Erhabenheit auf Amerikanisch

Alex Ross


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© Barbara Monk-Feldman

Morton Feldman war ein großer, unwirscher jüdischer Typ aus dem Stadtteil Woodside in Queens/New York, Sohn eines Herstellers von Kinderbekleidung. Bis zum Alter von 44 Jahren arbeitete er im Familienbetrieb, später erhielt er einen Lehrstuhl für Komposition an der State University of New York in Buffalo. Er verstarb 1987 im Alter von 61 Jahren. Zur Überraschung fast aller erwies er sich als einer der herausragenden Komponisten des 20. Jahrhunderts – ein souveräner Künstler, der unermessliche, stille, schmerzlich schöne Klangwelten zu erschließen imstande war. Er war zudem einer der größten Redekünstler in der jüngeren Stadtgeschichte New Yorks, und nichts eignet sich eingangs besser, als ihn für sich selbst sprechen zu lassen:

»In der zurückliegenden Zeit meines Lebens schien es unbegrenzte Möglichkeiten zu geben, aber mein Bewusstsein war verschlossen. Jetzt, nach vielen Jahren, mit offenem Bewusstsein interessieren mich Möglichkeiten nicht mehr. Ich scheine mich damit zu begnügen, im selben Zimmer dieselben Möbel immer wieder neu zu arrangieren. Manchmal beschäftige ich mich mit nicht mehr als damit, wechselnde Bedingungen der Praktikabilität herzurichten, die es mir möglich machen zu arbeiten. Jahrelang habe ich erklärt, wenn ich nur einen bequemen Stuhl finden könnte, würde ich es mit Mozart aufnehmen.«

»Mein Lehrer Stefan Wolpe war Marxist, und er hatte das Gefühl, meine Musik sei zu esoterisch. Damals. Und er hatte sein Studio sozusagen in einer proletarischen Straße, an der 14th Street und der 6th Avenue. […] Es war im 2. Stockwerk, und wir schauten aus dem Fenster und er sagte: ›Und was sagt der Mann auf der Straße dazu?‹ In dem Augenblick ... da ging unten gerade Jackson Pollock; der verrückte Künstler meiner Generation lief unten gerade über die Straße.«

»Wenn ein Mann an einer Universität Komposition lehrt, wie kann er dann kein Komponist sein? Er hat schwer gearbeitet, er hat sein Handwerk gelernt. Ergo, er ist ein Komponist. Ein Profi. Wie ein Doktor. Aber da gibt es jenen Doktor, der einen aufschneidet, alles genau richtig macht, einen wieder zunäht – und man stirbt. Sein Fehler bestand darin, dass er das Risiko nicht einging, das einen hätte retten können. Kunst ist eine entscheidende, gefährliche Operation, die wir an uns selbst ausführen. Wenn wir kein Risiko eingehen, sterben wir in der Kunst.«

»Polyphonie kotzt mich an.«

»Weil ich Jude bin, identifiziere ich mich nicht, sagen wir, mit der Musik der westlichen Zivilisation. In anderen Worten: Wenn Bach uns eine verminderte Quarte vorgibt, gibt es in mir kein Verständnis dafür, dass diese verminderte Quarte ›o Gott‹ bedeutet. […] Was sind unsere Moral­begriffe in der Musik? Sie sind begründet in der deutschen Musik des 19. Jahrhunderts, nicht wahr? Darüber denke ich nach, und außerdem beschäftigt mich der Gedanke, dass ich der erste große jüdische Komponist sein möchte.«

