Freiheit, Lust, Sinnlichkeit

Ingo Metzmacher


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© Anja Frers
„Bei Schreker steht mehr die Sehnsucht als die Nostalgie im Mittelpunkt“, Ingo Metzmacher

Der Dirigent Ingo Metzmacher gilt als aus­gewiesener Experte der Opern von Franz Schreker. Die Gezeichneten in Amsterdam und Der ferne Klang in Zürich waren viel beachtete Erfolgs­produktionen. Für Metzmacher hat die anhaltende Renaissance von Schrekers Opern auch damit zu tun, dass sein Klang rauschhaft ist und seine Raumkonzeption ihrer Zeit weit voraus war.

Herr Metzmacher, wie sind Sie mit Schreker zum ersten Mal in Berührung gekommen?

Metzmacher: Während meiner ersten Position als Kapellmeister in Gelsenkirchen kam eine Anfrage, ob ich Christoph von Dohnányi beim Fernen Klang von ­Schreker assistieren wollte. Ich hatte damals, soweit ich mich erinnere, noch nichts von Schreker gehört, obwohl ich ihn vom Namen her kannte. Als Dohnányi dann aber zwei Wochen vor der Premiere in Hamburg abreiste – er hatte Ärger mit der Regie –, habe ich diese übernommen. Somit hat das Stück für mich eine riesige Bedeutung, es war eigentlich der Beginn meiner Karriere.

Sie haben die Oper fast 20 Jahre später in Zürich noch einmal gemacht.

Metzmacher: Manchmal ist es ja so, dass man, wenn man zu so einem Stück zurückkommt, zu sich selbst sagt: „Damals warst du so euphorisch, und das wird sich nicht wieder einstellen.“ Dennoch hat mich Der ferne Klang beim zweiten Mal eigentlich noch mehr interessiert als beim ersten Mal.

Schreker ist ja fast multimedial gedacht. Im zweiten Akt des Fernen Klanges fühlt man sich in unglaublicher Weise wie in einem Film. Es gibt vier, fünf verschiedene Klangquellen auf der Bühne, überall platziert, oben, auf dem Orchestergraben, hinten – man kann sich das selbst aussuchen. Der Zuschauer soll das Gefühl haben, als wäre er mitten im Geschehen.

Jemand hat mir später erzählt, dass Schrekers Vater einer der ersten Fotografen überhaupt gewesen ist. Das heißt, Schreker hat immer schon mit dem Optischen zu tun gehabt, zum Beispiel mit Zoom, Weitwinkel, ver­schiedenen Perspektiven und wandernder Kamera. Und je länger ich über Schreker nachdenke, desto mehr glaube ich, dass das seine Modernität ausmacht: er hat als Opernkomponist den Horizont so sehr erweitert, dass nicht mehr alles von vorne kommt, sondern von verschiedenen Seiten – der Zuschauer wird in das Ganze hineingezogen, als säße er im Kino.

Schrekers Rezeption ist leider beispielhaft für viele Komponisten seiner Zeit. Einerseits hat er die Dinge modern gedacht und war der meistaufgeführte Opernkomponist seiner Generation. Dann fällt er zwischen allen Stühlen durch. 

Metzmacher: Schreker repräsentiert eine Entwicklung, die nach dem Krieg abgerissen ist. Ich würde sogar behaupten, dass diese Art von Musik direkt nach Hollywood gegangen ist – was im Falle von Korngold ja offensichtlich ist. Es hat aber auch damit zu tun, dass sich diese Art von Oper, zusammen mit der dazugehörigen Musik, immer mehr in Richtung Film gewendet hat. Film war aber natürlich auf diesem Gebiet geeigneter als Oper, es wurden ja viele Aufgaben vom Film übernommen, die die Oper zuvor über Jahrhunderte ausgeübt hat: das Aufarbeiten von aktuellen Themen, die Gleichzeitigkeit von Hören und Sehen, diese umfassende Wirkung auf Betrachter und Zuhörer.

