»Ein sizilianisches Drama«

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Karol Szymanowski, creative commons

»Stell Dir das gedämpfte Gold und die Steifheit der Gestalten der Mosaiken oder die arabischen Filigrane als Hintergrund vor, dazu Tänze – welch ein barbarischer, aber köstlicher Reichtum.« Karol Szymanowski versuchte seinem Librettisten Jarosław Iwaszkiewicz zu erklären, welche orientalischen Welten und welche »byzantinisch-arabischen Innenräume von Palästen« ihm bei der Realisierung seiner Oper »König Roger« vor Augen schwebten. Der Komponist sprach hier aus eigener Erfahrung. Die Atmosphäre, die in seiner Seele anklang, hatte er selber auf der Insel Sizilien, die er mehrere Male besucht hatte, angetroffen.

Seit 1908, doch vor allem 1910/11 und auch 1914 reiste Szymanowski in den Süden Europas, wo er die Kulturstädte Italiens besuchte: »Würde Italien nicht existieren, könnte auch ich nicht sein ...« Doch es war besonders die Insel Sizilien, die ihn maßlos faszinierte; hier fand er einen historischen Schmelztiegel von griechischen, römischen, arabischen, orthodoxen und katholischen Kulturen vor. Das römische Theater von Taormina, die griechischen Ruinen in Syrakus und Segesta und die Überbleibsel der arabischen Zeit regten seine Phantasie an. Hier fand er eine Welt voller Wärme und Schönheit, nach der er sich im Norden Europas unbewußt gesehnt hatte.

Die Kultur, die den Komponisten in Sizilien am stärksten beeinflußte, war zweifelsohne die der byzantinischen Welt des französisch-normannischen Königs Roger II. Er war der Sohn des normannischen Grafen Roger de Hauteville, der 1060 Sizilien angegriffen und von den Arabern erobert hatte. Seine Regierung übernahm viele der herrschenden griechischen, römischen und besonders der arabischen Traditionen und führte die Insel zu großer Blüte. Sein Sohn Roger II., der von 1095 bis 1154 lebte, setzte diese Traditionen fort. Sein Hof in Palermo war der glänzende Mittelpunkt seines Imperiums. Die drei Bevölkerungsgruppen der Insel – die Griechen, die Araber und die Sizilianer – lebten in relativer Harmonie. Rogers Enkelsohn Friedrich II. sollte später vergeblich versuchen, diesen Gedanken des kulturellen Schmelztiegels nach Nordeuropa zu übertragen.

Szymanowski besuchte in Palermo die berühmte Cappella Palatina, die Roger als Dank für seine Krönung hatte bauen lassen. Diese Kirche bildet einen Höhepunkt der byzantinisch-arabischen Architektur, die Mosaiken sind von einer außergewöhnlichen Farbenpracht. Bunte biblische Szenen auf goldenem Hintergrund schmücken die Wände und Kuppeln, während die Holzdecke mit arabischen Schnitzereien versehen ist. Das Gebäude machte einen unauslöschlichen Eindruck auf den 29jährigen Szymanowski, und diese Erfahrung sollte den Keim seiner weiteren persönlichen und künstlerischen Entwicklung bilden. Auffällig ist hier weniger, daß ein Komponist durch Architektur und bildende Künste angeregt wurde, sondern daß diese Künste ihrem Wesen nach der Ausdruck derjenigen Welt waren, von der er sich gerade befreien wollte, nämlich der christlichen. Was Szymanowski in Palermo sah, entsprach der sprichwörtlichen Starre der byzantinischen Kunst, der orientalischen Riten und des Dogmas der absoluten Wahrheit. Die Mosaiken waren größtenteils von griechischen Künstlern geschaffen und in der Epoche des zweiten goldenen Zeitalters der byzantinischen Kunst entstanden. Die Decke der Kapelle, von arabischen Handwerkern gefertigt, erhöht den Glanz des Gebäudes. Die maurischen Stalaktiten und geschnitzten Kassetten, die an die Blütezeit von Granada und Córdoba erinnern, bilden mit ihren geschwungenen Formen ein Gegengewicht zu den strengen byzantinischen Figuren. In ihrer Verbindung verweisen die christliche und arabische Kultur auf die ältere Kultur, aus der sie beide hervorgegangen sind: das klassische Altertum. Anschließend an seinen Aufenthalt in Sizilien 1914 überquerte Szymanowski das Mittelmeer, um nach Nordafrika zu reisen. Zusammen mit seinem Freund Stefan Spiess besuchte er Algier, Constantine, Biskra und Tunis. Am 11. April schrieb er aus Biskra: »Dieser Ort ist wirklich göttlich ...« Die Wärme und Schönheit, die Szymanowski im Süden entdeckte, bedeuteten für ihn aber noch mehr. Einer der Gründe, warum er dem Norden regelmäßig entfloh, war seine Homosexualität. In Sizilien und in Nordafrika wird er gewiß etwas von der relativen Freiheit gegenüber dieser Sexualität empfunden haben.