Diese Zitate sind in drei Sammlungen der Schriften, Vorträge und Interviews von Feldman veröffentlicht: ­Morton Feldman: Essays (1985)2, Give My Regards to Eighth Street (2000) sowie in der Anthologie Morton Feldman Says, herausgegeben von Chris Villars (2006). Die Publika­tionen bezeugen den ebenso reichen, dichten, auf das Ich bezogenen, spielerischen, präzisen wie poetischen und vieldeutig zitierbaren Umgang des Komponisten mit der Sprache. So mancher Werktitel ist auf seine eigene Weise musikalisch: The Viola in My Life, Madame Press Died Last Week at Ninety, Routine Investigations, Coptic Light, The King of Denmark, I Met Heine on the Rue Fürstenberg. Als Meister des Monologes hatte Feldman eine geradezu unheimliche Fähigkeit jede noch so illustre Gesellschaft zu dominieren. Mit einer Körpergröße von über eins achtzig und einem Gewicht von annähernd hundertfünfzig Kilo war er denn auch kaum zu übersehen. Er nahm an Treffen des Künstlerclubs an der 8th Street teil, Hauptsitz der Abstrakten Expressionisten, zeigte bei Zusammenkünften der New Yorker Schule von Dichtern, Tänzern und Malern seine auf anwesende Damen gerichtete Aufmerksamkeit und fiel dabei mitunter ebenso großzügig wie ungebeten auf; andere Komponisten amüsierte und brüskierte er gleichermaßen. John Adams erzählte mir vom Besuch eines Festivals für Neue Musik in Valencia/Kalifornien, wo er in einem schäbigen Motel mit dem Namen Ranch House Inn abgestiegen war. Beim Frühstück traf Adams auf einige führende Persönlichkeiten der Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts, darunter Steve Reich, Iannis Xenakis und Milton Babbitt, die mit Feldman zusammensaßen, der die ganze Zeit über nicht aufhörte zu reden. Adams nannte ihn einen »liebenswerten Solipsisten«.

Mehr als 100 CD-Einspielungen
Zu den immer wieder erstaunlichen Paradoxien zählt, dass dieser ungeheuer wortreiche Mann Musik schrieb, die sich selten über ein Flüstern erhob. Im lautesten Jahrhundert der Geschichte schlug Feldman sich auf die Seite der eisigen Langsamkeit und schneeweichen Zartheit. Akkorde tauchen einer nach dem anderen auf, in scheinbar willkürlicher Folge, durchsetzt von Momenten der Stille. Harmonien schweben in einem Niemandsland zwischen Konsonanz und Dissonanz, zwischen Paradies und Vergessenheit. Rhythmen sind unregelmäßig und überschneiden sich, so dass die Musik über den Taktschlägen dahintreibt. Einfache Figuren wiederholen sich über lange Strecken – und entschwinden. Es gibt keine Exposition oder Durchführung von Themen, keine klar umrissene formale Struktur. Manche der späteren Werke werden über außerordentlich weitläufige Zeitspannen entwickelt und gehen an die Grenzen der Kapazitäten von Interpreten, sie zu spielen, sowie an jene des Publikums, ihnen zu folgen. Mehr als ein Dutzend seiner Werke haben eine Aufführungsdauer zwischen einer und zwei Stunden, For Philip Guston und String Quartet (II) gehen noch weit darüber hinaus. In seiner gleichsam rituellen Ruhe überschreitet dieser Schaffenskomplex die Syntax westlicher Musik, und es ist an den Interpreten, diesem über ihren Erfahrungshorizont hinaus gerecht zu werden. Einer Legende zufolge schrie Feldman einem Ensemble, das sich zuvor so sacht wie nur möglich durch eine seiner Partituren geschlichen hatte, entgegen: »Verdammt zu laut und verdammt zu schnell.«

Eine Zeit lang wurde Feldman lediglich als einer der vielen experimentellen Komponisten im Umfeld von John Cage verortet. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich dieses Bild wie auch seine Reputation allmählich gewandelt, indes seine Werke in amerikanischen Konzert­programmen noch immer Raritäten darstellen. Es gibt mittlerweile mehr als hundert CD-Einspielungen seiner Werke, die meisten davon sind bei so unerschrockenen kleinen Labels wie Hat Art, New Albion, CRI und CPO erschienen sowie bei den unverzichtbaren Mode Records, die parallel Ausgaben von Feldman und Cage herausgeben. Laut Chris Villars akribischer Onlinediskographie sind mit Ausnahme weniger von Feldmans insgesamt 140 veröffentlichten Werken alle auf CD erschienen, einige davon wurden sogar mehrfach aufgenommen; allein zehn Pianisten haben sich in den Dienst der 90-minütigen Triadic Memories gestellt. Seine Musik hat ihre Zuhörerschaft nicht nur unter den Kennern Neuer Musik, sondern auch unter den experimentierfreudigen Liebhabern von Rock und Pop gefunden, die unmittelbar auf deren unheimliche Kraft ansprechen. In einem 1982 gehaltenen und in Morton Feldman Says veröffentlichten Vortrag stellte der Komponist die Frage: »Haben wir irgendetwas in der Musik, das alles Bisherige wegzufegen imstande wäre? Das einfach alles reinigte?« Wenn schon nicht eher, so haben wir es jetzt.

