»Hier höre ich die Stille«

Cristóbal Halffter


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»Ich habe den ­spanischen Krieg nicht miterlebt. Im August 1936, ein Monat, nachdem der Krieg begonnen hatte, kamen mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich in Deutschland an, wir hatten ja eine deutsche Abstammung. Von 1936 bis Juni 1939 lebten wir in Deutschland, wo ich in die Schule ging und Deutsch lernte.« Cristóbal Halffter

Cristóbal Halffter ist relativ spät zur Oper gekommen. Mit Don Quijote, 2000 in Madrid uraufgeführt, vertonte er das bekannteste Werk der spanisch­sprachigen Literatur. Es folgte 2008 Lázaro an der Kieler Oper. Ebenda wird 2013 auch Halffters dritte Oper uraufgeführt werden: Schachnovelle nach Stefan Zweig. Was diese drei Stoffe miteinander verbindet, erzählte Halffter im Interview.

Zu Beginn die einfache Frage: Warum Stefan Zweigs Schachnovelle?

Halffter: Das war Zufall. Es gibt Dinge im Leben, die man sehr schwer analysieren kann. Anna, die Frau meines Sohnes Pedro, hat mich auf die Idee gebracht. Sie schickte mir das Buch, ich lese es am Nachmittag, weil ich einen freien Tag habe, und am Abend ist die Oper fertig – ich muss sie zwar noch schreiben, aber sie ist fertig. Ich habe alles konzipiert, während ich gelesen habe.

Was war der Punkt, wo Sie eingehakt haben?

Halffter: Man kann gegen sich selbst Fußball spielen, wenn man gegen eine Wand spielt, man kann mit sich Karten spielen – aber gegen sich selbst Schach zu spielen, ist sehr, sehr schwer. Man muss dazu zwei Gehirne haben. Man muss A und B sein – gleichzeitig. Das hat mich sehr fasziniert. Für die Hauptfigur Dr. B ist dies die einzige Möglichkeit, weiterzuleben. Kurze Zeit wird er in den Verhören durch die Nazis sogar viel klarer und schärfer argumentieren, was diesen Respekt einflößt. Schließlich wird er aber verrückt, weil diese Spaltung des Gehirns auf Dauer nicht möglich ist.

Und dann wieder dieser Zufall, dass Dr. B – der nach der Befreiung von Wien nach Buenos Aires emigriert und sein Gedächtnis verloren hat – am selben Schiff wie der Weltmeister Mirko Czentovic ist, dass er kurzzeitig durch das Gegen-ihn-Spielen wieder zurückfällt in die alte »Schachvergiftung«. Das ist schon sehr spannend. Und dann ist da natürlich auch noch Stefan Zweigs Schreibstil, der immer sehr schön ist.

Es überlebt jemand, indem er kreativ ist.

Halffter: So ist es. Man kann körperlich zerstört sein, aber die geistige Zerstörung ist die schlimmste. Er kämpft gegen diese geistige Totalzerstörung mit einem Spiel. Das ist das Schöne, dass das Spielen so bedeutend ist.

Dabei ist Dr. B. aber ein Idealist: Er kämpft für seine Ideale.

Halffter: Natürlich, das war auch ein wichtiger Grund, diese Oper zu schreiben. Der Stoff drückt aus, dass jeder kämpfen muss: nicht immer mit Waffen, es gibt auch andere Formen des Kämpfens. Er kämpft gegen die Gewalt, gegen die Aggression, die er in Wien durch die Nazis erlebt hat.

Weltmeister Czentovic, der über das Schachspielen einem kleinen Dorf entfliehen kann und zum Weltmeister wird, definiert sich über eine andere Form des Spielens: Er bekommt sehr viel Geld, während sein Gegenüber dasselbe Spiel spielt, aber nicht für Geld. Diese zwei Formen des Schachspielens drücken viel aus. Auch das
ist ein wichtiger Aspekt.

Mir scheint diese Idee des Gegensatzpaares sehr wichtig zu sein, die sich doch eigentlich durch Ihr gesamtes Opernschaffen zieht: Dr. B und Czentovic, Lázaro und Judas, auch im Don Quijote finden sich Elemente davon.

Halffter: Ich denke, dies stellt eine Konstante meiner Arbeit dar. Don Quijote ist ein Held, ein Mythos, der nicht existiert hat. Er existiert nur im Kopf, in der Legende von Cervantes – und jetzt ist er weltbekannt, obwohl er nie existiert hat. Mit Lázaro verhält es sich ähnlich – man weiß ja nicht, ob er wirklich gelebt hat, es gibt dazu verschiedene Meinungen – man sagt, Lázaro wäre ein »Vor-Christus«, denn auch er ist ja wiederauferstanden: Der Geist hat wieder gewonnen.

