»Den Himmel umkreisen«

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Arvo Pärt (c) Birgit Püve / Arvo Pärt Centre

Credo
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Wer »Credo« – »Ich glaube« – sagt, der bekennt sich zu etwas und löst sich damit zugleich von anderem. So war es auch bei Arvo Pärt, als er im Jahr 1968 sein Credo für Klavier, Chor und Orchester vorstellte, das mit Zitaten aus dem berühmten ersten Präludium aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier beginnt und endet. Pärt, am 11. September 1935 in Paide geboren, hatte am Tallinner Konservatorium, der heutigen Estnischen Musik- und Theaterakademie, bei Heino Eller studiert. Als Mitarbeiter des estnischen Rundfunks hatte er außerdem schon während des Studiums Zugriff auf die in der Sowjetunion kritisch beäugte Musik der westlichen Avantgarde.

In Credo verwandelt sich Bachs Präludium denn auch über eine zunehmende Verdichtung in Zwölftonmusik, die langsam, aber sicher auf eine chaotische Fläche zudriftet, auf einen einzigen gewaltsamen Schrei von Chor und Orchester. Pärt war der erste estnische Komponist, der mit den Mitteln der Zwölftonmusik gearbeitet hatte. Mit Arbeiten wie Credo präsentierte er sich nun als früher Vertreter einer Postmoderne, die Musikstile verschiedener Zeiten verschnitt. Dass er dafür die Worte »Credo in Jesum Christum« vertonte, durfte zudem als Bekenntnis zum christlichen Glauben durchgehen. Pärt geriet nun deutlich mit der sowjetischen Kulturbürokratie aneinander, weitere Aufführungen des Stückes waren zunächst einmal unerwünscht.

Wenn alles schon gesagt war, wenn hundert mögliche Stile miteinander konkurrierten und die Unübersichtlichkeit steigerten, was ließ sich dann hinzufügen?

Doch das Credo bedeutete in einem noch viel radikaleren Sinn einen Umbruchs in Pärts kompositorischer Biografie. Denn was er in das gut zehnminütige Stück hineinkomponiert hatte, stellte die Entwicklung der europäischen Kunstmusik überhaupt auf den Prüfstand. Nach Bachs Wohltemperiertem Klavier war die Harmonik unaufhörlich komplexer geworden, hatte sich auch die Palette an Klangfarben radikal erweitert, war schließlich mit der Zwölftonmusik ein ganz neues Regelwerk entstanden. Aber in dem leisen, zarten, aber auch ein bisschen süßlichen Ende mit Bachs Akkorden steckte eine bange Frage: Wenn diese Musik weiterhin ihre Kraft für die Hörer behielt, wenn sie auf CDs und in Konzerten gespielt wurden, was konnte dann ein Komponist der Gegenwart der Vergangenheit eigentlich wirklich hinzufügen?

Die Frage hat seitdem viele Komponisten umgetrieben. Pärt aber stürzte sie in eine echte kompositorische Krise. »Ich wollte mir in meinem damaligen Zustand außerordentlichen Unbehagens selbst beweisen, wie wunderschön Bachs Musik und wie hassenswert dagegen meine war«, hat er später über Credo gesagt. Wenn alles schon gesagt war, wenn hundert mögliche Stile miteinander konkurrierten und die Unübersichtlichkeit steigerten, was ließ sich dann hinzufügen? Vielleicht etwas, was noch einfacher war als Bach, etwas, was immer schon gesagt worden war und deshalb auch weiterhin gesagt werden konnte. In einem Schallplattenladen hörte Pärt zufällig ein kleines Stück der Musik, mit der die Entwicklung der europäischen Kunstmusik begonnen hatte: Gregorianik, der einstimmige liturgische Gesang des Mittelalters. Er habe gewusst, hat Pärt später gesagt: »das ist das, was wir jetzt brauchen, was ich jetzt brauche«.


Für Alina
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Acht Jahre verbrachte er danach mit der Suche nach einer neuen Einfachheit. Er pflegte in dieser Zeit einen intensiven Kontakt zum Dirigenten Andres Mustonen, der mit seinem Ensemble Hortus Musicus die Musikstile vor dem Barock neu entdeckte. Am Ende stand ein kleines Stück für Klavier: Für Alina – nicht einstimmig, aber doch nur zweistimmig, eine Melodiestimme und ihre Begleitung. Es war das erste Stück des Stils, dem Pärt den Namen Tintinnabuli (»Glöckchen«) gab und der in gewissem Sinne mit einem neuen Credo, einer neuen Überzeugung einherging: »Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird«, so Pärt. »Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivstem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonalität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich, also habe ich es Tintinnabuli genannt.« Der Wille zur musikalischen Einfachheit spiegelt auch ein christliches Demutsideal, einen bewussten Verzicht auf das Ausstellen der eigenen Fähigkeiten. Pärts musikalische Selbsterkundung war mit einer religiösen zusammengefallen, zu Beginn der 1970-er Jahre war er vom Protestantismus zur Orthodoxie konvertiert.