Feldman hat seine Zuhörerschaft nicht nur unter den Kennern Neuer Musik.

 

Lange Gespräche mit Varèse
Feldman, dessen Eltern von Kiew nach Amerika gekommen waren, wuchs im kosmopolitischen New York der 1930er- und 40er-Jahre auf, als Bürgermeister Fiorello LaGuardia Hochkultur für die Arbeiterklasse propagierte und aus Europa emigrierte Künstler die Straßen bevölkerten. Er erhielt Klavierunterricht bei Vera Maurina Press, einer legendären Pädagogin, einstigen Schülerin von Ferruccio Busoni und Personifikation von Feldmans Madame Press Died Last Week at Ninety. Sein erster Kompositionslehrer war Wallingford Riegger, einer der frühesten amerikanischen Anhänger von Arnold Schönberg. Er setzte dann seine Studien bei Stefan Wolpe fort, der sich nur wenige Jahre zuvor gegen die Nazis in Berlin stark gemacht hatte. Der junge Morty führte zudem viele lange Gespräche mit dem ausgewanderten Ultramodernen Edgard Varèse, der ihm dazu riet, sich beim Schreiben immer vorzustellen, wie lange jeder Klang bis an das Ende des Konzertsaals benötige. Feldmans frühe Arbeiten, welche nunmehr auf den bei Mode und OgreOgress erschienenen Aufnahmen nachzuhören sind, verdanken Schönberg und Bartók noch einiges, indes schon bald eine ungewöhnliche Entwicklung zu beobachten ist; Varèses Rat folgend setzt Feldman einen Basisakkord frei, um diesen im Kopf des Hörers nachhallen zu lassen.

Der ausschlaggebende Moment in Feldmans Entwicklung folgte 1950, als er mit der Welt von John Cage in Berührung kam. Das seltsame Paar der musikalischen Avantgarde – der schwule, hagere, angelsächsische Kalifornier und der heterosexuelle, vierschrötige, russisch-jüdische New Yorker – trafen sich eines Abends in der Carnegie Hall bei einem Konzert mit Anton Weberns zwölftöniger Symphonie unter Dimitri Mitropoulos. Beide verließen frühzeitig den Saal, weil sie auf keinen Fall die folgenden Symphonischen Tänze von Rachmaninow hören wollten, deren Romantik den Zauber der Moderne zerstört hätte. Als sie sich über den Weg liefen, stellte Feldman die Frage: »War das nicht schön?« Damit wurde eine Freundschaft geboren. Feldman besuchte Cage in dessen Mietwohnung an der Ecke Monroe und Grand Street, heute das Viertel der East River Houses. Den Jungen aus Queens erstaunte zunächst Cages nüchterne, unkonventionelle Einrichtung: die Lippold Mobiles, die Strohmatte auf dem blanken Boden, der Zeichentisch mit Leuchtstofflampe und Tuschefüller. Bald zog er einen Stock tiefer ein. Tagsüber arbeitete er in der Bekleidungsfirma seines Vaters und in der chemischen Reinigung seines Onkels. An seinen freien Abenden bewegte er sich in Cages bemerkenswertem Netzwerk künstlerisch Gleichgesinnter, zwischen den Malern und Dichtern, den Künstlern ohne Portfolio. Vor allem zu Malern fühlte sich Feldman hingezogen, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Pollock bat ihn um eine Musik für die berühmte Hans-Namuth-Dokumentation über seine getropfte Malerei, das so genannte Drip painting. Philip Guston verewigte Feldman in einem Portrait, das diesen mit Zigarette im Mundwinkel darstellt. »Das Großartige an den Fünfzigern war«, resümierte Feldman später, »dass für einen kurzen Moment – sagen wir, vielleicht für sechs Wochen – niemand die Kunst verstand.«

Der Ansatz lag einfach in der Befreiung der Musik aus der Maschinerie des Prozessualen.

