war begeistert gewesen) und fast atonal sind. Das Ganze wurde in die sehr provokante Form eines Songspiels gebracht, eine Anspielung auf das traditionelle Genre des »Singspiels«, in dessen Hintergrund eine Andeutung des amerikanischen Popsongs lauerte. Das Stück löste bei einem Musikfestival, bei dem auch Werke von Webern, Schönberg und Berg uraufgeführt wurden, einen veri­tablen Skandal aus.

Hier war Weill mit seinem Mahagonny Songspiel vertreten, das in einem Boxring spielte. Laut Aaron Copland war das Stück der succès de scandale des Festivals. Doch eigenartigerweise fanden zu Weills Lebzeiten nur zwei Aufführungen dieses Werks statt: die eine 1927 und dann die andere in Hamburg ca. 1930. Danach wurde das Stück nie wieder aufgeführt. Unmittelbar nach der Aufführung in Baden-Baden oder vielleicht sogar davor beschlossen Brecht und Weill, aus dem Mahagonny-Material eine vollwertige Oper zu machen. So wanderte das Songspiel also in die Schublade, und Weill übernahm bestimmte Teile daraus in die Oper. Einer dieser Teile war der Alabama Song, den er aber neu komponierte. Er befreite das Werk von einem Großteil der harschen Bartókschen Dissonanzen in der Begleitung, vereinfachte die Harmonien, reduzierte die Strophen von drei auf zwei und gestaltete den vokalen Teil interessanterweise viel opernhafter.

In der Oper gibt es kein Duett für zwei Soprane, Jessie und Bessie, sondern stattdessen eine Eingangsarie für Jenny, begleitet von den Mädchen von Mahagonny. So kommt es also zu der obligatorischen Koloratursopranverzierung für Jenny im zweiten Aufzug, die im Songspiel ganz und gar nicht vorkommt. Weill komponierte den Alabama Song für die Oper neu, doch Benares und Gott in Mahagonny wurden im Grunde unverändert übernommen.

»Mahagonny hatte sich bereits in den großen Opernhäusern etabliert.«

Was problematisch ist …

Kowalke: Tatsächlich, das ist problematisch. Das Songspiel ist nur eine Reihe von sechs Szenen/Songs ohne Handlung, ohne echte Charaktere, ohne Verbindungsglieder zwischen den einzelnen Elementen. Diese Zahlen funktionieren in diesem Kontext brillant. Aber was tun mit diesen eigenständigen Tableaus in der Oper? Wo passen sie hinein? Sollte Gott in Mahagonny vor oder nach der Hinrichtung kommen? Wir wissen, wo Weill das Lied im Klavierauszug platzierte, aber für diese Entscheidung ist kein klarer dramaturgischer Grund erkennbar. Das Lied könnte praktisch überall im dritten Akt stehen. Das bedeutet, dass diese Songspiel-Teile, die einfach irgendwie in den dritten Akt gestellt werden, immer ein Problem darstellen. Wie kann man erreichen, dass sie sich in die größere Struktur des gesamten Stücks einfügen? Manche Produktionen lassen sie weg, und dafür gibt es sicher gute Gründe. Laut David Drew ist es das Beste, den Benares Song »stillschweigend fallen zu lassen«, vor allem, wenn das Kraniche-Duett im dritten Akt vorkommt. Dadurch entsteht natürlich ein Dominoeffekt auf die dramaturgische Struktur. Die Sache ist kompliziert.

Könnten Sie uns ein bisschen mehr über die Beziehung zwischen Brecht und Weill als Librettist und Komponist erzählen? Mahagonny war natürlich das Werk, das Brecht und Weill fast während der gesamten Dauer ihrer Zusammenarbeit beschäftigte. Als es aber in Leipzig uraufgeführt wurde, verlor Brecht das Interesse daran und zog weiter. Könnten Sie zuerst über die Beziehung der beiden während der Entstehung von Mahagonny sprechen und über das, was danach geschah? Und warum er­schienen verschiedene literarische Texte von Mahagonny, die nichts mit Weills Musik zu tun haben?

