Hertzkas instinktiver Wünschelrutengeist

Hans W. Heinsheimer


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© Universal Edition
Alfred Schlee (Dritter von li.) 1929 mit Kolleginnen und Kollegen im sogenannten Bruckner-Zimmer. Hier unter­richtete und komponierte Anton Bruckner, als der Halbstock das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde beherbergte. Vermutlich fanden hier auch die beiden Unterrichtseinheiten statt, die Gustav Mahler bei Bruckner erhielt. Heute arbeiten im Bruckner-Zimmer Dr. Isabella Hangel (li.; Copyright) und Irene Baumann (Licensing).

Die ersten Eindrücke sind oft die bleibendsten. Das Allererste, was mir ins Auge fiel, als ich, gerade frischfröhlich als neugebackener Dr. jur. aus Deutschland angekommen, um einen Posten als Volontär bei der Wiener Universal-Edition anzutreten, das Musikvereinsgebäude von der Bösendorferstraße her betrat und mich zur Portierloge wandte, um nach dem Weg zu fragen, war ein kleines, kritzeliges Schild an der verschlossenen Logentür: »Bin plakatieren.« Ich wusste es damals noch nicht, aber es wurde mir bald genug klar. Wien, Österreich, hatte mich symbolisch willkommen geheißen.

Der symbolische Pförtner, so stellte sich später heraus, war, wie alltäglich, auf ein prolongiertes Gabelfrühstück in der Schwemme des Hotels Imperial, und so hatte ich mich ungeleitet weiterzutasten. Ich war in einer weiten Einfahrt, ein gepflasterter Weg, fast eine Straße, gerade breit genug, um einen Zwei- oder gar einen Vierspänner passieren zu lassen und die prominenten Insassen trockenen Fußes und unbehelligt vom gaffenden Pöbel zu kaiserlichen Logen oder Künstlerzimmern zu bringen. Als ich das -schmale Trottoir weiterging, hatte ich mich an die Wand zu -drücken, um Kutschen mit Richard Wagner oder Paderewski oder gar mit dem Kaiser Franz Joseph persönlich passieren zu lassen.

Zur Linken eine dunkle Tür mit undurchsichtigem Glas – erst später erfuhr ich, dass sie nichts Geheimnis-volleres verbarg als das staubig-düstere Lager der Universal-Edition – und dann, am Ende des imposanten Korridors ein paar Stufen zur Linken. War ich noch immer von den Geistern meiner Phantasie umgeben? Nein, da stand, im hellen Morgenlicht des republikanischen Wiens von 1923, in schönen, scheinbar für die Ewigkeit gemeißelten Buchstaben auf schwarzem Marmor über einer alters-gebeizten Holztür: K. K. Gesellschaft der -Musikfreunde. Ich schaute mich hastig um, zog – man kann nie -wissen, vor allem, wenn man ein eben erst Zugereister ist – verstohlen den Hut und begann eine ausgetretene Stein-treppe hinaufzuklettern. Oben, im ersten Stock, so hatte ein kleines Zeichen gesagt, waren die Büros der Universal-Edition.

Die Stufen, die dann weiter hinauf zur Bibliothek und zum Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde führten, diese Stufen hatten vor mir Gustav Mahler und Anton Bruckner, Hugo Wolf und Johann Strauß, Johannes Brahms und den Erzherzog Eugen getragen. Ich hielt den Hut noch immer in der Hand. Jeder Schritt wurde in Ehrfurcht gesetzt. Aber am Abend, als ich, behutet, wieder hinabstieg, waren die Geister verschwunden. Hatten mich am Morgen Bruckner und Brahms geleitet, so dachte ich jetzt an Schönberg, Bartók und Janáček. Ein einziger Tag in der U.E. selbst in der armseligen Position eines Volontärs, hatte mein Leben geändert und für immer bestimmt.

Die Stufen hatten vor mir Gustav Mahler getragen.