Die Monumente und Mythen Südeuropas beeinflußten auch Szymanowskis Kunstauffassung. Er begann sich bereits von der deutschen Tradition von Wagner und Strauss abzuwenden, als er 1913 in Wien das Werk Strawinskys und dessen »Petruschka« kennenlernte: »Genial ist Strawinsky (...) ich finde ihn überwältigend und beginne par consequent, die deutsche Musik zu hassen.« Als er ihm einige Jahre später persönlich in London begegnete, war er mehr und mehr davon überzeugt, daß er den Weg des spätromantischen Idioms von Wagner verlassen hatte. Die französische Musik und der Impressionismus, verbunden mit seinen Erfahrungen im Süden, gewannen in seinem musikalischen Denken immer mehr an Bedeutung.

Sofort nach seiner Rückkehr im Herbst 1914 arbeitete Szymanowski an einigen Werken, die durch seine sizilianischen und arabischen Erfahrungen beeinflußt sind, nämlich an dem Liederzyklus »Des Hafiz Liebeslieder« und der Dritten Symphonie, »Das Lied von der Nacht«. 1918 folgten die »Lieder des verliebten Muezzin« zu Texten seines Cousins, des Librettisten, Dramatikers und Dichters Jarosław Iwaszkiewicz.

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde es für Szymanowski immer schwieriger, die Verbindung zu Westeuropa aufrechtzuerhalten, und er wandte sich nun stärker nach Rußland. In dieser für ihn fruchtbaren Periode konnte er in den bereits genannten Werken seine Reiseerfahrungen verarbeiten. Die Oktoberrevolution von 1917 stürzte das Land in den Bürgerkrieg, von dem auch die polnisch-ukrainische Familie Szymanowski betroffen wurde. Sie mußte ihr Landgut Tymoszówka verlassen und nach Jelisawetgrad umziehen. Das Haus auf dem Land wurde in Brand gesteckt, sodaß die sorgenlose Kulisse der Jugend Szymanowskis für immer verlorenging. In der Stadt Jelisawetgrad, die er seit jeher verabscheut hatte, fühlte sich Szymanowski eingeengt. Vom Osten wie vom Westen war er nun abgeschnitten. Da er kaum mehr zum Komponieren kam, widmete er sich fortan dem Studium der arabischen und sizilianischen Geschichte und Kultur. Auch las er Nietzsches Werk »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Auf diese Weise wollte er nicht nur seine Reiseerfahrungen vertiefen und verarbeiten; es herrschte in ihm auch eine unstillbare Sehnsucht nach dem Süden. 1918 schrieb Szymanowski an Iwaszkiewicz: »Du hast keine Ahnung, wie wichtig das für mich psychologisch ist, wie sehr ich in meinem jetzigen Zustand irgendeine Hilfe oder Anregung von außen brauche – irgendeine künstlerische Befruchtung für die musikalische Weiterarbeit.« Szymanowski meinte sein Literaturstudium, es war aber auch etwas anderes hinzugekommen: Der Komponist hatte einen groß angelegten Roman zu schreiben begonnen, in dem er seine Erfahrungen und Gedanken ordnen wollte und der eine geistige Grundlage für sein weiteres musikalisches Schaffen bilden sollte. Schon seit 1917 schrieb Szymanowski an diesem Roman, der den Titel »Ephebos« trug und an dem er bis 1919 Weiterarbeiten sollte. Der erste Teil des Romans war 1919 druckfertig, während vom zweiten Teil längere Fragmente skizzenhaft entworfen und teilweise auch schon geschrieben waren. »Ephebos« »ist vor allem ein Bildungs- und Ideenroman – als Ephebe bezeichneten die Griechen einen Jüngling, der das Stadium der Mündigkeit erreicht hat. Der junge, adelige Alo Lowicki durchläuft darin durch Begegnungen mit verschiedenen Personen mehrere Stadien des Erwachsenwerdens. Auf seinen Reisen durch Europa und in der Konfrontation vor allem mit der italienischen Kunst entdeckt er sich selbst, und anhand dieser Erfahrungen folgt der Leser seiner geistigen und künstlerischen Entwicklung. Das Werk zeigt stark autobiographische Züge, und einige Romanpersonen gleichen Portraits von Freunden Szymanowskis dieser Zeit.