Kowalke: Wenn wir das ganze Bild betrachten, erkennen wir, dass wir es mit einer einmaligen Situation zu tun haben, nämlich mit der von Brecht und Weill. Ich kenne keine anderen bekannten Bühnenautoren oder Komponisten, die gemeinsam eine Oper oder ein Musiktheater­stück schrieben, das dann gleich in sechs oder sieben Werke gemündet hätte. Ich nehme an, wir könnten Strauss und Hofmannsthal nennen, doch Hofmannsthal war nicht Brecht; vielleicht auch Molière und Lully, aber diese beiden arbeiteten nicht wirklich zusammen. Weill und Brecht hingegen kooperierten eng. Sie trafen sich jeden Tag und arbeiteten dann gemeinsam. Bei Mahagonny ging das etwa zwei Jahre lang so. Sie schrieben ein Jahr lang gemeinsam an dem Libretto. Weill wird nicht als Ko-Librettist genannt, aber er redete dauernd davon, dass alle Textentscheidungen genau abgewogen würden, weil die Texte zu seiner Musik vertont werden sollten. Er brachte es einfach nicht über sich, mit dem Komponieren zu beginnen, bevor das Libretto fertig war. In diesem Sinn hatte er eine starke Ähnlichkeit mit Stephen Sondheim, der es hasst, einen Song zu schreiben, bevor das ganze Stück steht. Er scherzte sogar, dass er das ganze Werk auf der Bühne sehen möchte, bevor er eine musikalische Nummer dafür schreibt. Ich glaube, Weill hätte auch gerne so gearbeitet, denn für ihn diktierten die Charaktere und die dramatische Situation das, was er schrieb.

Wie auch immer – als Weill die Partitur von ­Mahagonny schrieb, war es Brecht längst klar geworden, dass die Musik alle seine Vorstellungen von epischem Theater und so weiter hinwegspülen würde, ganz gleich, worüber sie am Anfang abstrakt gesprochen hatten. Also besuchte er vor der Aufführung in Leipzig nicht einmal die Proben. Ich weiß nicht mehr, ob er bei der Premiere war, aber das Stück war ihm längst egal geworden. Deshalb veröffentlichte er seine eigene Version, wie er es auch bei der Dreigroschenoper tat. 1931 veröffentlichte Brecht eine Version des Librettos von Mahagonny, die keinerlei Rücksicht auf die Musik nahm und die gemeinsame Arbeit im Grunde sabotierte, indem er zu erkennen gab: »Das hätte ich geschrieben, wenn es keine gemeinsame Oper mit Weill gegeben hätte.« Als er den Text von Mahagonny veröffentlichte, erschien dieser in Begleitung eines Essays namens Anmerkungen zu Mahagonny, den er gemeinsam mit Peter Suhrkamp verfasst hatte. In diesem Essay widersprach Brecht im Wesentlichen allem, was Weill über die Oper gesagt hatte. In Wahrheit war es ein Vorgeschmack auf die Ereignisse, die im späteren Verlauf des Jahres in Berlin stattfinden sollten. Als diese Produktion in Ernst Josef Aufrichts Theater am Schiffbauerdamm aufgeführt wurde, stritten die beiden Urheber tagtäglich um die Vorherrschaft von Musik oder Text, von Weill oder Brecht.

»Wenn wir das ganze Bild betrachten, erkennen wir, dass wir es mit einer einmaligen Situation zu tun haben, nämlich mit der von Brecht und Weill.«

Ein Streit, der zu der inzwischen notorischen Anekdote mit dem Fotografen führte ...