Die Universal-Edition, seit 1914 und bis zum heutigen Tag im Musikvereinsgebäude situiert, wurde 1901 von einer Gruppe von Wiener Interessenten unter der Führung einer der sagenhaften Figuren des österreichischen Musikverlages gegründet, des Kommerzialrates Weinberger, des Verlegers von Franz Lehár und zahlloser ähnlicher Köstlichkeiten. Die Gründer hofften, eine neue, grün- und rosenfarbene, mit einer im Jugendstil verschnörkelten Leier verunzierte Ausgabe der Klassiker könne erfolgreich mit den alteingeführten Editionen konkurrieren. Sie begannen mit Haydns Klaviersonaten U. E. Nr. 1 und hatten nach einem Jahr bereits die erstaunliche Anzahl von 500 Titeln in ihrem jungen Katalog. Sie machten gute Fortschritte in Nordbulgarien und gewissen Regionen Rumäniens, aber darüber hinaus erwiesen sich ihre Hoffnungen als trügerisch. Nach sechs Jahren hatten sie einen Katalog von 1550 Nummern, ein vollgestopftes Lager und einen minimalen Umsatz. Da erinnerte sich einer der Gründer an einen Geschäftsmann, der in der Textilbranche reüssiert hatte. Emil Hertzka, ein hochgewachsener Mann mit imposantem Bart, blitzenden, durchdringenden und immer etwas misstrauischen Augen und einem breitkrempigen Schlapphut, wurde mit der Leitung des wankenden Unternehmens betraut. Er sollte retten, was noch zu retten war, oder nötigenfalls liquidieren. Stattdessen machte er aus der U.E. eines der führenden Musikverlagshäuser der Welt. Er blieb der alleinherrschende Boss, der »Herr Direktor«, in seinem Fall ein Titel von Gottes Gnaden (schon der Gedanke, dass jemand ihn Emil nennen könne, war Majestätsbeleidigung, und sogar seine Frau sprach von ihm nur als vom Herrn Direktor), bis zu seinem Tode im Jahre 1932, gerade rechtzeitig, bevor die große Flut die meisten seiner Errungenschaften für viele Jahre fortschwemmte.

Hertzka war von Anfang an nicht interessiert an Haydn-Sonaten. In den ersten Jahren seiner Amtsführung schloss er bereits Exklusivverträge mit Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Franz Schreker. Er erwarb die Bruckner-Symphonien und Messen von anderen Verlagen. Er ging über heimatliche Grenzen und brachte Alfredo Casella aus Italien, Karol Szymanowsky aus Polen, Leoš Janáček aus Mähren, Frederick Delius aus England in die U.E. Er druckte die Lieder von Joseph Marx und Leo Blech, den großen Balletterfolg Klein Idas Blumen von Klenau, Julius Bittners Das höllisch’ Gold und wurde der Verleger und damit der Freund, Vertraute und Berater von Béla Bartók, Zoltán Kodály, Darius Milhaud, Max von Schillings, Alban Berg, Anton von Webern und Dutzenden und Dutzenden anderer.

Er sollte retten, was noch zu retten war, oder nötigenfalls liquidieren.

Was hätte es für einen jungen Volontär ­Schöneres geben können, als in solcher Umgebung Bleistifte zu spitzen, Linien auf gelbes Papier zu ziehen und zu warten, bis – sehr, sehr selten am Anfang, aber dann immer häufiger – die Klingel in meinem winzigen Büro schrillte, »His Masters Voice«, wie wir sie nannten, um mich in Hertzkas ragenden Saal zu rufen, durch dessen bogenartige Fenster man im Winter die schönen Säulen der Karlskirche und im Frühling und Sommer den Flieder und die Bäume, und das ganze Jahr die Zweierlinie sehen konnte. Man musste direkt eintreten, man konnte an der schwergepolsterten, schwarzen Tür nicht anklopfen. Da war dann oft ein für immer unvergesslicher Besucher, dem ich vorgestellt wurde. Alban Berg etwa, zu dessen Wozzeck-Premiere ich den großen Chef im Dezember 1925 nach Berlin begleiten durfte. Oder Béla Bartók, scheu, leise, leicht verletzt, unendlich liebens- und verehrenswert, wie ich ihn kennen sollte bis zu seinem letzten Tag in New York mehr als zwanzig Jahre später. Heinrich Kaminski kam, mit Schillerkragen und Wadenstrümpfen: Er und Hertzka waren besonders gute Freunde, und ­Hertzka besuchte ihn und seine Familie oft in einem oberbayrischen Nest, wo er wohnte. Sie sprachen sich gut, denn sie waren beide Antialkoholiker und Vegetarier, obwohl Hertzka, wie in allem, auch hier ins Überdimensionale ging. Ich zittere noch heute, wenn ich an ein festliches Essen im Hause von Walter Braunfels in Köln zurückdenke (auch er einer von Hertzkas sehr geschätzten und unermüdlich verlegten Komponisten), zu dem köstlich gebratene Hühner aufgetragen und Hertzka, dem natürlichen Ehrengast, als erstem angeboten wurden. »Danke«, sagte er mit gehobener Stimme, »danke, ich esse keine Tierleichen.«