Schreker war mit Sicherheit einer der Letzten dieser Generation. Nach dem Krieg entwickelte sich eine neue Ästhetik. Hinzu kommt sein persönliches Schicksal als „Entarteter“, als jemand, der in Berlin 1933 aus seinen Ämtern verjagt wurde, versucht hat zu emigrieren und dann 1934 gestorben ist. Er wurde wie viele andere einfach vergessen – ausgeblendet. Da haben die Nazis ganze Arbeit geleistet.

„Schreker repräsentiert eine Entwicklung, die nach dem Krieg abgerissen ist.“

Schreker wurde sehr oft über seinen Klang definiert – was ist das Besondere an seinem Klang?

Metzmacher: Schreker schreibt ferne, sirenenhafte Klänge, die ja fast in jedem seiner Stücke vorkommen. Klänge, die noch neu und unbekannt sind. Der ferne Klang ist ja auch deshalb so besonders, weil wir hier mit einer Oper über Musik konfrontiert werden. Jemand sucht nach dem „Neuen Klang“, wobei dieser wiederum, denke ich, symbolisch für vieles ist. Er kann auf verschiedene Arten interpretiert werden: jemand hat einmal gesagt, man könne „der Ferne“ als Genitiv sehen, also der Klang der Ferne, nicht der Klang, der fern ist. Also ein Klang, der weit weg ist, kaum hörbar und sehr leise – das hat ihn, glaube ich, immer sehr fasziniert.

Obwohl bei Schreker alles tonal gedacht ist, gibt der Grundton nicht mehr so viel Halt wie zuvor. Man könnte Schreker mit Richard Strauss vergleichen, zum Beispiel mit dessen Elektra, die ja an manchen Stellen wild atonal ist. Dennoch bleibt der Bass während der Oper immer grund­solide und gibt Halt.

In Schrekers harmonischer Sprache sieht dies anders aus: der Bass gibt weniger Halt, außerdem arbeitet Schreker zwar nicht unbedingt bitonal, stellt aber zwei Funktionsakkorde, innerhalb einer Tonart, übereinander. So stellt er einen Zustand in der Harmonik her, bei dem man nur schwer weiß, was genau gemeint ist, alles bleibt in der Schwebe – das sind Auflösungserscheinungen. Schreker geht zwar nicht so weit wie andere Komponisten, er geht aber in eine ähnliche Richtung.

Schreker ist insofern nahe an Gustav Mahler, als dieser ebenfalls „niedere“ und „höhere“ Musik in einem Werk verwendet hat. Wobei bei Mahler zusätzlich dieser Nostalgie-Ton mitschwingt, der wiederum bei Schreker fehlt.

Metzmacher: Bei Schreker steht mehr die Sehnsucht als die Nostalgie im Mittelpunkt. Im Fernen Klang stoßen wir auf dieses Etablissement in Venedig. Bei den Gezeichneten ist es diese Lustinsel vor der Küste von Genua. Schreker beschreibt diesen Sehnsuchtsort, ein Ort, der gar nichts Schmutziges hat, sondern eher dadurch besticht, dass Dinge erlaubt sind, die sonst nicht erlaubt sind. Hier geht es um Freiheit, um Lust, um Sinnlichkeit, aber nicht in Bezug auf Anrüchiges. Schreker beschreibt Sehnsuchtsorte, die von Menschen aufgesucht werden, weil sie sich erfreuen wollen, und zwar im besten Sinne.

Im zweiten Akt von Christophorus, einem seiner letzten Stücke, gibt es eine ähnliche Szene. Hier werden die verschiedenen Klangquellen nicht nur räumlich verteilt, die Musik überschichtet sich, und zwar nicht nur zweifach, sonder bis zu fünffach. Hätte man einen Ort, der nicht so festgelegt ist wie die Opernhäuser – ich beziehe mich hier auf Ränge und verkaufte Plätze –, dann müsste der zweite Akt des Fernen Klanges musikalisch gesehen um die Leute herum spielen. Das ist ja die eigentliche Idee von Schreker, die sehr moderne Idee der Raummusik, ähnlich dem heutigen Dolby Surround.

