Ein Patriot, kein Nationalist

Mihály Ittzés


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Zoltán Kodály wird üblicherweise als Nationalkomponist bezeichnet, als Komponist, dessen Stil und Grundhaltung nationalistisch ausgerichtet sind. Im Wesentlichen trifft diese Charakterisierung zu. Der Komponist selbst erklärte, sein wichtigstes Ziel sei es, die Stimme seines Volkes hörbar zu machen. Er schrieb auch, dass er nichts anderes wünschte, als praeceptor Hungariae zu sein, ein Lehrer Ungarns oder ein Lehrer des ganzen Volkes. Als Pädagoge wollte Kodály seinem Volk, den Ungarn, konkret beibringen, »mehr ungarisch und musikalisch gebildeter« zu sein. Das internationale Interesse an der ungarischen Musiklehre wie auch an seinen Werken bedeutete ihm, wie er selbst bekannte, einen unerwarteten Bonus. Wer sich mit Kodálys musikalischem Œuvre und seinen Schriften auseinandersetzt, entdeckt sehr rasch, dass sich sein Nationalgefühl und seine geistige Haltung niemals gegen andere Personen oder Nationen richteten, sondern sein Bemühen vielmehr seinem eigenen Volk galt. Deshalb wäre es treffender, ihn als Patrioten und nicht als Nationalisten – schon gar nicht als Chauvinisten – zu bezeichnen.

Kodály hat, ebenso wie andere unserer führenden Intellektuellen, erkannt, dass Ungarn durch seine geografische und kulturelle Lage eine besondere Position und Rolle in Europa einnimmt; insofern ortete er die Magyaren zwischen Ost und West. Es ist eine historische Tatsache, dass die Magyaren und die ihnen verbundenen Volksstämme, als sie im Zuge der Völkerwanderung das Karpatenbecken besiedelten, dort keine nahen Anverwandten vorfanden. Ihre Sprache findet sich hier singulär unter slawischen, deutschen und, in der erweiterten Region, romanischen Sprachen. Nachdem die Ungarn gegen Ende des 10. Jahrhunderts christianisiert und der westlichen Kirche beigetreten waren, bekannten sie sich kulturell (und politisch) zum westeuropäischen Raum. Dabei entledigten sich unsere Vorfahren aber natürlich nicht ihres gesamten östlichen Erbes. Obwohl die nationale Sprache, die Musik und die Kultur durch immer neue Einflüsse umgestaltet wurden, haben einige der uralten, charakteristischen Besonderheiten die Stürme und Nöte der Jahrhunderte überdauert.

Somit konnten unsere Volkslied-Sammler, allen voran Kodály und Bartók, um die letzte Jahrhundertwende sehr viele ursprüngliche Elemente ungarischer Musik in der Volksmusiktradition entdecken. In diesem Material, das vor allem im bäuerlichen Milieu bewahrt worden war, fanden sie wirklich Interessantes und Wertvolles, um daraus eine eigene ungarische Kunstmusik auf sehr hohem Niveau zu entwickeln. Wir wissen, dass Kodálys Perspektive vor allem eine historische war und er versuchte, so tief wie möglich aus der Vergangenheit zu schöpfen, während Bartóks Konzept auf großem geografischen Interesse gründete. Obwohl sie, vor allem Kodály, eine neue ungarische Kunstmusik auf der Basis der mehr oder weniger historischen Traditionen, die sie entdeckt hatten, kreieren wollten, waren ihre Vorstellungen in keiner Weise engstirnig-nationalistisch. Als Musikethnologen war ihnen bewusst, dass die originären Charakteristiken des Ungarischen nur mittels vergleichender Studien beschrieben werden können. Aus diesem Grund war es, wie Kodály in einem seiner Aufsätze erwähnt, sehr wichtig, sich auch mit den Volksliedern benachbarter Völker vertraut zu machen und diese zu sammeln.

Im Zuge ihrer Forschungen erkannten sie, dass die anhemitonische Pentatonik eines der wichtigsten charakteristischen und ursprünglichsten Merkmale der magyarischen Tradition darstellt und bis in die Zeit der Völkerwanderung zurückreicht.