 

Gewöhnliches Instrumentarium
Cage hat die Musik 1950 umgekrempelt. Er verwendete in seinen Werken objets trouvés, gefundene Gegenstände, in perkussiver Weise, »präparierte« Klaviere, Plattenspieler und andere Gerätschaften. Bald folgten Tonband- und Radiocollagen, auf Zufallsoperationen beruhende Kompositionen, multimediale Happenings und schließlich 4’33”, das legendäre stumme Stück. Es waren jedoch nicht die Neuerungen des John Cage, die Feldman beeinflussten; solche Gerätschaften langweilten ihn. Er komponierte beinahe ausschließlich für gewöhnliches Instrumentarium, das mehr oder weniger gewöhnlich zu spielen war. Was Feldman wirklich beeindruckte, war das unerschütterlich Unkonventionelle des Cage‘schen Geistes. Es hinderte ihn nun nichts mehr daran, alle überkommenen Gewohn­heiten über Bord zu werfen – um er selbst zu werden. »Ich verdanke ihm alles und ich verdanke ihm nichts«, bekannte Feldman. In späteren Jahren hatten die beiden einige heftige Differenzen; Cage etwa sprach über die seiner Ansicht nach problematische Sinnlichkeit bei Feldman. Bei anderer Gelegenheit erklärte er, Feldmans Musik stünde jenem näher, »was wir als schön erkennen«, wohingegen er seine eigene näher jenem einordnete, »was wir als hässlich erkennen«. Die beiden konnten sich darüber ihre geschwisterliche Verbindung bewahren.

Nicht lange nach der Begegnung mit Cage öffnete Feldman in der Komposition seine eigene Büchse der Pandora in Form einer »grafischen Notation«, in der die herkömmliche Fixierung von Zeichen auf Notensystemen aufgegeben wurde. Eines Tages präsentierte er bei Cage in dessen Wohnung das erste aus einer Reihe von ­Stücken mit dem Titel Projections, deren Partitur aus einem Gitternetz von Kästchen bestand. Der Interpret wurde darin aufgefordert, Noten aus verschiedenen Kästchen zu wählen, die den hohen, mittleren und tiefen Tonbereich bezeichneten. Eine ab 1957 erscheinende Werkreihe legte zwar Tonhöhen fest, überließ dem Interpreten jedoch die Entscheidung, wann und wie lange die Töne zu spielen seien. Diese konzeptionellen Ansätze fanden – wie auch Feldmans Angewohnheit der Verwendung nummerierter abstrakter Titel – bei der internationalen Avantgarde rasch Verbreitung. Bald darauf füllten Komponisten ihre Partituren mit Mustern, Bildern und verbalen Anweisungen bis hin zum logischen Extrem von Cages Theatre Piece (1960), in dem ein toter Fisch auf die Klaviersaiten geklatscht wurde. Feldman hatte indes keine Affinität zu Anarchie. Sobald er merkte, dass seine Notation zu einer Zirkusaktion verleiten könnte – als Leonard Bernstein seine Musik 1964 mit den New Yorker Philharmonikern aufführte, fiel das Orchester in das Pfeifkonzert des Publi­kums gegen ihn ein – ging er in eine andere Richtung. Der Ansatz lag einfach in der Befreiung der Musik aus der Maschinerie des Prozessualen. Aus dem richtigen Geist heraus aufgeführt, klingen die grafischen Werke wie das Gemurmel einer Menschenmenge in einem Tempel.

Daneben fand auch die konventionelle Notation weiter Verwendung. In Stücken wie Intermissions und Extensions legte er die Grundlagen seiner Ästhetik, die er einmal als vibrierenden Stillstand bezeichnete. Nicht wenig verdankte sein Klang den atonalen Altmeistern, dem Wiener Triumvirat Schönberg, Berg und Webern, insbesondere deren träumerischeren, unheimlicheren Stimmungen; Feldmans Musik ist kaum zu denken ohne Präzedenz des Satzes Farben aus Schönbergs Fünf Orchesterstücken mit seinen rotierenden Transpositionen eines einzigen gedämpften Akkordes oder den Trauermarsch aus Weberns Sechs Stücken für Orchester mit seinen verschwommenen Bläserschichten über Trommelwirbeln. Feldman tat nichts mehr, als die Ereignisdichte in Schönbergs Universum zu entschleunigen. Schönberg war, zu allem anderen, ein rast­loser Mensch, den es immer rasch zur nächsten Neuerung im Klanglichen hindrängte. Feldman hingegen übte sich in Geduld. Er ließ jeden Akkord aussprechen, was dieser zu sagen hatte. Er holte Atem. Erst dann schritt er weiter fort. Seine Texturen sind von kühner Kargheit. Eine Seite von Extensions 3 enthält lediglich 57 Noten in 40 Takten oder weniger als zwei pro Takt. In der Beschränkung auf ein Minimum des Materials wurde die Ausdruckskraft des die Töne umschließenden Raumes betont. Klänge beleben die umgebende Stille.