Der Geist setzt sich durch ...

Halffter: Genau. Das ist ein Grundprinzip, auf welches ich bereits als Jugendlicher gestoßen bin. Es ist ebenfalls ein Zufall, aber als ich etwa 13, 14 Jahre alt war, bekam ich ein Buch über Gandhi. Dieser Geist von Gandhi drückt viel aus, was ich zeitlebens behalten habe. Der Gedanke, dass man sein Recht verliert, wenn man sein Ideal mit Gewalt durchsetzen will, hat mich sehr geprägt. Viele meiner Freunde haben ein ganz anderes Leben geführt, mein Bruder und mein Vater etwa waren große Industrielle. Mein Bruder ist älter als ich, und ich habe eine ganz andere Form des Lebens als Prinzip – vielleicht nur durch diesen Zufall, dieses Buch gelesen zu haben. Natürlich ist das manchmal schwer, man wird von diesem Impuls überkommen, wie Wozzeck sagt: »Es kommt so manchmal die Natur«. Man spürt Gewalt, aber im Nachhinein entschuldigt man sich natürlich dafür.

Wozzeck sagt ja auch, dass »der Mensch ein Abgrund« sei. Sie haben ja den Abgrund in Spanien unter der Franco-Diktatur erlebt.

Halffter: Ich habe den spanischen Krieg nicht miterlebt. Im August 1936, ein Monat, nachdem der Krieg begonnen hatte, kamen mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich in Deutschland an, wir hatten ja eine deutsche Abstammung. Von 1936 bis Juni 1939 lebten wir in Deutschland, wo ich in die Schule ging und Deutsch lernte.

Das war die Zeit der Blüte des Nazismus. Man spürte das überall, auch in der Schule. »Du musst das machen, du musst dies machen, du musst so sprechen!« Für mich stellte es eine Impfung gegen jegliche Form der Diktatur dar – ich will in solchen Ländern nicht leben. Nachher kamen wir nach Spanien. Von 1939 bis etwa 1970 war es eine sehr schwere Zeit. Der einzige Platz, an dem ich Kultur und Sensibilität gefunden habe, war zu Hause, draußen nicht.

Wie sehr hat Sie die Zeit, in der Spanien eine Diktatur war, in Ihrem Denken geprägt?

Halffter: Spanien war eine Diktatur, aber eine mediterrane Diktatur. Ich konnte in der Diktatur von Franco Dinge machen, die in der DDR wahrscheinlich nie möglich gewesen wären, ich wäre dafür sofort im Gefängnis gelandet. Ich habe das Requiem por la libertad imaginada (Requiem für die imaginäre Freiheit), die ich gehabt habe, geschrieben. Es ist aber nichts passiert, das Stück wurde nur nicht mehr gespielt.

Oder auch die Elegias a la muerte de tres poetas españoles (Elegie über drei tote spanische Dichter): Machado im Exil 1939, Hernández 1942 im Gefängnis, und Lorca, 1936 erschossen – das war die Art und Weise, wie Dichter in der Franco-Diktatur gestorben sind. Das war eine Anklage von mir. Das Stück wurde gespielt, manchmal gab es kleine Unruhen ...

Es war nie ein Thema für Sie, Spanien zu verlassen?

Halffter: Nein, nein... Es wird jetzt sehr viel über Franco geschrieben, er war ein sehr komplexer Mann. Er hatte diese Form des Militarismus ganz in sich, etwa mit größter Gewalt gegen die Freimaurer und gegen den Kommunismus vorzugehen. Aber die Kultur war ihm völlig unwichtig. Schlimm waren die kleinen Diktatoren, jene, die unter ihm waren. Viele von ihnen setzten Verbote durch. Dennoch konnten Maler weiterhin abstrakt malen. Musiker hatten es leichter als Dichter und Schriftsteller, als Theatermacher und Filmemacher. Alles, was etwas Klares, leicht Definierbares ausgedrückt hat, wurde verboten – Musik war in dieser Hinsicht also nicht wichtig.

Wir haben in Spanien aber auch ein furchtbares 18. und 19. Jahrhundert erlebt, viel schlimmer als in einer Diktatur. Letztlich waren wir abseits vom Rest Europas. Wir hatten keine Wissenschaftler, keine Philosophen. Ende des 19. Jahrhunderts kam dann die Musik, die für den Nationalismus eingesetzt wurde, was auch nicht gut war. Erst dann kamen Isaac Albeniz, Enrique Granados, Manuel de Falla.

»Spanien war eine Diktatur, aber eine mediterrane Diktatur.«

Cristóbal Halffter

Sie haben damit begonnen, eine neue Musiksprache in Spanien zu etablieren. Wer hat Sie von den Klassikern der Moderne beeinflusst?

