»Die Zukunft stand immer im Vordergrund«

Alfred Schlee


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© Alexander Schlee
Alfred Schlee (li.) hatte von Beginn an die persönliche Betreuung von Pierre Boulez (re.) übernommen und lud ihn auf eine Hütte in die Alpen ein. Doch leider war überall Nebel und man sah nichts. Da erwarb Schlee eine Postkarte und schenkte sie Boulez: »So sieht es hier normaler Weise aus.« Boulez erinnerte sich später an diese Episode mit den Worten: »Schlee hat immer die Ansichtskarte der Utopie gekauft.«

Als ich im Jahre 1927 den mir schon gut bekannten Hans Heinsheimer fragte, ob er mich in der Universal-Edition unterbringen könne, hatte ich keineswegs eine Lebensstellung im Sinne. Bewunderung für die risikoreiche internationale moderne Produktion des Verlages und seines Leiters Emil Hertzka hatte mich neugierig gemacht, das Funktionieren eines solchen Apparates kennenzulernen. Ich rechnete damit, zwei bis drei Jahre diesem Studium zu widmen. Mir wurde jedoch bald darauf die Repräsentanz der Universal-Edition in Berlin angeboten, ein Ruf, dem ich freudigst folgte. Berlin war damals – besonders auf musikalischem Gebiet – Mittelpunkt der Welt.

Damals hat noch kein Mensch danach gefragt, ob die Universal-Edition ein jüdischer Verlag sei oder nicht. Doch die Situation hat sich dann rasch verändert, als unerwartet Hitler mit der bereits im Absinken begriffenen Nazi-Partei die Macht in Deutschland übernahm. Meine Einstellung zum Nationalsozialismus war eindeutig. Als Student hatte ich ein einziges Mal eine Rede Hitlers gehört und es für unmöglich gehalten, dass dieser Mensch je einen bedrohlichen Erfolg werde haben können. Dieser schreckliche Irrtum verhinderte jedoch nicht, dass ich auch in schlimmsten Zeiten und tragischen Verwicklungen unbeirrbar die Überzeugung wie ein Wissen aufrecht hielt, dass dieses Regime auf eine absehbare Zeit begrenzt sein werde.

Meine Tätigkeit erhielt nun einen neuen Schwerpunkt. Der größte Teil meiner neu erworbenen Freunde verließ nach und nach Berlin. Die meisten wichtigen ­Werke des Verlagskatalogs gerieten unter den Boykott nazistischer Rassen- oder Kulturgesetze. Die UE selbst geriet unter Beschuss. Eine gezielte Hetze gegen die jüdischen Leiter, Mitarbeiter und Autoren des Verlages setzte jetzt auch in Wien ein. In der österreichischen Botschaft in Berlin, wo ich Rat holen wollte, gewann ich den Eindruck, man wolle mich vor allzu starkem Einsatz für den Verlag warnen, und das erfüllte mich mit Schrecken. Alarmzeichen dieser Art bewirkten, dass sich meine Überlegungen auf das Überleben des Verlags zu konzentrieren begannen. Aber mein Vorschlag, in der Schweiz eine Ausweichfirma zu gründen, fand nicht die Zustimmung meiner Wiener Vorgesetzten. Sie fühlten sich in Österreich sicher und hielten mich für einen von den Nazis geschreckten Pessimisten.

Geben Sie mir Ihre Werke exklusiv, ich verspreche Ihnen, dass ich sie, wenn die Schweinerei vorbei ist, drucken werde. Schicken Sie die Partituren an unseren Freund Kurt Hirschfeld ans Schauspielhaus Zürich – von dort werden sie mich dann erreichen. Ich kann natürlich die Werke jetzt nicht drucken – aber Vertrauen gegen Vertrauen.

