»Eine radikal individuelle Angelegenheit«

Wolfgang Rihm


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Im Grunde will sich Wolfgang Rihm nicht mehr dezidiert zu seinen Werken äußern: »Meine Kommentare zu meinen Werken sind meine Werke.« Anders verhält es sich aber mit Fragen zum Entstehen von Kunst, zu den Bedingungen von Kunst und zu Fragen der stilistischen Verortung seiner Musik.

Herr Rihm, Sie fahren weder Auto noch haben Sie Computer oder Internet, Sie schreiben Ihre Musik auf Papier. Ist das eine politische Einstellung zum Leben? Haben Sie eine politische Einstellung zur Musik wie Helmut Lachenmann (und andere Deutsche) oder Luigi Nono?

Rihm: Die Sache ist sehr einfach: Ich schreibe ­schneller mit der Hand, da ich nie Schreibmaschinenschreiben gelernt habe. Internet finde ich sehr interessant, habe aber keine Zeit, es zu nutzen. Autofahren habe ich auch nie gelernt, vermisse es auch nicht. Mit alldem verbinde ich keine politische Haltung, schon gar nicht gegenüber der Musik. Außer vielleicht dieser: Dass Kunst eine radikal individuelle Angelegenheit ist und immer die Freiheit des Menschen als Ausgangspunkt und Ziel in sich trägt.

Gelassenheit, Gewalt, Ernsthaftigkeit, Humor, Tradition, Modernität etc. So viele verschiedene Stimmungen sind in Ihrer Musik präsent. Ist das auch ein Merkmal Ihrer Persönlichkeit?

Rihm: Möglicherweise. Aber ich denke: Jeder Mensch ist »komplex« (um einmal dieses Lieblingswort unserer Zeit zu verwenden). Nur, eines ist sicher: Man kann in der Kunst nicht absichtlich vielschichtig sein wollen. Es misslingt, schon gar, wenn man es nicht selbst ist. Und ob man es ist, kann man nicht wissen. Also überlassen wir es lieber anderen, es festzustellen oder zu vermissen.

Glauben Sie, dass so eine Vielfältigkeit an Stimmungen und Stilen für die zahlreichen kritischen Stimmen während Ihrer langen Karriere verantwortlich ist? Ich meine, wenn man als Künstler nicht in eine bestimmte Schublade gesteckt werden kann, kann das bedrohlich auf viele Menschen wirken und sogar noch heftigere Kritik auslösen.

Rihm: Kritik, also das Unterscheiden, ist eine Kunst. Macht also – wie Karl Valentin lehrt – »viel Arbeit«. Ich habe bislang aus allem Kritischen, was zu meiner Arbeit angemerkt wurde, etwas lernen können; habe auch Ungerechtes und Falsches so lange in mir bewegt, bis in mir eine Gegenkraft entstanden ist, die mich gestärkt hat. Wenn Sie so wollen: eine glückliche Veranlagung. Das schließt nicht aus, dass mich – besonders in meiner Anfangsphase – die wütenden Attacken oft ratlos machten und mich in depressive Felder abdriften ließen. Aber ich wusste, dass ich die Kraft habe, durchzuhalten. Vor allem wurde ich immer wieder durch den Zuspruch von wahrhaft bedeutenden Künstlern gestärkt und ermutigt, den eigenen Weg zu gehen. Die Tageskritik setzt naturgemäß andere Prioritäten.

 

© Rolf Haid/dpa/picturedesk.com
Wolfgang Rihm bei einer Probe zur Uraufführung von »Séraphin-Symphonie« bei den Donaueschinger Musiktagen 2011

Eine dieser Kritiken beschreibt Ihre Musik als zu ausdrucksvoll, um deutsch zu sein. Befindet sich Ihre Musik sozusagen im Niemandsland? Wenn ja, hat diese Tatsache etwas mit Ihrem Konzept der Kunst als »Ortlosigkeit« zu tun?