Klang und Nachhall
Entscheidend war schließlich der Einfluss der Malerei. Feldmans Partituren atmen den gleichen Geist wie Rauschenbergs durchgängig weiße oder schwarze Leinwände, Barnett Newmans schimmernde Linien und vor allem Rothkos leuchtende Nebelbänke aus Farben. Seine Angewohnheit, dieselbe Figur in Folge immer wieder zu bringen, lädt zu einem der Bildbetrachtung vergleichbaren Musikhören ein; man kann den Klang aus verschiedenen Winkeln betrachten, davon zurücktreten oder nahe herankommen, weggehen und für eine weitere Anschauung wiederkehren. Feldman bekannte, die New Yorker Schule des Malens habe ihn zum Versuch einer Musik geführt, die »direkter, unmittelbarer, körperlicher« sei »als alles, was bis dahin existierte«. Wie die Abstrakten Expressionisten Betrachter dazu bringen wollten, auf Malerei selbst zu fokussieren, auf deren Texturen und Pigment, wollte Feldman, dass Hörer grundlegende Verhältnisse von Klang und Nachhall in sich aufnehmen. Zu einer Zeit, als Komponisten wie wild neue Systeme und Sprachen ausloteten, verließ sich Feldman auf seine Intuition. Er hatte ein unglaubliches Gehör für Harmonien, für mehrdeutige Tonkombinationen, die den Verstand mit nie einzulösenden Erwartungen reizen. Wilfrid Mellers hat in seinem Buch Music in a New Found Land Feldmans frühen Stil treffend subsumiert: »Musik scheint bis fast zur Auslöschung verschwunden zu sein; doch das wenige Bleibende ist, wie alle Werke Feldmans, von exquisiter Musikalität; auf jeden Fall repräsentiert es die amerikanische Faszination für Leere, die von jeder Angst befreit ist.« In anderen Worten, wir bewegen uns auf dem Terrain von Wallace Stevens’ Gedicht American Sublime/Erhabenheit auf Amerikanisch: »Der leere Geist/Im vakanten Raum«3.

Er hatte ein unglaubliches Gehör für Harmonien.

 

Hinterfragte Erwartungen
Mit seiner Ganztagsstellung im Bekleidungsgeschäft bewahrte sich Feldman stolz seine Unabhängigkeit von den so genannten Professionellen. Er verspottete Komponisten an Universitäten, die ihr Werk auf die Musikanalytiker ihres Kollegs hin maßschneiderten, tonale Komponisten, die sich den Neigungen des Orchester­publi­kums anbiederten, notorische Neuerer, die bei staatlich geförderten europäischen Festivals jeden Sommer brandneue Ismen enthüllten. »Vergesst die Neuerungen«, schnauzte er, »es ist ein langweiliges Jahrhundert.« 1972 erhielt er seinen Posten an der SUNY Buffalo, beharrte jedoch weiter auf seinem Standpunkt, dass Komposition eigentlich nicht unterrichtet werden könne und auch nicht professionalisiert werden solle. Er liebte es, die Erwartungen der Studenten zu hinterfragen, welche Ideen gerade im Umlauf waren, welche Komponisten radikal und welche konservativ seien. Er tat seine Liebe zu Sibelius kund, der in progressiven Kreisen lange Zeit als rückschrittlicher Romantiker verlacht wurde.

Feldmans Werke der 1970er-Jahre waren gemäßigter als jene der 1950er und 60er. Er suchte nach wärmeren, einfacheren Akkorden, berückenden Melodiefragmenten. Die Musik dieser Periode – der Zyklus für Bratsche und Ensemble The Viola in My Life, eine Reihe von konzertanten Stücken für Cello, Klavier, Oboe und Flöte, das Chormeisterwerk Rothko Chapel – bietet einen guten Einstieg in eine zuweilen sperrige Klangwelt. (Rothko Chapel ist in einer tadellosen Aufnahme bei New Albion erschienen, The Viola in My Life bei ECM). 1977 wagte sich Feldman an eine einstündige Oper mit dem Titel Neither, die es nie bis an die Metropolitan Opera schaffen sollte. Das Libretto geht auf Samuel Beckett, der Feldman als Geistesverwandten betrachtete, zurück und beruht auf einem lediglich aus 87 Worten bestehenden Gedicht, das keinen szenischen Hintergrund, keine Figuren, keinen Plot hat, aber immer noch die schwache Versicherung eines »unaussprechbaren Heims«.