Im zweiten Teil des Romans finden sich an zwei zentralen Stellen die Grundgedanken des Werks. Die erste Stelle ist das Kapitel »Das Gastmahl« oder »Symposion«, die Beschreibung einer nächtlichen Auseinandersetzung einiger Personen in einer römischen Taverne. Ebenso wie in Platos »Symposion« führen die Anwesenden ein Gespräch über Kunst, Schönheit, Liebe und Erotik, und je mehr Wein fließt, umso feuriger werden die Diskussionen. Der junge Alo gelangt in diesem Gespräch zu einer tiefen Einsicht in seine Beziehung zu Marek Korab, einem erfolgreichen polnischen Komponisten, der sich wie er in Rom befindet. Während Alo noch auf der Suche nach den Werten seines Lebens ist, hat Korab diese schon gefunden. Beide sind aufeinander angewiesen, ein geheimnisvolles Band der Liebe verbindet sie. Es ist anzunehmen, daß diese beiden Männer zwei Aspekte von Szymanowskis Persönlichkeit verkörpern.

Die zweite Stelle handelt von einer Begegnung zwischen Alo und Korab, bei welcher Korab an der Liebe Alos zweifelt und sich schließlich von ihm abwendet. Alo flüchtet nach Sizilien, wo in der Palatinischen Kapelle in Palermo seine geistige Wiedergeburt stattfindet. Durch den Schmerz der Einsamkeit entwickeln sich sein schöpferisches Bewußtsein und seine künstlerischen Fähigkeiten. Schließlich begegnet ihm in Sizilien auch Korab wieder, sodaß in ihrer liebevollen Wiedervereinigung die gespaltene Psyche von Alo/ Korab genesen wird.

Die Liebe, auf die Szymanowski vor allem zielte, war die Männerliebe. In »Das Gastmahl« wird auf alle möglichen Arten das Für und Wider der Homosexualität einander gegenübergestellt. In der Nachfolge Platos wird argumentiert, daß Männerfreundschaft der »normalen« Liebe überlegen sei, da letztere vor allem biologisch bedingt sei und der Fortpflanzung diene, während es sich zwischen Männern in erster Linie um geistige Bande handle, die auch zu schöpferischen Leistungen führten.

Szymanowski schrieb »Ephebos«, um sein immer noch schuldbewußtes und gequältes Gewissen zu reinigen. Der Roman sollte nicht allein eine Antwort auf sein soziales Umfeld sein, das seine »Andersartigkeit« nicht akzeptieren konnte; er thematisierte ebenso seinen inneren Gewissenskonflikt sowie sein Ringen mit seinen eigenen tiefsten Empfindungen. Der Komponist erkannte dies, als er im Vorwort seines Romans bemerkte, daß es sich hier um »die Geschichte eines ›anormalen‹ Jünglings« handle, »dem die Natur bei seinem Urtrieb einen Streich spielte«. In »Das Gastmahl« klingt zum ersten Mal die Lebensanschauung Szymanowskis durch, die nicht viel später auch andere Werke, besonders die Oper »König Roger«, prägen wird. Er meinte, daß durch die sinnliche Liebe die Geheimnisse der geistigen Liebe erfahren werden könnten.