Wir wissen, dass Kodálys Perspektive vor allem eine historische war.

Mihály Ittzés

Ohne Erfahrungen als Musikethnologe hätte Kodály sowohl als Komponist als auch als Musikpädagoge wohl kaum Folgendes feststellen können: »Die Aufgabe im Leben eines Landes und eines Volkes, das sich im Mittelpunkt des Aufeinandertreffens der Einflüsse von Ost und West befindet, kann nur darin bestehen, beiden zugehörig zu sein, die Widersprüche zwischen beiden zu glätten und zu verschmelzen. […] Wir können und müssen von der Musikkultur aller Völker lernen. Vom Typus her steht uns Italien am nächsten, weil es sich ebenfalls vorrangig vom Gesang her begründet, aber wir müssen auch von den Deutschen und Franzosen lernen.« Unter neuer »klassischer« Musik Ungarns verstand er eine spezielle Synthese orientalischer und abendländischer Traditionen.

Im Jahr 1947 wurde Kodálys Methode der musikalischen Erziehung in einer Rezension, die teilweise auf den Vorstellungen konservativer Musiklehrer und zum Teil auf Missverständnissen beruhte, kritisiert. Kodály antwortete in einem Artikel mit dem Titel Ein Jahrhundertplan: »Niemand möchte bei der Pentatonik stehen bleiben. Aber trotzdem müssen die Anfänge eben da gemacht werden; so ist es möglich, der biogenetischen Entwicklung des Kindes ebenso wie den Anforderungen eines vernünftigen pädagogischen Konzeptes zu entsprechen.« Er betonte diesen doppelten Gesichtspunkt, weil »Pentatonik nicht einfach nur ein Segment der Schatzkammer ungarischer Volkslieder ist, sondern deren eigentlicher Kern: Es ist die ungarische Herangehensweise an die Musik.«

Ich bin überzeugt, dass Kodálys Konzept auch heute noch Gültigkeit hat, und auch Musikethnologen haben, seit er diesen Artikel geschrieben hat, erkannt, dass es noch weitere historische Lagen mit eng geführten Melodie­typen gibt. Ebenso haben verschiedene Formen des mehr oder weniger breiten Spektrums des pentatonischen Stils, der noch auf die historischen Einflüsse der bulgarisch-türkischen Stämme aus der Zeit der Völkerwanderung zurückgeht, bis heute in der Volksmusiktradition überlebt.

Sowohl Bartók als auch Kodály waren sehr an östlichen Traditionen und Bezügen interessiert; das geht aus ihren Studien zur Vergleichenden Musikethnologie deutlich hervor.

Mihály Ittzés

Sowohl Bartók als auch Kodály waren sehr an östlichen Traditionen und Bezügen interessiert; das geht aus ihren Studien zur Vergleichenden Musikethnologie deutlich hervor. In den späten 1950er-Jahren ermutigte Kodály einen seiner Assistenten, László Vikár, nach Russland in das von finnisch-ugrischen Völkern bewohnte Gebiet der Flüsse Wolga und Kama zu reisen. Vikár sammelte eine große Menge an Volksliedern der Tscheremissen und ihrer turksprachigen Nachbarn. Dieses umfangreiche Material war ein sehr wichtiger Beitrag, um die Beziehungen unserer Volksmusik mit dem Osten zu verdeutlichen. Neben den wissenschaftlichen Ergebnissen führte Vikárs »Expedition« auch zu einem künstlerischen Ergebnis, indem Kodály aus László Vikárs frühem Material fünf berg-tscheremissische Volkslieder für Stimme und Klavier arrangierte.