Rihm: Ortlosigkeit ist die sokratische Position. Selbstverständlich kann man auch sie nicht absichtlich anstreben. Ich habe einmal Musik als unser »inneres Ausland« bezeichnet. Aus der Erfahrung heraus, dass wir – je mehr wir Musik mit Worten und Begriffen lokalisieren wollen – bemerken müssen, dass Musik sich jedem sprachlichen Zugriff entzieht. Exakt dieses Phänomen aber bedarf der immer wieder erneut versuchten sprachlichen Präzisierung. Musik »verstehen« heißt eigentlich: akzeptieren, dass sie unverständlich bleibt – als Phänomen des menschlichen Geistes, das vom mensch­lichen Geist, der es hervor­brachte, nicht mehr vollständig eingeholt werden kann. Dabei spielt die immer nur partielle Anwesenheit der Musik in der Zeit sicher eine entscheidende Rolle. In Deutschland ebenso wie in Finnland – glaube ich.

Nicht nur Kritiker, sondern auch Ihre Musikerkollegen haben Ihre Musik am Anfang Ihrer Karriere stürmisch kritisiert. Können Sie beschreiben, was passiert ist und es wie Ihnen damals ging?

Rihm: Ach, das klingt so, als sollte ich auf einem Veteranen­treffen von besonders spannenden Scharmützeln berichten. Ich glaube, vor nun bald 40 Jahren waren viele einfach sauer, dass ich die Musik geschrieben habe, die sie – wie sie meinten – gerne selbst geschrieben hätten, es aber nicht durften, weil es in Darmstadt verboten worden sei usw. Ich war selbst seit 1970 in Darmstadt. Da war überhaupt nichts verboten. Es herrschte nur eine enorme Freiwillig­keit der Unterordnung, die mich überraschte. Wenn Stockhausen sich räusperte, räusperten sich alle. Und so ist es geblieben – die Namen derer, die sich räusperten und denen nachgeräuspert wird, lassen sich in der Folgezeit leicht ergänzen. Und mit diesen hatte ich eigentlich stets den produktivsten Kontakt. Aber die Nach-Räusperer – sie sind unerbittlich in ihrem Selbsthass, den sie nach außen projizieren.

Stockhausen schrieb mir damals: »… folgen Sie ganz Ihrer inneren Stimme.« Er gehörte in dieser frühen Phase zu denen, die mich immer wieder ermutigten. Wobei er keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht unbedingt von allen meinen Taten begeistert war. In Kürten hatte ich gelegentlich das Gefühl, mich in den Job des »Verlorenen Sohnes« einarbeiten zu sollen. Natürlich hat er bemerkt, dass ich nicht den Sirius im Blick habe, aber dass seine – Stockhausens – künstlerische Kraft mich für mein Leben formen würde, das war klar.

»Genuss? Ja, Genuss – mir schwebt eine ganzheitliche Erlebnisform vor, bei der nicht ein spezifisches menschliches Vermögen, z. B. das Denken, zu ›Gunsten‹ eines anderen – etwa des Fühlens, verkleinert werden muss.«

Wolfgang Rihm

In diesen Jahren hat sich Ihre Musik dem musikalischen Establishment widersetzt. Jetzt sind Sie selbst Teil des Establishments. Jüngere Komponisten lehnen sich nicht gegen Sie auf, sondern tun einfach, was ihnen beliebt. Sie dienen ihnen sogar als Vorbild, wenn wir die neue Welle der Expressivität in Betracht ziehen.