Im Roman wird die tiefere Bedeutung dieser Liebe ausführlich behandelt. Der Beweggrund des menschlichen Verhaltens liegt letztlich in den Urtrieben, an die jedes Individuum gebunden ist. Die menschliche Entwicklung besteht wesentlich aus der sukzessiven Befreiung von diesen Trieben. Durch das daraus hervorgehende höhere Bewußtsein entsteht die Möglichkeit der Wahl, sodaß der Mensch sich von einem seiner wichtigsten Triebe, dem Geschlechtstrieb, befreien kann. Auf diese Weise wird es möglich, sich für die »aufrichtige« Liebe zu entscheiden, und so kann sich schließlich auch das Gefühl für Schönheit entwickeln, da »das Schönheitsempfinden das Lieblingskind der Liebe ist«. Wie erwähnt, ist die gleichgeschlechtliche Männerliebe weiter von den Urtrieben entfernt als die heterosexuelle Liebe zu einer Frau – ohne sich übrigens weiter um das Trieb- und Liebesieben der Frauen zu kümmern, einschließlich der »uns aus tiefster Seele beneidenden Anhängerinnen der göttlichen Sappho«. Parallel hierzu erklärt Szymanowski den Gegensatz zwischen der wahren Kultur und dem biblischen Gesetz, wobei er zwischen einer »arisch-griechischen« und einer »semitischen« Kultur unterscheidet. Nach dem semitischen Gesetz, das auf der Bibel gründet, habe die christliche Moral die Unterdrückung in Europa fortsetzen können. Diese Unterdrückung bedeutete besonders die völlige Verneinung von Sinnlichkeit und Sexualität. Die Überlegenheit der klassischen Kultur hingegen besteht nach Ansicht des Komponisten, der hier dem Gedankengut Nietzsches folgt, aber gerade aus der Anerkennung zweier entgegengesetzter Kräfte, die im Griechischen unter den Begriffen »physis«, also Natur, und »nomos«, also Gesetz und Konvention, gefaßt werden. Nach Auffassung der Griechen soll der »nomos« die Gesellschaft organisieren. Doch damit unredliche und veraltete und daher unnatürliche Konventionen vermieden werden, sollte die Gesellschaft durch die »physis« erneuert werden. Es handelt sich dabei um die Wechselwirkung zwischen den ungebändigten Naturtrieben und der Vernunft, zwischen Rausch und Rationalität, also zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, die eine Gesellschaft gesund erhalten sollte.

Ähnliches verficht Szymanowski in seinem Roman »Ephebos«, in dem die beiden genannten Kräfte vereinigt werden. »Eros ist ein Geschöpf der Schönheit, und das betrifft sowohl die Seele wie den Körper«, schreibt der Komponist. Eben aus der freien Entfaltung des Körpers und des Geistes in der Liebe geht eine geistig höhere Entwicklungsstufe hervor: »Nicht nach dem Schönen strebt die Liebe, vielmehr sie zu erschaffen, nach der Zeugung in Schönheit.« Damit betritt Szymanowski eine neue Bewußtseinsstufe, »denn in der Zeugung liegt etwas Ewiges, Unsterbliches, sofern es Sterbliche besitzen können«. Hier entfaltet sich eine Einsicht in eine ewige, geistige Schönheit, die am Ende des Weges der Liebe liegt, in ein Abstraktum, das mit nichts Irdischem mehr verglichen werden kann. Hiermit gewinnt seine homoerotische Apologie eine Dimension, die dem Begriff der Erlösung sehr nahe kommt.

Das umfangreiche Manuskript des Romans »Ephebos«, das aus zwei Teilen bestand, verbrannte 1939 in der von Bomben zerstörten Wohnung von Jarosław Iwaszkiewicz, der bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Warschau lebte. Es ist davon ausgegangen worden, daß – mit Ausnahme einiger kurzer Fragmente – das gesamte Werk für immer verloren sei. 1981 allerdings wurde das vollständige Kapitel »Das Gastmahl« in einer etwas ungelenken russischen Übersetzung wiedergefunden. Es war im Besitz eines gewissen Boris Kochno, eines älteren russischen Emigranten, der in Paris lebte.

Im Frühjahr 1919 hatte Szymanowski den damals 16jährigen Boris Kochno kennengelernt. Dieser junge aristokratische Russe, der selbst auch Dichter war, verblieb einige Zeit in Jelisawetgrad in der Ukraine, wohin ihn die Abenteuer des Bürgerkrieges als Soldaten verschlagen hatten. Szymanowski, der damals mitten in den Arbeiten an seinem Roman und den Vorbereitungen zu »König Roger« steckte, verliebte sich in den jungen Mann. Als Kochno den Komponisten 1920 verließ und weiterreiste, hatte er eine von Szymanowski ins Russische übersetzte Fassung des »Gastmahls« bei sich. Da dieses Kapitel zum zweiten und später verfaßten Teil des Romans gehörte, war wohl Kochno derjenige, der Szymanowski vor Augen schwebte, als er das Preislied auf den schönen Jüngling schrieb, möglicherweise verdankte er sogar ihm diese Einsichten in die Bedeutung der Schönheit und Liebe.