Könnte man sagen, dass sich Schreker in seiner Sprache, in den Grenzen, die er sich selbst gesetzt hat, der maximalen Radikalität angenähert hat.

Metzmacher: Ich bin mir nicht sicher, ob sich Schreker Grenzen gesetzt hat.

Etwa die Grenze der Tonalität.

Metzmacher: Das stimmt, die hat er nicht wirklich über­schritten. Zu sehen, welchen Weg er noch weitergegangen wäre, wäre sehr interessant. Aber vielleicht haben Sie recht, vielleicht ist er wirklich bewusst nur bis zu einer gewissen Grenze gegangen, und weiter nicht. Aber welcher Komponist ist schon über seine Grenzen gegangen? Da gibt es ja nur ganz wenige.

Kann man sagen, dass Schreker Werke wie Wozzeck und Lulu rein thematisch vorbereitet hat, indem er Werke wie Die Gezeichneten, also die vom Leben gezeichneten, zuvor schon auf die Bühne gestellt hat?

Metzmacher: Das kann man sicher so sehen. Ich denke, dass eine größere Ähnlichkeit zwischen Schreker und Lulu als zwischen Schreker und Wozzeck vorhanden ist. Es stimmt sicher, dass Schreker einer der Ersten ist, die den ganz einfachen Menschen, den Alltag, auf die Bühne bringen.

„Man muss die Unschärfe, dieses komponierte Zwielicht, möglichst klar darstellen.“

Und auch den deformierten Menschen …

Metzmacher: Ja, auch den. Wobei dies auch Zemlinsky mit Der Zwerg gemacht hat.

Was sind die Klippen, Hürden und Gefahren wenn man Schreker dirigiert?

Metzmacher: Also mit Sicherheit einen klaren Kopf zu behalten – das ist aber keine Gefahr, sondern zwingend notwendig. Ich glaube, es gibt Musik, die, wenn man sie nur klar spielt, enttäuscht.

Bei Schreker ist das anders. Abgesehen davon, dass die komplexen Schichtungen zusammengehalten werden müssen, ist eine Genauigkeit in der Ausführung Voraussetzung. Die Komposition enthält bereits ihre eigene Freiheit, sie ist von Schreker hineinkomponiert, ebenso das rubato. Und wenn man da nicht genau ist, könnte die Musik fast beliebig wirken.

Man muss die Unschärfe, dieses komponierte Zwielicht, möglichst klar darstellen. So kann sich ein Schweben einstellen, das sowohl im Harmonischen als auch im Rhythmischen sehr wichtig für die Musik ist. Man muss die Klänge ausbalancieren. Zum Beispiel der Morgen nach dem Nachtstück im Fernen Klang, wenn die Vögel anfangen zu singen – da war er sogar Olivier Messiaen voraus. Was hier im Orchester passiert, ist unglaublich.

Was wiederum Alban Berg sehr fasziniert hat …

Metzmacher: … von dem ja, was Wunder, der Klavierauszug des Fernen Klang stammt. Man kann über Worte und Erklärungen aber nicht immer alles, was uns an der Musik liegt, definieren. Manches liegt ganz einfach tiefer. Und das würde wiederum erklären, warum man nach dem Krieg mit dieser Art von Musik sehr vorsichtig war, mit dem Unbewussten, das ja sicher suspekt war. Die Komponisten wollten nicht, dass ihnen etwas entwischt, sie wollten genau wissen, was sie da schreiben. Deswegen sicherlich auch das Verlangen nach Zahlenreihen, auf die man sich berufen konnte, alles hatte seine klare Ordnung – da passt Schreker natürlich gar nicht rein.

Interview: Wolfgang Schaufler


Videofassung

Die Videofassung des Interviews finden Sie unter www.universaledition.com/metzmacher-interview