Kowalke: Ja. Eines Tages kam der Fotograf und sagte: »Ich möchte Sie beide auf einem Foto haben.« Brecht weigerte sich und sagte: »Den falschen Richard Strauss werfe ich [mit voller Kriegsbemalung] die Treppe hinunter!« Aufricht, der Produzent, musste eingreifen. Er sagte: »In Ordnung, Brecht, ich werde Ihnen ein Theater geben, in dem Sie Die Mutter produzieren können, und Weill und Caspar Neher können hier Mahagonny machen.«

Ihre Vorstellungen waren zu diesem Zeitpunkt diametral entgegengesetzt. Das lag zum Großteil daran, dass Brecht mittlerweile tief in die marxistische Theorie und in die Lehrstücke eingetaucht war – die Vorstellung, dass alle Theaterstücke didaktisch sein und den Klassenkampf darstellen sollten etc. Natürlich geht es in Mahagonny darum in keiner Weise. Brecht überlagerte Mahagonny und die Dreigroschenoper in diesen literarischen Fassungen einfach im Nachhinein mit dicken marxistischen Schichten. Das eigentliche Problem besteht darin, dass man, wenn man Mahagonny als Regisseur auf die Bühne bringt und dabei Brechts Skript aus dem Jahr 1931 und Weills Partitur aus dem Jahr 1930 verwendet, feststellt, dass die beiden einfach nicht zusammenpassen und dass man sie nicht zusammenbringen kann. Man hat keine andere Wahl, als den Text, der 1930 tatsächlich aufgeführt wurde – den Text, der in Weills Partitur enthalten war –, zu verwenden, und nicht den in Brechts Gegenentwurf zu der Oper enthaltenen.

Dies führt notwendigerweise zum Konzept einer Brechtschen Inszenierung und zu der Frage, was eine Brechtsche Inszenierung 1930 war, verglichen damit, was sie heute wäre, und womit ein Regisseur zu kämpfen hat, wenn er Mahagonny auf die Bühne bringen möchte. Könnten Sie darauf ein bisschen näher eingehen?

Kowalke: Ja, sicher. John Willett, der großartige Brecht-Wissenschaftler, pflegte zu sagen, dass Mahagonny nicht nur das Werk von Brecht und Weill sei, sondern in Wahrheit das Werk von Brecht, Weill und Caspar Neher, dem Planer und eigentlichen Hirn der so genannten »Brechtschen Inszenierung« oder der grundlegenden Prinzipien des »epischen Theaters«. Dies umfasst praktisch alles, was wir heute »Metadrama« oder »metadramatische Elemente« nennen, die Idee, dass man den Text eines Songs während der Aufführung projiziert oder dass der Vortragende ins Rampenlicht tritt, über ihm ein roter Punkt, als ob er sagen würde »Song!« und den Song dann direkt ohne vorgeschützten Realismus ins Publikum zu singen; oder den Beleuchtungsrahmen freizulegen oder den inzwischen berühmt gewordenen Halbvorhang, auf dem der Titel oder der Name des Stücks geschrieben ist, zu verwenden.

Alle diese Elemente waren dazu gedacht, eine Art Anti-Naturalismus hervorzurufen …

Kowalke: Nicht nur Anti-Naturalismus, sondern auch Anti-Realismus, ein anti-stanislawskisches Theater mit der vierten Wand. Die Idee besteht darin, dass wir nicht so tun, als wäre das, was wir sehen, real, als wären wir nicht im Theater. Es sollte kein narkotisches Erlebnis wie bei Wagner werden. Stattdessen verglich Brecht das Gefühl mit dem Besuch eines Boxkampfes oder eines Zirkus. Als Publikum sollte man immer wissen, wo man war, dass man unterhalten wurde, aber man sollte auch dazu gebracht werden, sich zu beteiligen, anstatt einfach nur passiv dazusitzen. Klatschen, jubeln, abgestoßen und entfremdet sein – das alles, aber nicht einfach nur dasitzen.