Ausweitung des Umfangs
In seinen letzten Jahren, zwischen 1979 und 1987, brach Feldman erneut mit dem Mainstream. Er führte Kompositionen mit langen Aufführungsdauern von teils weit mehr als einer Stunde ein. Selbst seine treuesten Anhänger mögen zugeben, dass hier ein Moment von außer Kontrolle geratenem Größenwahn in Bezug auf die Anforderungen geradezu Wagner‘schen Ausmaßes an die Zuhörerzeit erreicht war. Feldman bastelte mit einiger Überlegung an seiner Unsterblichkeit – jener Mann, der »der erste große jüdische Komponist« sein und hierin Mendelssohn, Mahler und Schönberg ausstechen wollte – und diese Werkgruppe betrachtete er offensichtlich als seine Tour de Force, seinen Home Run4. (»Ich stehe auf der dritten Base«, rühmte er sich 1982.) Es gab jedoch auch eine praktische Notwendigkeit für eine drastische Ausweitung des Umfanges. Diese ermöglichte die Wahrnehmbarkeit seiner leisen Stimme in der totalen Abgeschlossenheit, derer sie bedarf. Feldmans kürzere Werke haben zuweilen eine ungünstige Wirkung auf Standardkonzertprogrammen, vor allem mit den Nebengeräuschen des hustenden und sich räuspernden Publikums; sie eignen sich schlecht in einem artfremden Umfeld. Die langen Werke bilden einen umfassenden Schutzraum um eine verletzliche Ansammlung von Klängen. Der Komponist Kyle Gann beschreibt in seinem brillanten Buch Music Downtown (University of California Press), dass man mit Feldmans Musik zu leben lernt wie mit einem Gemälde an der Wand.

Extreme Länge erlaubte Feldman, seinem endgültigen Ziel näherzukommen, Musik in eine Erfahrung von das Leben verändernder Kraft zu überführen, eine alles andere überkommende, transzendente Kunstform. Aufführungen der beiden längsten Werke zu erleben – ich habe 1995 Petr Kotiks S.E.M. Ensemble im fünfstündigen For Philip Guston mit einer phänomenalen Klarheit des Tons gehört, 1999 dann das Flux Quartet im sechsstündigen String Quartet (II) mit unermüdlicher Fokussierung – ­bedeutet, in eine neue Form des Hörens, ja sogar eine neue Bewusstseinsstufe vorzudringen. Beide Stücke enthalten Passagen, in denen Feldman die Geduld seiner Hörer auf eine harte Probe zu stellen scheint, um herauszufinden, wie lange sich ein wiederholter Ton oder eine dissonante kleine Sekunde wohl aushalten läßt. Wie aus dem Nichts materialisiert sich sodann ein äußerst reiner, fast kindlich anmutender musikalischer Gedanke. Beinahe der ganze Schlussteil von For Philip Guston bewegt sich in a-Moll, es ist eine Musik von überwältigender Sanftheit und Zartheit. Aber sie bewohnt einen fernen, geheimen Ort, auf den zu stoßen nur wenige Reisende vorgesehen sind.