Im »Gastmahl« spricht die Figur des polnischen Komponisten Marek Korab von dem Theaterstück »Die Bakchen« des Euripides: »So haben mich die ›Bakchen‹ doch außerordentlich beeindruckt! Diese ideale, majestätische Theatralik, die leider schon lange im rastlosen Naturalismus und der kinemato graphischen QuasiPsychologie unserer Dramen verlorengegangen ist, entpuppt sich als wahrhaftig bühnenwirksam (...) Außerdem steht uns der Inhalt nicht so fern, pulsiert darin doch ein für uns faßbares und begreifliches Blut.« »Die Bakchen« erzählt die Geschichte des Königs Pentheus von Theben, den der Weingott Dionysos zu einem Bacchanal führt und der dort von seiner eigenen Mutter Agave, die sich in einem dionysischen Rausch befindet, zerrissen wird. Szymanowski erwähnt »Die Bakchen« im »Gastmahl« übrigens zum ersten Mal. In den Jahren 1916/17 komponierte er eine Kantate zu diesem Drama von Euripides. Daß Szymanowski sich ausgerechnet für eine Vorlage des ungeschliffenen Euripides statt für die der subtileren Schriftsteller Sophokles oder Aischylos entschieden hatte, lag zweifelsohne an der Tatsache, daß ersterer auf revolutionäre Weise den Menschen in all seiner Sinnlichkeit dargestellt hat. Marek Korab, der Komponist im »Gastmahl«, hat vor, zu »Die Bakchen« ein Musikdrama zu schreiben. Es ist anzunehmen, daß sich Szymanowski hier selbst zu Wort kommen läßt. Der Gedanke, zu diesem Stück tatsächlich eine Oper zu schreiben, entsteht während seiner Arbeit an dem Roman.

Da Jelisawetgrad im Juni 1918 durch eine Intervention der österreichischen und deutschen Besatzer dem Westen zugeteilt wurde, konnte Szymanowski seinen Cousin Iwaszkiewicz einladen, um ihm seine Reiseerfahrungen mitzuteilen. Selbstverständlich berichtete er ihm auch von dem Roman, an dem er arbeitete, und von seiner Lektüre der letzten Jahre, zu der auch das Buch »Konkurrenten des Christentums« von Tadeusz Zieliński gehörte, in dem die christliche Ethik zur Debatte gestellt wurde. Wichtiger allerdings war, daß er seinem Cousin nun vorschlug, gemeinsam ein szenisches Werk zu verfassen. Laut Iwaszkiewicz hoffte Szymanowski, daß er sich damit »aus gewissen religiösen oder vielleicht richtiger theologischen Zwangsvorstellungen befreien könne«. Obwohl Iwaszkiewicz bezweifelte, daß er den inhaltlichen Ansprüchen des Komponisten zu genügen vermochte, verabschiedete er sich mit dem Versprechen, einen ersten Entwurf für ein »sizilianisches Drama« fertigzustellen.

Eine widerspenstige Wirklichkeit

Die ersten Ideen für ein Libretto galten der Person Friedrichs II. und seinem sizilianischen Hof. Die erste Skizze von Iwaszkiewicz entspricht dem ersten und dritten Akt der späteren Oper. »In diesem Entwurf ging es einfach um die Einweihung des Dramenhelden in die dionysischen Mysterien und die Präsentation des ewig lebenden Dionysos vor dem Hintergrund der Theaterruine von Syrakus oder Segesta«, so der Librettist. Der Komponist reagierte begeistert, merkte jedoch an, daß auch die byzantinisch-arabische Welt im Drama verarbeitet werden sollte. Aus diesem Wunsch sollte schließlich der sogenannte arabische zweite Akt entstehen.