Ich glaube also, dass jeder, der heute eine »Brechtsche Inszenierung« anstrebt und alles kopiert, was Neher 1930 machte, letzten Endes ein museales Exponat auf die Bühne stellt, das weder schockiert noch unterhält oder das Publikum zum Nachdenken anregt. Heute haben wir so viele neue technologische Möglichkeiten. Hätte Neher sie gehabt, hätte er sicher mit Live-Video-Projektionen gearbeitet und dem Publikum die Veränderung mit allen nur vorstellbaren theatralischen Effekten auf magische Weise vor Augen geführt. Wenn Sie heute den Halb­vorhang verwenden und ihn auf einem Draht auf- und zuziehen, sieht es nur lächerlich aus. Genau das sah ich in einer völlig danebengegangenen Mahagonny-Inszenierung an der Wiener Staatsoper, es wirkte einfach nur grotesk. Auch die Met machte das vor langer Zeit 1979, als ob es die einzige Möglichkeit wäre, Brecht treu zu bleiben. Die beste Möglichkeit einer Brecht-getreuen Inszenierung besteht darin, die technologischen Möglichkeiten des modernen Theaters voll auszuschöpfen, um denselben Effekt zu erreichen wie damals 1930.

»Es sollte kein narkotisches Erlebnis wie bei Wagner werden.«

Verzichteten Weill und Brecht in der Oper bewusst auf eine Liebesgeschichte, um ein bestimmtes Bild davon zu vermitteln, was moderne Oper sein sollte?

Kowalke: In gewisser Weise glaube ich, dass es so ist. Liest man Weills eigene Zusammenfassung der Handlung von Mahagonny, fällt einem auf, dass ein Wort sehr oft vorkommt: das Wort »Stadt«, gezählte 14-mal. Das ist also ein Stück über den Aufstieg und Fall der Stadt, nicht über den Aufstieg und Fall von Jimmy und Jenny und kein Stück über die Personen oder deren persönliche Verhältnisse. Weill wies darauf hin, dass es nicht um die psychologische Darstellung von Personen gehe, sondern um die Geschichte eines modernen Sodom und Gomorrha und um die Übel der modernen Gesellschaft und deren Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen.

Die Betonung liegt daher nicht auf der psychologischen Betrachtung der Beziehung von Jimmy und Jenny, sondern darauf, was sie daran hindert, miteinander in Beziehung zu treten und miteinander glücklich bis ans Ende ihrer Tage zu sein oder auch nur auf tragische Weise zu Tode zu kommen, wie wir es aus den meisten anderen Opern kennen. Hier läuft alles ziemlich sachlich ab. Kurz bevor Jimmy exekutiert wird, gibt es da diese Szene, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, in der er sagt: »Küss mich, Jenny«, und sie sagt: »Küss mich, Jimmy«. Aber es ist alles nur pro forma. Dahinter steht keine Emotion, es läuft alles ganz mechanisch ab. Man braucht einen Kontext für die Beziehungen, weil das Stück ansonsten uninteressant wird. Man darf aber nie die Tatsache aus den Augen verlieren, dass die Story ein modernes Stück über Moral ist. Sie ist nicht in erster Linie eine marxistische Kapitalismuskritik.

Natürlich ist in Brechts Anklage der modernen Gesellschaft etwas davon enthalten, aber es geht auch um Exzesse des Essens und Trinkens – und um die Tatsache natürlich, dass kein Geld vorhanden ist, um die Gelage zu bezahlen. Eine Kultur, deren Hauptprämisse »Du darfst« lautet, ist zum Aussterben verdammt. Weills und Brechts aktualisierter Parabel über Sodom und Gomorrah Fesseln anzulegen, bedeutet, die Oper kleiner zu machen als sie ist. Ich habe zum Beispiel eine Produktion gesehen, in der Jenny jedes Mal, wenn sie auf die Bühne kam, einen Koffer voller Geld bei sich hatte. Der Scheinwerfer war dabei nicht auf sie gerichtet, sondern auf den Geldkoffer. Das war ungefähr vierzehn Sekunden lang interessant, und nach zwei weiteren »Mickeymaus-Akten« war ich davon überzeugt, dass das die schlechteste Idee war, die ich jemals auf der Bühne gesehen hatte. Dieses Stück hat doch so viel mehr zu bieten. Wäre ein solcher Unsinn tatsächlich die Essenz von »Brechtschem« Theater, müsste sich Brecht wohl von sich selbst lossagen.