In Hertzkas Vorzimmer, von seinem Prunkraum durch eine ungepolsterte, also anklopfbare Tür getrennt, saß an einem Rollschreibtisch Fräulein Rothe, ganz allein, was ihr großes und gewiss geplantes Prestige gab, da alle übrigen Büros buchstäblich mit Personal vollgestopft waren. Fräulein Rothe war sogar länger als Hertzka selbst bei der U.E. Sie war der Zerberus, der eifersüchtig die Tür zum Allerheiligsten hütete, Privatsekretärin für Briefe, die in der Regel mit der Anrede »Mein lieber Meister« an ­Hertzkas Komponisten hinausgingen, Mutter, oder vielleicht eher Tante der Sekretärinnen des Unternehmens, die mit jedem Liebes- oder anderen Kummer zu ihr kamen, und für viele von uns, deren Salär gegen Ende des Monats schon längst den mannigfachen Verlockungen des Wiener Lebens geopfert worden war, eine ständige Quelle von Vorschüssen, die man erst nach langen Predigten, der Versicherung, dass das aber ganz bestimmt das letzte Mal sei, und der Bemerkung bekam, dass der verschwenderische Bittsteller ein »Niegerl« sei, was halb wie ein strenger Tadel, halb wie eine Liebkosung klang und von der keiner wusste, was sie bedeutete.

Um die Mittagszeit, wenn das Wetter es erlaubte (wenn nicht, wurde der Lunch im Direktionszimmer, das eine anheimelnde Nische mit einem grasgrünen Sofa hatte, ausgepackt und serviert), marschierte der Herr Direktor eilenden Schrittes, gefolgt von Fräulein Rothe, zu einem vegetarischen Restaurant, im zweiten Stock eines brüchigen alten Hauses am Naschmarkt gelegen, und viele von uns, die auf ihre Karriere bedacht waren, marschierten mit, aßen entsetzliche Grünkernschnitzel und tranken Rüben- oder sonst einen grauenhaften Saft, gingen aber dann auf dem Rückweg diskret verloren, um beim Kaserer im Stehen ein Saftgulasch zu absolvieren.

Außer den Bewährten, den Arrivierten, den »Meistern«, gab’s Altersgenossen – Komponisten wie Ernst Krenek oder Kurt Weill, beide im selben Jahr 1900 ­geboren wie ich. Sie waren meine Kameraden. Es war leicht, uns zu verstehen und unsere Schlachten gemeinsam zu schlagen. Aber in seinen Beziehungen zu dieser jüngeren Generation zeigte sich Hertzkas instinktiver Wünschelrutengeist aufs Brillanteste. Oft war es ein durchaus unkommerzielles Werk, ein Streichquartett etwa oder, wie im Falle Kurt Weills, ein Liederzyklus zu Texten von Rilke, das ihn veranlasste, jungen, unbekannten Komponisten Verträge und ein monatliches Stipendium anzubieten, das für sie lebenswichtig war. Er hielt ihnen, oft durch viele Jahre, die Treue, bis dann plötzlich eine Dreigroschenoper oder ein Johnny spielt auf die deprimierend sich auftürmenden Vorschüsse über Nacht von der Tafel wischte und aus einem ein wenig hochmütig, ungeduldig geduldeten Herrn Krenek oder Herrn Weill einen »lieben Meister« machte. Nach Hertzkas Tod wurde alles schnell anders. Statt eines genialischen Menschen sahen uns säuerliche Bankiers mit offensichtlichen Anzeichen von Magengeschwüren über die Schulter, und was sie sahen, war in jenen Jahren sich rasch anbahnender Katastrophen nicht schön. Bald wurde alles auf das absolute Minimum reduziert. Bevor es den Nullpunkt erreichte, trug mich ein gnädiges Geschick in den ersten Märztagen 1938 nach Amerika.

Nach Hertzkas Tod wurde alles schnell anders.

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»In Hertzkas Vorzimmer, von seinem Prunkraum durch eine ungepolsterte, also anklopfbare Tür getrennt, saß an einem Rollschreibtisch Fräulein Rothe, ganz allein, was ihr großes und gewiss geplantes Prestige gab«, erinnerte sich Hans W. Heinsheimer. Heute arbeitet in diesem Zimmer Eric Marinitsch (Head of Promotion).

Nach dem Krieg kam ich wieder nach Wien auf Besuch. Das Musikvereinsgebäude war unversehrt, nur die russischen Inschriften auf dem Trottoir gegenüber und die spanischen Reiter und vermummten Schildwachen ums Hotel Imperial, die sogar dem plakatierenden Portier den Zutritt zur geliebten Schwemme verwehrten, waren neu. Die alten Stiegen waren noch da, vielleicht ein wenig mehr ausgetreten. Im Empfangsraum der U.E. dasselbe unsichere Dunkel, nur eine fesche Junge, wo eine verschrumpelte Alte nach Stand, Namen und Begehr gefragt hatte – inspirierendes Zeichen einer neuen Zeit. In ­Hertzkas großem Büro hing sein Bild mit Bart und Hut und blitzend-spöttischen Augen über dem grünen Sofa. Mein alter Freund und Kollege Alfred Schlee saß an Hertzkas Schreibtisch, ein anderer hatte sich in Fräulein Rothes privatem Reich einquartiert, ein dritter – man brauchte offenbar eine Troika, um den einmaligen ­Hertzka zu ersetzen – hatte sein Hauptquartier in London und kam, ein unermüdlicher Patriarch, ab und zu angeflogen. In den Kulissen wartete die nächste Generation.