Alfred Schlee 1943 oder 1944 zu Rolf Liebermann, der diese Erinnerungen 1998 aufzeichnete

Doch 1938/39 ging es der UE an den Kragen. Der Wiener Verlag wurde vom deutschen Verlag Schott aufgekauft. Ein Angestellter von Schott jedoch, der den Verlag Peters »arisiert« hatte, überzeugte das zuständige Ministerium, Schott sei nicht »zuverlässig« genug, und so wanderte die UE weiter in das Eigentum von Peters – das Kapital dazu stammte aus dem Bereich Görings. In Wien gab es dann kommissarische Verwalter. Wir hatten Schutz, es waren anständige Menschen auch gegenüber Heinsheimer und Direktor Winter, dessen Auswanderung durch diese Leute möglich wurde.

Nun kam es darauf an, achtzugeben, dass nichts passiert, was die Universal-Edition in eine Situation bringt, durch die die Wiederaufnahme der internationalen Arbeit in der »Zeit nachher« unmöglich wird: Dass also der Grundstock bleibt, dass Manuskripte nicht verschwinden, dass auch die verbotenen oder nicht gespielten Werke nicht verloren gehen, dass von ihnen reproduzierbare Unterlagen erhalten bleiben, dass auch bei den Verlagerungen wegen Bombengefahr im Falle des verlorenen Krieges diese Sachen in unseren Händen bleiben. Und dabei gab es natürlich Auseinandersetzungen mit Peters.

Mit großer Hilfe Gottfried von Einems, vor allem dessen Mutter, wurde wertvolles Material in die Ramsau verlagert. Es gab so etwas wie österreichischen Patriotismus auch in Nazi-Kreisen, in denen sich Widerstand gegen die Ausplünderung bildete. Der damalige Bürgermeister in Wien, ein Nationalsozialist, hat mir sehr geholfen, weiters ein Beamter in der Kulturabteilung des Magistrats. Die Gestapo kam nur einmal in die UE und beschlagnahmte komischerweise nur Weill und Schenker. Die Notenschätze der UE sind demnach gleichsam halboffiziell abtransportiert worden, wurden unter dem Titel »Bombenschutz« größtenteils in Kirchen verborgen; in Zwettl, zum Beispiel hinter der Orgel, lagerten Werke von Weill und Schönberg. Privat hatte ich ein Haus am Semmering gemietet, dort lagerten wir in einem Raum Partituren, Manuskripte und Stimmen, so dass man leicht neues Material wiederherstellen konnte. Solange noch nicht Krieg war, funktionierte auch der Export ins Ausland. Das Interesse der Nazis an den Devisen war größer als ihre Sorge, das bekämpfte Kulturgut durch Export sogar zu fördern.

Ich habe in erster Linie nicht an den Augenblick gedacht, sondern an die Zukunft, sie stand immer im Vordergrund der Überlegungen. Wenn man keine Angst hatte, konnte man später auch bei den Russen vieles erreichen, und so ist es – mit Hilfe vieler Freunde – gelungen, den Bestand des Verlages in Wien zu erhalten und für den Tag der Befreiung die Wiederaufnahme einer unbehinderten Tätigkeit vorzubereiten. Als dann in Wien kein Schuss mehr fiel, begann die schönste Zeit meines Lebens. Als im Zuge der Wiederherstellung gleich nach Kriegsende noch die Gefahr auftauchte, die UE könne als »Deutsches Eigentum« verschachert werden, rettete Egon Seefehlner die Situation. Alfred Kalmus konnte die Aktiengesellschaft wiederherstellen und sich mit Ernst Hartmann, mir und einer Schar begeisterter junger Mitarbeiter reiner Verlagsarbeit widmen.

aufgezeichnet von Lothar Knessl


Alfred Schlee (1901 Dresden–1999 Wien)

war zunächst Repräsentant der Universal-Edition in Berlin, dann von 1938 an ausschließlich in Wien. In der Zeit der Nazi-Diktatur versteckte Schlee Partituren u. a. in Kirchen und in seinem Haus am Semmering oder brachte sie ins sichere Ausland. Er schuf mit diesen Aktivitäten die Voraussetzungen dafür, dass es nach 1945 spielbares Material jener Komponisten gab, die heute als Klassiker der Moderne gelten. Ab 1951 bildete er mit Alfred Kalmus und Ernst Hartmann den Verlagsvorstand. Er brachte Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Luciano Berio, Mauricio Kagel, Morton Feldman, Arvo Pärt und Wolfgang Rihm zum Verlag.