»Es gibt einige interessante DVDs, die vielleicht nützlicher sind als die Tonaufnahmen.«

Erzählen Sie uns etwas über die verfügbaren Aufnahmen der Oper, die wir uns anhören können, sowie über die aktuelle Flut von DVDs. Worin liegen ihre jeweiligen Meriten und Probleme?

Kowalke: Offen und ehrlich gibt es keine befriedigende Aufzeichnung dieser Oper. Es gibt zwei Audioaufnahmen, die gewissen Dimensionen dieses Werks gerecht werden. Ich glaube, eine der größten Enttäuschungen, mit der ich als Präsident der Kurt Weill Stiftung konfrontiert bin, besteht darin, dass keine vollständige Aufnahme der Oper mit einem wirklich erstklassigen Orchester, einem hervorragenden Dirigenten und einer hochwertigen Besetzung vorhanden ist – vorzugsweise eine, die auf der Aufführungsbühne entstanden wäre, denn es braucht tatsächlich viel Unmittelbarkeit.

Über Lenyas Aufnahme gibt es einige wundervolle Dinge zu sagen. Es gab nur eine Lotte Lenya, und sie konnte gewisse Dinge wirklich szenisch vermitteln. Aber ihre stimmlichen Beschränkungen oder Handicaps, wenn man so will, sind nichts, was man imitieren sollte, als wären sie untrennbar mit dem Werk oder mit dem Stil verbunden. Es gab viele Produktionen, die die Jenny mit einer Schauspielerin zu besetzen versuchten, die wie Lenya sang. Aber das funktioniert einfach nicht. Es gab nur eine Lenya, und es kann und wird keine zweite geben. Sie war die Ehefrau des Komponisten. Natürlich nahm sie Änderungen vor, so dass sie die Werke interpretieren konnte, aber so etwas ist nicht wiederholbar.

Die andere Aufnahme ist eine Studioaufnahme, die der WDR in den 1980er-Jahren machte, glaube ich, und diese Aufnahme ist ebenfalls ein Sammelsurium. Wenn ich in den nächsten zehn Jahren also etwas erreichen möchte, wäre es wunderbar, eine wirklich großartige Aufnahme von Mahagonny zu bekommen, vielleicht wenn die kritische Edition erscheint. Im Anhang könnten dann alle Optionen für die verschiedenen Versionen angegeben werden, vielleicht wie die Show-Boat-Aufnahme von John McGlinn.

Es gibt einige interessante DVDs, die vielleicht nützlicher sind als die Tonaufnahmen, außer dass die meisten von ihnen live aufgezeichnet wurden, so dass die Dinge, die schief liefen, nicht in Ordnung gebracht werden können. Ich glaube, wir haben jetzt die Produktion der Salzburger Festspiele auf DVD, die ich nicht empfehlen kann. Der Dirigent war schlecht, und die Sänger waren größtenteils Fehlbesetzungen. Dann gibt es eine neuere Aufnahme der Los Angeles Opera mit John Doyle als Regisseur. Die Inszenierung spiegelt den damaligen »Augenblicksgeschmack« des Broadways wider. Doyle hatte keine Ahnung, was er mit Mahagonny anfangen sollte. Es gibt jedoch einige sehr überzeugende Auf­führungen, vor allem mit Audra McDonald als Jenny. Meiner Meinung nach dirigierte James Conlon eine sehr lebhafte Auffassung der Partitur. Und dann natürlich die Aufführung von Lenyas »Traum-Jenny«, Teresa Stratas, die von der Metropolitan Opera vor kurzem als DVD herausgebracht wurde. Aber die derzeit wahrscheinlich beste DVD ist die Produktion der Madrider Oper, die ca. anderthalb Jahre alt ist. Die Inszenierung hat ihre Höhen und Tiefen. Und von der stimmlichen/musikalischen Seite betrachtet ist sie sicherlich die beste der drei.

Interview: Norman Ryan


Diese Transkription wurde auf der Grundlage eines mündlichen Interviews in der Kurt Weill Foundation in New York City im März 2012 bearbeitet.