Rihm: Künstlerisch das zu tun, was man wirklich tun möchte, sollte doch eigentlich die Voraus­setzung für künstlerisches Handeln sein. Jeder muss sich aus seiner Zeit heraus schälen, nicht nur, um wahrgenommen zu werden. In früheren Zeiten hat man, um sich selbst zu begründen, gerne mit der historischen Notwendigkeit argumentiert, der man zu entsprechen habe und die durch die eigenen Werke überhaupt erst realisiert würde. Heute kann man das gelassener sehen. Geschichte realisiert sich sowieso. Selbst ein »Ende der Geschichte« kann sie nicht wirklich aufhalten. Wir können uns also in den Künsten getrost den Qualitäten der geschaffenen und zu schaffenden Werke zuwenden. Denn diese allein sind entscheidend, ob eine künstlerische Arbeit über den Tag hinaus etwas gelten kann. Die Komponisten fuchteln heute weniger mit Haltungen, als dass sie versuchen, qualität­volle Kompositionen zu schaffen. Das klingt einfacher, als es ist, denn Qualität zeigt sich in der Kunst nicht daran, dass einer alles »richtig« macht. Eher dadurch, dass etwas entsteht, das nicht bruchlos einzuordnen ist. Und wenn nun einer versucht, etwas zu schaffen, »das man nicht einordnen kann«, dann hat er schon verloren. Eine schöne Ungerechtigkeit herrscht da – aber die wirkliche Begabung wird sich, wie zu allen Zeiten, durchsetzen.

Sie werden oft als postmodern beschrieben. Können Sie sich mit diesem Begriff identifizieren? Können Sie sich generell mit Begriffen identifizieren? Sie sprechen oft über Ihre eigene Musik, also müssen Sie doch fast Begriffe (Labels) verwenden, um Ihre Musik zu beschreiben. 

Rihm: Die Verwendung des Begriffs »Postmoderne« geschieht ja nie wertfrei. Einmal soll der Begriff loben, ein andermal schmähen – man muss also wissen, wer ihn verwendet. Im Übrigen ist es mir gleich, mit welchen Begriffen man versucht, meine Arbeit zu bezeichnen. Es sollen sich nur die Begriffe, die »Labels«, nicht vor die Sache drängen. Leider tun sie das meistens, denn sie sollen ja offenbar entlasten. Entlasten von der Erfahrung des Kunstwerks selbst. Denn diese Erfahrung fordert Energie und – Begabung. Wenn ich mich selber zu meiner Arbeit äußere, geschieht dies fast nie freiwillig. Eher aus Schwäche, weil ich nicht nein sagen kann, wenn ich freundlich um Auskunft gebeten werde. Dementsprechend nichtssagend – im Verhältnis zu den Werken, in die ich all mein Können und meine Liebe lege – fallen solche Äußerungen dann auch aus. Ich bin nie zufrieden damit. Schon gar nicht, wenn ich nach 25 Jahren auf etwas angesprochen werde, was ich »damals« zu einem Werk geäußert habe. Hättest du geschwiegen! Aber das würde ja auch nichts nützen, denn das Schweigen gilt gemeinhin als hoch interessante Aussage. Im Allgemeinen gilt: Meine Werke sind die besten Kommentare zu meinen Werken.

»Offene Enden« ist der Titel des Buchs, das Sie vor einigen Jahren veröffentlicht haben, in dem Sie Ihre Gedanken über die zeitgenössische Musik wiedergeben. Ist es heutzutage notwendig, dass der Komponist/die Komponistin über seine/ihre Werke schreibt? Sie schrieben in diesem Buch über die »musikalische Freiheit« in Zusammenhang mit Komponisten wie Busoni oder Varèse. Was bedeutet diese musikalische Freiheit für Sie heute?