Man kann die Frage stellen, warum hier auf Kodálys Beschäftigung mit speziell ungarischen Bezügen eingegangen wird, wenn es doch um das Thema kultureller Vielfalt geht. Ein paar weitere Zitate können das klar verständlich machen: »Letztendlich ist die Pentatonik eine Einführung in die Weltliteratur: Sie ist der Schlüssel zu vielen Werken fremdländischer Musikliteratur, vom alten gregorianischen Choral über China bis hin zu Debussy.« Es können hier auch etliche weitere geografische Kulturgebiete genannt werden, in denen Pentatonik integraler Bestandteil der Tradition ist oder als ein Element heutiger musikalischer Sprache aufscheint; zum Beispiel in einigen Arten amerikanisch-indianischer Musik oder im keltischen Erbe der Musik der Britischen Inseln. Ausgehend von dem pentatonischen Tonsystem wurden und werden natürlich viele unterschiedliche musikalische Idiome, je nach Kombination anderer musikalischer Elemente, abgeleitet.

In diesem Zusammenhang sollten wir auch das Nachwort aus Band 4 von Pentatonic Music zitieren. Laut Kodály verhilft die Beschäftigung mit tschuwaschischer und ihr nahe verwandter Volksmusik ungarischen Kindern zur Vertiefung der Erkenntnis um ihre musikalischen Wurzeln. Er meint weiter: »Wir können uns Wissen über die Welt aneignen und im Licht anderer musikalischer Sprachen auch unsere eigene besser verstehen. […]

Die Welt hat sich zunehmend geöffnet und im Hinblick darauf verliert Kunst, die sich ausschließlich auf eine Nation bezieht, ihren Sinn. Wir sind der Verwirklichung einer Weltmusik näher als einer Weltliteratur, wie Goethe sie sich vorgestellt hatte.«
(An dieser Stelle möchten wir zwei weitere Feststellungen Kodálys erwähnen. Zum einen wies er auf die Tatsache hin, dass Carl Orff, ebenso weltberühmter Komponist und Musikpädagoge, wie er der Meinung war, dass Pentatonik das geeignetste Material für Anfänger darstellt. Die zweite steht im Zusammenhang mit der Adaption der Kodály-Methode in anderen Ländern. Einige ausländische Musiklehrer meinten, dass die ungarische Methode nicht so einfach oder gar nicht übernommen werden könne, da die pentatonische Ebene in ihrem eigenen musikalischen Erbe fehle. Kodály wollte jedoch keineswegs Pentatonik als einzig mögliche Ausgangsbasis für Anfänger verstanden wissen. In einem seiner Vorträge in Amerika meinte er: »Jedes Volk verfügt über viele Lieder, die sich speziell für den Unterricht gut eignen. Wenn wir diese sorgfältig auswählen, sind Volkslieder das beste Material, um neue musikalische Elemente vorzustellen und erfahrbar zu machen.« In diesem Sinne lassen sich Kodálys Gedanken weiterführen: Wenn die musikalische Sprache eines Landes sich von der ungarischen unterscheidet, kann zu Beginn der schrittweise Aufbau der melodischen Tonsatzelemente anders angeordnet sein. In diesem Fall repräsentiert Pentatonik eine andere Kultur, eine Art fremden Typus musikalischer Sprache für sie.

»Letztendlich ist die Pentatonik eine Einführung in die Weltliteratur.«

Zoltán Kodály

Zoltán Kodály betonte auch, dass ein Volk seinen ihm gebührenden Platz in der großen Vielfalt der Welt nur dann einnehmen kann, wenn es seine eigene Stimme bewahrt. Er meinte, dass »Ungarn seinen Zugang zur Weltmusik sicherer über Tschuwaschien finden kann als dadurch, direkt auf den Westen zuzusteuern.« Dass er in seinen 3. Band von Pentatonic Music ­Volksmusik der Tscheremissen aufgenommen hat, geschah in pädagogischer Absicht. Dasselbe musikalische Material diente als Ausgangspunkt der meisten der zweistimmigen Arrangements im 4. Band der Bicinia Hungarica und der erwähnten Fünf berg-tscheremissischen Volkslieder für Stimme und Klavier; nicht zu vergessen die finnischen Volkslieder, die ebenfalls in Bicinia Eingang gefunden haben sowie in das wunderbare Chorwerk für gleiche Stimmen mit Klavierbegleitung Wainamoinen Makes Music.