Alles schien wieder nach vorwärts zu zielen, wie in den alten, schönen Tagen. Alles ging mit der neuen Zeit – elektronische Partituren mit Nummern und Pfeilen, aleatorische Musik mit Pfeilen und Nummern, riesige Papiermachérollen, in denen Klavierstücke von Stockhausen, komplett mit Wäscheklammern, geliefert wurden, mit denen man die Noten ans Klavier heften konnte. Filme, Tonbänder – das ganze Arsenal der neuen Neuen Musik. Eine Schauspielabteilung war entstanden, eine Musikalien­handlung, die hinter einem sentimental-walzerischen Namen den modernsten Firlefanz des Hi-Fi-Zeitalters anbot. Eine Rote Reihe (»Lange bevor Rot zur Farbe der Revolution gemacht wurde, war es die Farbe der Liebe. Für die Rote Reihe bedeutet es beides«, sagt der Prospekt) befasst sich mit neuem Unterrichtsmaterial, eine andere, schlicht und farblos einfach Die Reihe geheißen, versucht in der mysteriös-unverständlichen Sprache der neuen Neuen Musik die neue Neue Musik zu erklären.

Das ganze Arsenal der neuen Neuen Musik

Es war alles großzügig, interessant und teuer und gewiss nicht von magenkranken Bankiers, sondern von unternehmenden und hellsichtigen modernen Musikverlegern geplant. Die vielen jungen Männer, die es ausdachten und produzierten und propagierten – die Volontäre der siebziger Jahre –, waren geschäftig am Werk von früh bis spät, genau wie wir es gewesen waren, die Volontäre der zwanziger Jahre. Alle sind ständig auf Reisen zu Musikfesten, wo Musik mit Pfeilen und Nummern und Wäscheklammern aufgeführt und diskutiert wird, wo Filme surren, Ton- und Bildmontagen aufleuchten, zerfetzte Zitate von Mao und Fidel Castro durch die Luft schwirren, zehn Tonbänder gleichzeitig zu hören sind. Für uns, die dabei waren, als Wozzeck abgesetzt und Lulu verboten und Webern ausgelacht und Schönberg verhöhnt wurde und Kurt Weill so tief in der U.E.-Kreide steckte, dass sogar der große Wünschelrutenmann zu zweifeln begann – für uns war’s hübsch zu denken, dass die jungen Herren nun risikolos all die Pfeile und Nummern und Wäscheklammern und Papiermachérollen produzieren und auf herrliche Reisen gehen können, weil der abgesetzte Wozzeck von 1925 und die verbotene Lulu von 1935 die internationalen Goldgruben von heute sind, weil Webern gespielt wird wie Strauß, weil Schönberg mit einer Gesamtausgabe seiner Werke anerkannt wird, weil Janáček der Puccini der siebziger Jahre zu werden verspricht, Mackie Messer der ungekrönte Jukebox-König ist und Bartók, der vor fünfundzwanzig Jahren in Armut starb, heute ein reicher Mann wäre.

Seit dem Krieg hat die U.E. 46 neue Komponisten in ihren Verlag aufgenommen von Apostel bis Wolkonsky, alphabetisch gesprochen. Einer von ihnen wird halt die Miete im Musikvereinsgebäude zahlen müssen, wenn das 200-Jahr-Jubiläum kommt.

Erschienen in »Die Presse«, 23. 5. 1970; zum 100-Jahre-Jubiläum des Wiener Musikvereins


Hans W. (Walter) Heinsheimer (1900 Karlsruhe–1993 New York City)

war ein österreichisch-amerikanischer Musikverleger, Autor und Journalist. Er übernahm mit 23 Jahren die Bühnenabteilung bei der Universal-Edition in Wien und setzte sich u. a. für Alban Berg, Kurt Weill und Leoš Janáček ein. Er schrieb viele Artikel für die Musikzeitschrift Anbruch, auch über Themen des Musikbetriebs und der Musiksoziologie. Heinsheimer, der sich 1938 zum Zeitpunkt des Anschlusses Österreichs an das Dritte Reich aus beruflichen Gründen in New York aufhielt, kehrte nicht nach Österreich zurück. Er arbeitete in den USA für den Musikverlag Boosey & Hawkes, in dem nun die Arbeiten des 1940 emigrierten Komponisten Béla Bartók erschienen, den er auch in Amerika bis zu seinem frühen Tod betreute.