In seinen letzten Jahren wurde Feldman unerwartet wohlhabend. Von seiner Familie erbte er einiges an Geld und kam zudem in den Genuss wachsender Tantiemen, vor allem aus Europa, wo seine Musik schon seit ­jeher besser aufgenommen wurde. Bezeichnenderweise machte er ein kleines Vermögen durch den Verkauf von Kunst. In den 1950er-Jahren hatte er ein Gemälde von Rauschenberg für nur 17 Dollar erstanden, weil er zu jener Zeit nicht mehr in der Tasche hatte. Kurz vor seinem Tod verkaufte er es für 600.000 $. Er wurde Sammler antiker Orientteppiche, deren subtil variierte Muster seinen Spätstil beeinflussten. Geizig und freigiebig zugleich, machte er es sich zur Gewohnheit, junge bedürftige Komponisten zum Essen einzuladen. Seine späten Werke strahlen eine gewaltige, unheilvolle Ruhe aus: Piano and String Quartet (von Aki Takahashi zusammen mit dem Kronos Quartet wunderschön für Nonesuch aufgenommen), Palais de Mari für Klavier (von Takahashi auf ihrer faszinierenden Mode-CD mit früher und später Klaviermusik interpretiert) sowie Piano, Violin, Viola, Cello (vom Ives Ensemble mit eisiger Klarheit für Hat Art aufgenommen). Dieses Stück, sein allerletztes, verweist wiederholt auf Debussys Prélude Des Pas sur la Neige bzw. Steps in the Snow. Bauchspeicheldrüsenkrebs ließ Feldman schnell dahinscheiden. Noch hat er eine geradezu unanfechtbare Präsenz verströmt; wenig später ist er von uns gegangen.

Zweifellos durchzieht ein einsamer, klagender Tonfall Feldmans Musik. Gelegentlich verwies der Komponist darauf, dass ihm durch die Gräuel des 20. Jahrhunderts, insbesondere den Holocaust, ein anderer und an Verzierungen reicherer Ausdruck stets verwehrt gewesen sei. Er erklärte, dass der Titel The King of Denmark, ein grafisch notiertes Werk für Schlagzeug solo, von König Christian X. inspiriert sei, der beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1940 den dänischen Thron innehatte. Dann setzte er mit der apokryphen Anekdote fort, dass König Christian den deutschen Antisemitismus mit einem öffentlich zur Schau gestellten gelben Stern kommentierte, den er sich auf die Brust geheftet hatte. Ein »stiller Protest«, wie Feldman anfügte. Auf gewisse Weise schien seine Musik gegen jegliche europäische Zivilisation zu protestieren, die sich auf die eine oder andere Art an Hitlers Verbrechen mitschuldig gemacht hatte. Der amerikanische Komponist Alvin Curran traf Feldman einmal bei einem deutschen Festival und befragte ihn angesichts des enormen Zuspruchs, der ihm dort entgegengebracht wurde, warum er nicht nach Deutschland übersiedle. Feldman blieb mitten auf der Straße stehen, zeigte auf das Pflaster und antwortete: »Hörst du sie nicht? Sie schreien noch immer! Schreien noch immer durch das Pflaster!«

Bis zuletzt blieb er ungeachtet sinnlicher Neigungen ein Vollblutmoderner, Kunst war für ihn kein Medium, um Botschaften auszusenden.

 

Synagogaler Gesang
Wenn ein Gedenken an den Holocaust in Feldmans Schaffen verortet werden kann, so in Rothko Chapel, geschrieben 1971 mit Bezug auf die achtseitige Anordnung von Gemälden Mark Rothkos in der gleichnamigen Kapelle in Houston. Rothko hatte ein Jahr zuvor Selbstmord begangen, und Feldman, ein enger Freund des Malers, reagierte darauf mit seiner persönlichsten, ergreifendsten Musik in der Besetzung Bratsche, Solosopran, Chor, Schlagwerk und Celesta. Es ertönen darin Stimmen, doch keine Worte. Wie so oft in Feldmans Musik schweben darin Akkorde und Melodiefragmente verschleierten Gestalten gleich, von dichtem Schweigen umgeben. Die Bratsche artikuliert weit gespannte, steigende und fallende Phrasen. Trommeln rasseln und werden leise an der Grenze des Hörbaren geschlagen. Celesta und Vibraphon lassen zarte Cluster erklingen. Flüchtige Nachklänge vergangener Musik erscheinen, wenn etwa der Chor ferne, dissonante Akkorde intoniert, die an Gottes Stimme in Schönbergs Moses und Aron gemahnen, oder der Sopran eine dünne, gleichsam tonale Melodie singt, die Vokallinien aus Strawinskys letztem Meisterwerk Requiem Canticles nachzeichnet. Diese Passage wurde im April 1971 am Tag von Strawinskys Begräbnis geschrieben – ein weiterer Faden der Trauer im Gesamtmuster. Doch die Gefühlssphäre der Rothko Chapel ist zu unermesslich, um sie als Gedenkschrift für einen Einzelnen zu begreifen, sei es Rothko oder Strawinsky.