Nachdem die bisher erwähnte Musik mehr oder ­weniger mit den Ungarn verknüpft ist, lässt sich daraus noch keine multikulturelle Ausrichtung ableiten. Obwohl sich ihre ursprünglichen Volksstämme vor weit mehr als einem Jahrtausend getrennt haben, gehören die Tscheremissen und die Finnen ebenso wie die Magyaren immer noch der finno-ugrischen Sprachfamilie an. Für die gebildete Gesellschaft war die Entdeckung historischer ­Schichten in der ungarischen Volksmusiktradition fast wie ein fremdländisches, nicht ungarisches musikalisches Idiom. Als Kodály dieses nahezu vergessene, wiederentdeckte, ergiebige Material sowohl in seine Kompositionen als auch in seine pädagogische Arbeit einbrachte, öffnete das ein Tor zu einem neuen Reich der Musik, vor allem für diejenigen, die unter dem starken Einfluss westlichen, vor allem deutschen musikalischen Denkens standen, oder für eine breite Gesellschaftsschicht, die in den veilchenblauen Wolken der vorzugsweise von Roma-Bands gespielten, populären Liedliteratur des 19. Jahrhunderts gelebt hatte.

Bereits 1929 schrieb Kodály ein Vorwort zu einer kleinen Ausgabe von Volksliedern für Pfadfinder, die Lajos Bárdos zusammengestellt hatte. Er wollte ungarische Volksmusik unter den Jugendlichen bekannt machen. Und er fügte hinzu: »Lasst den ungarischen Burschen Lieder anderer Völker singen, lasst ihn diese Lieder mit den originalen Texten singen. Solcherart kann er durch diese Lieder die Länder kennenlernen. […] Zuallererst aber müssen wir uns selbst kennen.« Das erinnert sehr an Schumann, der in Musikalische Haus- und Lebensregeln schrieb: »Höre fleißig auf alle Volkslieder; sie sind eine Fundgrube der schönsten Melodien und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen.« Diese Aufgabe und Herausforderung formulierte ­Kodály in einem seiner Vorträge in Amerika 1966 ebenfalls: »Wenn wir andere Nationen verstehen möchten, müssen wir zuerst uns selbst verstehen. Es gibt dafür kein besseres Hilfsmittel als die Volksmusik. Sich mit den Volksliedern anderer Länder vertraut zu machen, ist die beste Art, andere Völker kennenzulernen.« Diese Worte sind wie eine Zusammenfassung Kodálys humanistischer und kultureller Liberalität.

»Höre fleißig auf alle Volkslieder; sie sind eine Fundgrube der schönsten Melodien und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen.«

Robert Schumann

Kodálys Werke verweisen immer wieder auf sein Bestreben, das monophone Denken des Ostens mit dem polyphonen und harmonischen der westlichen Welt zu verbinden. Im Nachwort von Bicinia Hungarica Band I schrieb er: »Für die Ungarn [Magyaren] als Menschen mit einem für den Osten typischen Unisono-Denken ist nicht der Rhythmus oder die Melodie das Hauptproblem, sondern die Mehrstimmigkeit.« Er schrieb viele Gesangsübungen, aufbauend auf ursprünglich-ungarischem, ­monophonem melodischen Material, um eine Art westliches Musikempfinden aufzubauen. In einigen seiner Volkslied-Arrangements verschmolz er auch die zwei Welten. Ein kleines Beispiel repräsentiert eine Lösung der gesamten Problematik und kann als sinnbildlich gelten: Nr. 28 der Tricinia baut auf einem pentatonischen Thema Kodálys auf. Es nimmt eine polyphone Entwicklung, wird in einer Variation akustisch gewandelt; in der Coda schließlich vereinen sich Dur-Harmonik und pentatonische Melodie mit einer kleinen Terz. Hier lässt sich das Aufeinandertreffen von Ost und West in einem Miniaturbauwerk erkennen.


Mihály Ittzés: Zoltán Kodály in Retrospect

East meets West: Multicultural Ideas in Kodálys Writings and Musical Works
© Mihály Ittzés und das Kodály Institute, Kecskemét, 2002
Übersetzung: Angelika Worseg