Im September 1918 besuchte Iwaszkiewicz wiederum seinen Cousin, und zwar diesmal in Odessa, wo die Familie zur Kur weilte. Dort überreichte er ihm den Gedichtzyklus »Lieder des verliebten Muezzin«, den er den orientalischen Berichten Szymanowskis nachsinnend geschrieben hatte. Szymanowski sollte kurze Zeit darauf diese Verse als eine Art Fingerübung für die geplante Oper vertonen. Trotz aller Begeisterung ergaben sich in Odessa auch die ersten Probleme. Iwaszkiewicz spürte, daß Szymanowski einen anderen Weg einschlagen wollte. Über das Grundthema waren sie sich einig, die Geschichte des König Roger, die mit den »Bakchen« des Euripides verbunden werden sollte. Der Librettist bemerkte hierzu später: »Die Philosophie von ›König Roger‹ ist ziemlich einfach. Sie stützt sich auf eine bestimmte Szene aus den ›Bakchen‹ von Euripides oder richtiger gesagt auf eine Interpretation dieser Szene bei Tadeusz Zieliński.« Zieliński, der auch die für Szymanowski maßgebliche Übersetzung der »Bakchen« des Euripides angefertigt hatte, entdeckte »in der Szene des Pentheus mit dem verkleideten Dionysos eine sinnliche Erregung, die Pentheus zum Fest der Bacchantinnen zieht, obwohl er sich scheinbar dem Dionysoskult und dem mit ihm verbundenen Rausch widersetzt«. Am Ende unseres Jahrhunderts ist die Erotik dieser Szene, in der Pentheus sich von Dionysos als Frau verkleiden läßt, offensichtlich, doch in der Zeit Szymanowskis war dies eine gewagte Deutung. Eine ebensolche Erregung wird Roger überwältigen, wenn er den geheimnisvollen Hirten sieht und ihn von seinem orgiastischen Glauben erzählen hört. Diese Szene ist als eine Schlüsselszene des Wenks anzusehen.

Bevor sich Szymanowski und Iwaszkiewicz wieder trennten, einigten sie sich auf eine Arbeitsteilung. Szymanowski sollte den äußeren Rahmen der byzantinischen, arabischen und griechischen Szenen festlegen, während Iwaszkiewicz die Personen zu bestimmen und die Dialoge zu schreiben hatte. Die Resultate sollten dann zusammengefügt werden. Im Oktober 1918 reiste Iwaszkiewicz nach Warschau zurück, um die Arbeit hieran fortzusetzen. Während Szymanowski in Jelisawetgrad auf das Libretto wartete, schrieb er an dem Roman »Ephebos« weiter und lernte kurze Zeit später Kochno kennen. Im Dezember 1919 ließ sich der Komponist in Warschau nieder. Die Arbeit an der Oper »König Roger«, die auf Wunsch des Komponisten neben dem byzantinischen ersten und dem griechischen dritten inzwischen auch einen arabischen mittleren Akt bekommen hatte, wurde wieder aufgenommen. Szymanowski begann im März 1920 mit der Komposition des ersten Aktes, die vorläufig glücklich verlief. Im Juni desselben Jahres vollendete Iwaszkiewicz das Libretto. In dessen Fassung folgt der berauschte Roger schließlich Dionysos und seinem bacchantischen Gefolge, während seine Frau Roxane und der arabische Gelehrte Edrisi Zurückbleiben.

Der Ortswechsel und die Umstellung erschwerten Szymanowski die Arbeit an der Oper. Hinzu kam, daß Iwaszkiewicz inzwischen nicht mehr der empfängliche Dichter war, den der Komponist in Jelisawetgrad und Odessa gekannt hatte. Er hatte sich inhaltlich von dem vermeintlichen Ästhetizismus des Komponisten distanziert. Im Oktober 1920 war Szymanowskis Kompositionsskizze bis zum Beginn des zweiten Aktes fortgeschritten, als er sich auf eine Reise nach Amerika begab. Dort änderte er ohne Rücksprache mit dem Librettisten den Schluß des dritten Aktes. Nun folgt nicht Roger, sondern Roxane dem rauschhaften Dionysos. Wie Edrisi begreift Roger im letzten Moment, daß dem geheimnisvollen Gott zu folgen keine Lebenslösung bietet. »Szymanowski änderte diesen Schluß, vielleicht verstand er eine solche endgültige Verneinung der Welt, wie ich sie darstellte, nicht«, bemerkte Iwaszkiewicz später. »Die Religion des Dionysosrausches wirkt auf Roger analog wie auf Pentheus: lediglich sinnlich, und deshalb bleibt Roger, obwohl er dem Hirten bis zur Bühne des antiken Theaters folgt, im letzten Bild des Dramas mit einem Zwiespalt in der Seele allein. (...) Das Kennenlernen der Wahrheiten des Dionysoskultes hatte Roger innerlich gewandelt.« Auf seiner Rückreise aus Amerika im Mai 1921 begegnete Szymanowski zum zweiten Mal in seinem Leben Strawinsky. Dieser spielte ihm Teile aus »Les noces« auf dem Klavier vor. Von seinem russischen Kollegen angeregt, begann Szymanowski nun, Motive der polnischen Volksmusik in seinen Kompositionen zu verarbeiten. Wieder in Polen, verfolgte er diese Spur weiter. »Vorerst habe ich, außer einigen Liedern, noch nichts komponiert; möchte mich auf die Fertigstellung meiner Oper konzentrieren, aber es geht schwer voran. Zu lange habe ich diese Arbeit unterbrochen, und sie interessiert mich schon kaum mehr«, schrieb Szymanowski kurze Zeit später. Die Vollendung des »König Roger« ließ noch bis 1924 auf sich warten.