Kurz vor Ende der Komposition ereignet sich etwas Erstaunliches. Die Bratsche hebt zu einem klagenden, gleichsam synagogal anmutenden modalen Gesang in Moll an. Feldman hatte diese Musik schon Jahrzehnte früher während des Zweiten Weltkriegs geschrieben, als er auf die High School of Music and Art in New York gegangen war. Celesta und Vibraphon unterlegen diese Melodie mit einer murmelnden Figur aus vier Tönen, die Strawinskys Psalmensymphonie in Erinnerung ruft. Der Gesang ertönt zweimal, und beide Male antwortet der Chor mit Gottesakkorden. Diese Allusion [an Schönbergs Moses und Aron] legt nahe, dass Feldman göttliche Musik zu schreiben intendierte, die sich der düsteren Spiritualität von Rothkos Kapelle eignet. In gewissem Sinne werden hier zwei unterschiedliche Gottheiten miteinander in Einklang gebracht, die repräsentativ für zwei Hauptstränge der Musik des 20. Jahrhunderts stehen: der ferne Gott Israels aus Schönbergs Oper und die strahlende, ikonische Allgegenwart aus Strawinskys Symphonie. Schließlich mag die Melodie selbst, diese liebliche, traurige, jüdisch klingende Weise, für alle jene sprechen, die Feldman unter den Pflastern deutscher Städte aufschreien vernahm. Der Gesang von Millionen, in einer einzigen Stimme zusammengeführt.

Bis zuletzt blieb er ungeachtet sinnlicher Neigungen ein Vollblutmoderner, Kunst war für ihn kein Medium, um Botschaften auszusenden. Es mochte an der ver­mittelnden Kraft von Rothko Chapel gelegen sein, dass er gerade jenes Werk unglaublicherweise geringer schätzte. In dem erwähnten Seminar bekannte er in stockenden Sätzen, unterbrochen von langen Pausen: »Ein Aspekt meiner Haltung zum Komponieren hat mit Trauern zu tun. Zum Beispiel über den Hingang der Kunst … das hat etwas damit zu tun, dass, sagen wir, Schubert von mir gegangen ist.« Zudem gestand er ein: »Ich muss zugeben, dass Sie etwas angestoßen haben, über das ich öffentlich ausdrücklich nicht sprechen möchte, worüber ich mich privat aber durchaus äußere.«

Geschlossene Vorhänge
Nur dieses eine Mal, in den letzten Minuten von ­Rothko Chapel, gestand sich Feldman den Trost durch eine ein­fache Melodie zu. Im Übrigen hielt er die Außenwelt auf Abstand, indes er sich anderen Möglichkeiten gegenüber stets aufgeschlossen zeigte und all jenem, das er für sich selbst nicht zulassen konnte, Sympathien entgegenbrachte. Seiner Musik zuzuhören ist, wie sich in einem Raum mit geschlossenen Vorhängen zu befinden. Man spürt, dass in einer raschen Bewegung Sonnenlicht den Raum durchfluten und Leben in all seinem Reichtum hereinströmen könnte. Die Vorhänge jedoch bleiben zugezogen. Ein Schatten bewegt sich über die Wand. Und Feldman sitzt in seinem bequemen Stuhl.

Dieser Artikel erschien erstmal im »The New Yorker« am 19. Juni 2006.
(Deutsch von Therese Muxeneder)


Alex Ross

ist Musikredakteur des Magazins »The New Yorker« und Autor des Buches »The Rest is Noise«.


1 Anm. d. Übers.:] Der Originaltitel dieses Beitrags lautet American Sublime nach einem Gedicht des amerikanischen Autors Wallace Stevens (1879–1955). Die Übersetzung dieses Titels folgt der 2011 von Hans Magnus Enzensberger bei Hanser herausgegebenen Anthologie Hellwach, am Rande des Schlafs und der dort wiedergegebenen deutschen Übertragung des Gedichts durch Durs Grünbein.

2 Die deutsche Übersetzung der Zitate folgt dieser zweisprachigen Ausgabe.

3 Siehe die eingangs angeführte Übersetzung von Durs Grünbein.

4 Begriff aus dem Baseball. Ein Home Run wird erzielt, indem
vom Batter bzw. Schlagmann infolge eines Schlages alle vier Bases abgelaufen werden.