Cantus in Memory of Benjamin Britten
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Eine Glocke spielt denn auch eine zentrale Rolle in dem 1977 komponierten Cantus in Memory of Benjamin Britten, der auch in diesem Konzert erklingt. Für die Klage um den im Jahr zuvor verstorbenen englischen Komponistenkollegen verwendet Pärt eine bereits dem Spätmittelalter bekannte musikalische Form. Beim sogenannten Proportions- oder Mensurkanon setzen die Stimmen in zunehmend größeren Notenwerten ein. Das Ergebnis ist eine schleichende Verlangsamung des Tempos, die durchaus für das Sterben eines Menschen stehen kann. Doch die Überlagerung der Stimmen führt nicht in eine Erstarrung hinein, sondern in einen in sich bewegten Klang. Die zeitgebundene Bewegung endet in einer überzeitlichen, die Gegenläufigkeit der Stimmen in einer ruhenden Bewegtheit.

Arvo Pärt: Cantus In Memory Of Benjamin Britten
Autograph Cantus In Memory Of Benjamin Britten

Der Cantus war auch auf der Platte zu hören, die Arvo Pärt endgültig auch in einem größeren Kreis bekannt machte. 1984 brachte das Münchner Plattenlabel ECM »Tabula rasa« heraus, dreizehn weitere CDs sollten am gleichen Ort folgen. Doch schon vorher war man auch im Westen auf Pärt Aufmerksamkeit geworden, was das Misstrauen der sowjetischen Kulturbürokratie erhöhte. 1980 nötigte man den Komponisten zur Emigration, er ging nach Wien und bald darauf für lange Zeit nach Berlin. Erst im Jahr 2008 würde er nach Estland zurückkehren.

Aber auch für die westeuropäische Musikszene blieb Pärt eine verwirrende Figur. Früh nahmen sich prominente Musiker wie der Geiger Gidon Kremer oder das Hilliard Ensemble seiner Musik an. Pärt war in den vergangenen Jahren der weltweit meistgespielte lebende klassische Komponist, auch Popgrößen wie die Sängerin Björk oder die Intellektuellenband Radiohead ließen sich von seiner Musik inspirieren. Aber in den etablierten Foren der zeitgenössischen klassischen Musik begegnete man seinen Kompositionen mit Misstrauen, erst in den letzten Jahren tauchen sie auch hier in Konzertprogrammen auf.

Musik will die Worte nicht interpretieren, sondern das Wort verstärken und die Konzentration für seine Inhalte verdichten.

Dabei baut Pärt seine Musik heute keineswegs weniger streng auf, als er es seinerzeit beim zwölftönigen Komponieren getan hatte. Mit dem Tintinnabuli-Stil hat Pärt klare Regeln für seine Arbeit gefunden, die auch schon mit mathematischen Systemen verglichen worden sind. Doch wenn es sich um Mathematik handelt, dann gleichsam um eine der natürlichen Zahlen. Pärt entwickelt sein System aus Mitteln, die er in der europäischen Musikgeschichte vorfindet. Er entwirft ganze Kompositionen oder große Abschnitte auf der Basis eines einzigen Moll- oder Durakkordes, er beschränkt sich auf die seit dem Barock festgelegten Tonhöhen, er benutzt die klassischen Streichinstrumente und schreibt ein- bis vierstimmige Sätze für Männer- wie Frauenchöre. Auch die Texte für seine Vokalmusik entnimmt Pärt den bekannten Beständen der christlichen Konfessionen und vertont die Worte in der Originalsprache. Indem Pärt den musikalischen Fluss möglichst aus der Sprache entwickelt, nimmt die Musik eine dienende Rolle gegenüber dem Text ein. Musik will die Worte nicht interpretieren, sondern das Wort verstärken und die Konzentration für seine Inhalte verdichten.


Salve Regina
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Pärt gehört deshalb zu den wenigen Komponisten der Gegenwart, dessen Musik sich problemlos in kirchliche Liturgien integrieren lässt. So wurde sein Salve Regina, eine Vertonung der alten, an die Gottesmutter adressierten Antiphon, im Jahr 2002 im Rahmen eines Festgottesdienstes im Essener Dom uraufgeführt. Doch auch in Stücken für den Konzertsaal nutzt Pärt immer wieder liturgische Modelle.


Te deum
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In dem 1985 für den Kölner Rundfunk entstandenen Te Deum beispielsweise hört man deutlich das Vorbild des responsorialen Singens, wie es noch heute Bestandteil von festlichen Gottesdiensten aller christlichen Konfessionen ist. Jeder Abschnitt wird zuerst in einer an die Gregorianik erinnernden Form vorgetragen, bevor einer der Chöre – auch das Orchester ist als mehrstimmiger Chor angelegt – ihn wiederholt und verstärkt. Fast ungewöhnlich für Pärts Werk ist hier dagegen schon die Verwendung eines präparierten Klaviers, bei dem Schrauben zwischen die Saiten eines Klavieres gesteckt werden, sowie die elektronische Zuspielung von Klängen einer Windharfe.