War es nur das neue polnische Idiom, das Szymanowski so lange von der Vollendung der Oper abgehalten hat? Sein Liederzyklus »Slopiewnie« und sein »Stabat mater« scheinen dies auf den ersten Blick zu bestätigen. Die Änderung des Librettos und die Bemerkung von Iwaszkiewicz, daß er sich durch die Begegnung mit dem Dionysoskult innerlich gewandelt habe, laden allerdings auch zu einer anderen Vermutung ein. Die Verehrung des Dionysos und die Hingabe an die Ekstase bedeuteten einen notwendigen Schritt in der Entwicklung Szymanowskis, der durch seinen religiösen Hintergrund und seine Homosexualität in einem innerlichen Zwiespalt lebte. Das Programm der Oper »König Roger«, das dem Gesetz der Kirche die Freiheit der Liebe gegenüberstellt, war aus diesem Grunde für den Komponisten eine Lebensnotwendigkeit. Im ersten Akt der Oper tritt dieser Gegensatz klar hervor: Den strengen Ritualen der byzantinischen Messe mit ihren Kirchentonarten und Chorpartien wird die geheimnisvolle Welt des Hirten entgegengesetzt. Während der kirchliche Ritus hier mit dem Apollinischen und dem »nomos« verbunden wird, symbolisiert der Hirte das dionysische Prinzip und die »physis«.

Doch Iwaszkiewicz bemerkte noch etwas anderes zum Thema der Oper. Er hatte schon notiert, daß ihr Kern aus dem Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Liebe bestand und aus der These, daß nur durch die sinnliche Liebe die Geheimnisse der göttlichen Liebe erfahren und künstlerische Leistungen vollbracht werden könnten. Zwar ist es Szymanowski gelungen, solche künstlerischen Leistungen zu vollbringen, doch ist es vielsagend, daß der Komponist zum »König Roger« einmal bemerkte: »Die Problemstellung dieses Dramas ist in gewisser Hinsicht die Problemstellung meiner weiteren künstlerischen Existenz.« Hat er aber auch die Geheimnisse der göttlichen Liebe erfahren können? Oder, mit anderen Worten, hat er eine Synthese zwischen der sinnlichen und der göttlichen Liebe herstellen können? Iwaszkiewicz, der sich in den zwanziger Jahren inhaltlich von Szymanowski distanziert hat, konnte hierzu noch einen weiteren Hinweis geben: »Zweifellos besaß Szymanowski eine eigene Religion, eine Religion der Liebe. Bevor jedoch diese Religion geläutert worden war durch die vielen Reisejahre, durch unvergessene Eindrücke in Sizilien und Afrika, durch die kontemplative Betrachtung der Kunst in Italien und schließlich durch die mehrjährige Einsamkeit des Krieges und solche Früchte hervorbringen konnte wie ›König Roger‹ – dieses geheimnisvolle Mysterium der Liebe und Toleranz, wo Amor und Caritas in eins verschmelzen –, nahm sein Kult der Schönheit des Lebens beunruhigende, ja mitunter vulgäre Formen an. (...) Im Grunde genommen ist das wesentlichste Element seiner Kunst, jene ›Pression‹ (...) vor allem seine Erotik.«

Diese Äußerung verweist auf einen weiteren inneren Zwiespalt. Für Roger bedeutete die Entdeckung des Dionysischen als notwendiger Gegensatz zum Apollinischen eine erste Befreiung. Indem Szymanowski Roger dennoch Dionysos letztendlich nicht folgen ließ, wies er ferner darauf hin, daß der Mensch sich nicht allein von seinen Urtrieben leiten lassen sollte, sondern sich von diesen auch wieder zu befreien habe. Diese zweite Befreiung galt besonders der Kunst und Schönheit, seiner Arbeit und der Musik. Gleichzeitig verband der Komponist diese Befreiung mit einem metaphysischen Erlösungsideal. Bedeutete dies vielleicht die Erlösung davon, was Iwaszkiewicz »seine Erotik« nannte? Hatte sich also anstatt einer Synthese ein Gegensatz zwischen diesen beiden Arten der Liebe gebildet? Hatte die ideale Verschmelzung zwischen Alo Lowicki und Marek Korab nicht tatsächlich stattgefunden? Und inwiefern war die Liebe zwischen Alo und Korab nicht eine Projektion der Liebe Szymanowskis zu Boris Kochno?