Rihm: Selbstverständlich ist es überhaupt nicht nötig, dass ein Komponist oder eine Komponistin heute über seine/ihre Werke Texte schreibt. Man kann getrost darauf verzichten. Ich habe nicht darauf verzichtet: einmal aus Schwäche (ich erwähnte es bereits), dann aber auch aus einer gewissen Stärke, denn ich vermochte neben den Werken einen Textkörper zu schaffen, der sein Eigenleben beginnen konnte. Ob mir das gefiel oder nicht. Es ist eine andere Spur meiner schöpferischen Energie. Aber niemand muss sie wahrnehmen, schon gar nicht als Ersatz für die Beschäftigung mit der Hauptspur: meinen Kompositionen. Ich glaube, das wissen aber die meisten: Man muss sich nicht durch selbstverfasstes Theorie-Futter fressen, um in den Genuss meiner Musik zu gelangen. Genuss? Ja, Genuss – mir schwebt da eine ganzheitliche Erlebnisform vor, bei der nicht ein spezifisches menschliches Vermögen, z. B. das Denken, zu »Gunsten« eines anderen – etwa des Fühlens – verkleinert werden muss. Nur darin kann Freiheit liegen. »Musikalische Freiheit« ist in diesem Sinne gemeint: Unabhängigkeit von Systemen und Schulbildungen, Primat der Anschauung – im Falle der Musik: der akustischen Erfahrung. Aber das muss heute nicht eigens mehr gefordert werden. Vor 35 Jahren war das anders.

»Zyklen bilden sich. Ich plane sie nicht. Plötzlich sind sie geschlossen.«

Wolfgang Rihm

Welche Verbindung gibt es zwischen Ihren und Nonos musikalischen Gedanken? Welchen Einfluss haben Huber und Stockhausen in Ihrer Musik und Ästhetik?

Rihm: Wie lernt man von einem Meister? Wohl stets in einer Doppel-Bewegung: Wir nehmen etwas auf, gleichzeitig üben wir schöpferische Kritik. So geschieht ja auch das Lernen an historischer Musik. Der Ein- und Umschmelz­vorgang in etwas Eigenes vollzieht sich über diese Stufen. Konkret: Von Nono lernte ich die radikale Vereinfachung der Ereignisse bei gleichzeitig gesteigerter Differenzierung ihrer akustischen Erscheinung. Der ­kritische Impuls bezog sich auf die quasi stehende rhythmische Deklamation, diese stellte ich mir beweglicher vor, wodurch der melodische Strom stärker ins Fließen kommen kann.

Von Stockhausen lernte ich, eines aus dem anderen zu entwickeln. Die Kritik dabei: dieses Entwickeln nicht zu systematisieren, da der natürlichen, organischen ­Bewegung sonst ein holzschnitthafter Zug eingeschrieben bleibt. Bei Klaus Huber spielte die Vielschichtigkeit der geschichtlichen Implikationen des Materials im Unterricht eine große Rolle. Diese Brechungen wollte ich im Klangsatz aufscheinen lassen, aber nur so weit sich das von selbst ergibt, Vollständigkeit überfrachtet das Ereignis gelegentlich und lässt es an den Rändern ausfransen. Diffuse Zonen können in flüsternde Grauwerte um­schlagen. Sie sehen: Es geht eigentlich nie um vordergründig »neues« oder »altes« Material, sondern eher um Verfahrensweisen.

Sie sind ein überaus produktiver Komponist. Erwartet ein erfolgreicher, zeitgenössischer Komponist wie Sie, dass seine Werke Meisterstücke der Musikgeschichte werden? Glauben Sie, dass diese Bewertung noch funktioniert? Hat zeitgenössische Musik ihr eigenes Bewertungssystem? Sie haben auch mehrere Zyklen geschrieben. Warum interessiert Sie diese Art des Musikschreibens?

Rihm: Zyklen bilden sich. Ich plane sie nicht. Plötzlich sind sie geschlossen. Manchmal verschmelzen sie miteinander, die Stücke überlagern sich, ein einziger Ereignis-Strom hat sich gebildet. Manchmal bewahren sie die Lücken, die Abstände von Zustand zu Zustand. Übermalungen, Überschreibungen. Das mit dem Kanon können wir getrost vergessen. Wer einen braucht, wird einen bekommen.
Es ist nichts Schlechtes und nichts Gutes dran.

Interview: María Santacecilia