Im Umgang mit den Traditionsbeständen verhält sich Pärt gewissermaßen wie einer, der sich ein Boot baut aus dem, was er am Strand vorfindet. Er verwendet den heruntergefallenen Ast ebenso wie den liegen gebliebenen Benzinkanister. Ob Dur und Moll in der Obertonreihe angelegt und damit natürlich sind, wie man früher gern angenommen hat, oder ob sie zufällig im Verlauf der europäischen Musikgeschichte entstanden sind, ist für Pärts Musik deshalb letztlich egal. Das entspricht einer religiösen Haltung, die Gott in den alltäglichen Dingen erkennt, in der Natur ebenso wie in der Zivilisation. Im Tintinnabuli-Stil geht Pärt sowieso deutlich anders mit den altbekannten Akkorden um, als sie in der klassisch-romantischen Tradition verwendet worden sind.

Wer sich mit der Kenntnis der europäischen Kunstmusik auf Pärt einlassen möchte, muss sich deshalb erstmal umstellen. Menschliches Bewusstsein kann sich schließlich nur schwer vorstellen, was am ewigen Halleluja der Engel interessant sein könnte. Eben diesem veränderten Zeitbewusstsein aber will Pärts Musik nachspüren, wenn sie mit vielen Wiederholungen arbeitet, lange in einer Tonart verharrt und über weite Strecken statisch bleibt. Pärts Stücke kennen keinen Fortschritt, sie erzählen am Ende dasselbe wie am Beginn. Doch wo sie wirken, ist das Ende mit mehr Kraft gefüllt, erscheint auf ein höheres Energieniveau transformiert.

Pärt ist ein Antiromantiker, musikalisch wie religiös.

»Ich hatte den Wunsch, allein einen Zustand zu vermitteln«, schreibt Pärt über sein Te Deum. »Dieser Zustand könnte unendlich in der Zeit sein, und aus diesem Strom wollte ich ganz sacht einen Teil herausführen – einen Zeitteil der Unendlichkeit. Ich musste diese Musik behutsam aus Stille und Leere hervorziehen. Das Werk Te Deum war die Suche nach etwas ständig Entgleitendem, nach etwas, was längst verloren ist oder noch nicht gefunden, die Suche nach etwas vermeintlich nicht Bestehendem und dennoch real Seienden in uns selbst und auch außerhalb unserer Existenzen.«


Adam’s Lament
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Warum uns dieses Etwas verloren ist, zeichnet Arvo Pärt in Adam’s Lament nach, das 2009 aus einem gemeinsamen Auftrag für die Europäischen Kulturhauptstädte Istanbul und Tallinn entstanden ist. Pärt hat dafür einen Text des heiligen Siluan (1866 – 1938) gewählt, der auf dem griechischen Mönchsberg Athos lebte. Darin erzählt der Mönch in seiner russischen Muttersprache von der Trauer Adams, der das Paradies verloren hat. »Ich bin Adam und du bist Adam«, schreibt Pärt dazu. »Und dieser ›Gesamt-Adam‹ leidet und klagt schon seit Jahrtausenden auf unserer Erde.« Siluan und mit ihm Pärt erzählen von der existentiellen Einsamkeit, der Angst und der Sehnsucht des Menschen, dem das Paradies nicht mehr unmittelbar zugänglich ist. Adam’s Lament ist ein für Pärts Verhältnisse ungewöhnlich dramatisches, in manchem fast theatrales Werk geworden, weil es diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen sucht.

Doch selbst diese Gefühle stehen dem Hörer als objektiver Zustand gegenüber, wollen kein subjektiver Kommentar des Komponisten sein. Deshalb gibt Pärt dem Chor den Vorzug vor Gesangssolisten, vom »Gesamt-Adam« erzählt ein Ensemble allemal besser. Ebenso wie Pärts Vokalmusik ihre Texte nicht im klassischen Sinne interpretiert, kommen auch die Interpreten bei ihr mit traditionellen Ausdrucksmitteln nicht weit. Denn ihr ist der Glaube kein subjektives Gefühl, wie in der nachromantischen Tradition üblich, sondern eine objektive Realität, wie sie das Mittelalter dachte. Pärt ist ein Antiromantiker, musikalisch wie religiös. Gefühle schließen bei ihm den Himmel nicht auf, vielleicht stören sie dabei sogar eher. Seine Musik möchte nicht von Sehnsüchten erzählen, sondern direkt den Himmel umkreisen. Deshalb konzipiert er sie und die Regeln des Tintinnabuli-Stils als eine Gestalt der Objektivität, die sich immer auch ein Stück Ferne gegenüber dem Hörer bewahrt. Dass sich dennoch viele Menschen auch emotional in ihr wiederfinden, bedeutet wohl, dass Adams Sehnsucht stärker ist, als man es in einer säkularen Epoche annehmen dürfte.


© Universal Edition, 2015