In den letzten Jahren vor der Vollendung der Oper zog Szymanowski sich nach Zakopane im Tatragebirge zurück. Er komponierte ein »Stabat mater« und kurz darauf eine »Litanei an die Jungfrau Maria«, religiöse Werke über die Jungfrau Maria, die weibliche Ikone der absoluten Mutter und aufopfernden Liebe. Szymanowski, der übrigens zeitlebens dafür gesorgt hatte, daß das Manuskript von »Ephebos« nicht in die Hände seiner eigenen Mutter geriet, scheint sich hier zu einem ausgesprochen religiösen Komponisten entwickelt zu haben. Die Entdeckung der eigenen Religiosität führte nach einer Periode der internationalen und orientalischen Orientierung auch zu einer Rückkehr zu seinen vermeintlich polnischen musikalischen Wurzeln.

Doch war die Entdeckung der Volksmusik einer sehr isolierten südpolnischen Berggemeinschaft tatsächlich mit Szymanowskis musikalischer Identität verbunden? Falls überhaupt musikalische Wurzeln eine Rolle spielen, dann sind diese wohl eher in der Ukraine zu suchen. Seine Jugend war stark mit dem polnischen Katholizismus verbunden, doch in den Gebieten, in denen er aufgewachsen war, hatte er ebenso die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Musik kennengelernt, die eine direkte Fortsetzung des byzantinischen liturgischen Gesanges war. In gewisser Hinsicht scheint Szymanowski während der Vollendung des »König Roger« – dem Werk, in dem er mit der christlichen Orthodoxie abrechnen wollte – einen Weg zurück zu einer bestimmten Religiosität gefunden zu haben. Er hat gewissermaßen einen Kreis gebildet, sodaß die Echos der Kirchentonarten im »Stabat mater« und der »Litanei« nun nicht mehr zu überraschen brauchen.

In der Palatinischen Kapelle, an dem Ort, wo er am weitesten von seinem Ursprung entfernt zu sein schien, fand Szymanowski eine Sprache, in der er seine künstlerische und persönliche Krise beschwören konnte.

Doch in den erstarrten byzantinischen Mosaiken fand er gleichzeitig – möglicherweise unbewußt – seine ukrainische Jugend wieder, von der er sich lösen wollte. Auf seiner langen Reise auf der Suche nach tatsächlicher Einsicht in Schönheit und Kunst hat er viele Kräfte aufwenden müssen, um diesem Christentum ein Gegengewicht bieten zu können. Er hat versucht zu bewegen, was unbeweglich schien, nämlich dem Gesetz die Liebe entgegenzustellen. Doch in dem Moment, da er dies größte Wagnis vollenden sollte, überkamen ihn ernsthafte Zweifel. Eine widerspenstige Wirklichkeit schien ihn zu ruhiger Hinnahme, vielleicht sogar Resignation zu zwingen.

Die Liebe hätte ihm, in Schönheit und Kunst verwandelt, Erlösung bringen sollen. Doch diese Erlösung war nicht eingetreten, und vielleicht begriff er da, daß sein Programm einen Widerspruch barg. So sehr er sich auch von den Urtrieben distanzieren wollte, um damit ein geistig höheres Bewußtsein zu erreichen, blieb er dennoch der »anormale Jüngling, dem die Natur bei seinem Urtrieb einen Streich spielte«. Die ersehnte Erlösung mußte er an anderen Orten suchen. Szymanowski konnte den Süden nicht vergessen. Er ließ dennoch König Roger allein zurück in dem griechischen Theater des dritten Aktes: »Und aus der Tiefe der Einsamkeit, / aus dem Abgrund meiner Macht / reiße ich ein reines Herz / und bringe es als Opfer der Sonne dar!« Auch Szymanowski blieb in Einsamkeit zurück, doch fand er Trost zumindest in seiner Musik: »Komponieren ist für mich ein physiologisches, sinnliches, beinahe sexuell befriedigendes Bedürfnis.«


Willem Bruls
Deutsche Übersetzung: Uta Schützendorf