Halffter: Mit Bezug auf die tonale Musik: Strawinsky und Bartók. Ansonsten hatten Schönberg, Webern und Alban Berg Einfluss auf mich – in dieser Reihenfolge. Mein Onkel Rodolfo, der nicht nur ein guter Musiker, sondern auch ein sehr großer Intellektueller war, emigrierte nach Mexiko. 1942/1943, als ich etwa 12,13 Jahre alt war, hat er meinen Vater darum gebeten, seine Bibliothek nach Mexiko zu schicken. Das war jedoch nicht leicht, es gab kaum Verbindungen, um Pakete nach Mexiko zu verschicken. Später hat er einen weiteren Brief geschrieben, laut dem ich, sein Neffe, alles haben durfte, was ich wollte. Er wusste ja, dass ich Musik mochte.

Also bin ich zu seiner Wohnung gegangen, wo ich viele Sachen gefunden habe, die für mich plötzlich eine Erleuchtung waren. Schönbergs Pierrot lunaire und die Variationen op. 31, Streichquartette von Webern. Viel Strawinsky. Das alles durfte ich behalten. Ich habe mir um die 20 Partituren ausgesucht und habe sie, in meiner noch sehr elementaren Form des Musik-Lesens, auf dem Klavier gespielt. Mit 16,17 hatte ich somit einen Background, den meine Kollegen überhaupt nicht haben konnten, denn man konnte diese Partituren in Spanien nicht finden. Sie waren nicht importiert worden, sogar verboten – und ich hatte sie zu Hause!

Schönberg war in Barcelona, es hat ja eigentlich eine Tradition gegeben beziehungsweise hat eine Tradition begonnen, die dann abgerissen ist.

Halffter: Ja, sie ist abgerissen. Es gab dann eine kleine Gruppe, die in Barcelona mit Schönberg zusammen war, aber das wurde abgebrochen.

Es ist Spekulation: Aber wäre das zehn oder fünfzehn Jahre weiter­gegangen, wie würde das Musikleben in Spanien heute aussehen?

Halffter: Ganz anders. Wir hatten das große Glück, große und gute Solisten auf der Gitarre, dem Klavier und dem Cello zu haben – aber die meisten von ihnen waren absolut gegen die Neue Musik. Angeblich hat Pablo Casals einmal geschrieben, dass er von Schönberg einen Brief erhalten habe, in dem dieser behauptet habe, dass alles an seiner Musik falsch sei. Diesen Brief hat allerdings außer Casals selbst niemand gesehen. Wenn man eine Sünde begeht, muss man sühnen, und er dachte, Schönberg müsse sühnen, seine Schuld bekennen. Das war in den 40er-Jahren.

Leonard Bernstein schreibt dasselbe in seinen Harvard-Vorlesungen: Er meint, dass Schönberg am Ende wieder ein tonaler Komponist gewesen sei.

Halffter: Absoluter Blödsinn. Der Gitarrist Andrés Segovia war auch sehr stark gegen Neue Musik so wie so viele andere. Als das IGNM-Festival im Mai 1936 in Barcelona stattfand, war Casals Direktor des Orchesters, hier fand die Uraufführung des Violinkonzerts von Alban Berg statt. Casals hat jedoch versucht, die Aufführung zu verbieten, Webern kam nach Barcelona, um es zu dirigieren. Da jedoch auch ein Stück von Webern gespielt wurde, hat Casals seine Musiker aufgefordert, sich gegen Webern zu stellen. Man hat dann Hermann Scherchen eingeladen.

Zuvor hat Webern gesagt, das Orchester sei ihm zu schlecht, er würde abreisen ...

Halffter: Ja, das hat Webern gesagt. Aber die Musiker haben zu Webern gesagt: »Diese Musik können wir nicht spielen, die ist zu schlecht. Und Sie dirigieren sehr schlecht. Wir können sie nicht verstehen, diese Musik ist furchtbar, wir wollen diese Musik nicht aufführen.« Scherchen wurde eingeflogen, damit man Berg nicht aus dem Programm streichen musste. So war die Stimmung damals.

Hätte man 15 Jahre mehr gehabt, dann hätte das viel verändert. Manuel de Fallas’ Cembalo-Konzert stellte den ersten Schritt in die Richtung eines neuen Musikdenkens dar. Das Konzert war noch sehr neoklassizistisch, aber bereits atonal. Diese atonale Form des Neoklassizismus stellte ein Fenster dar, durch das Licht hereinkam. Für meine Generation beziehungsweise für mich ist das Cembalo-Konzert ein Anfang und ich habe in meinen ersten Stücken sehr in diesem Stil gearbeitet.

Es ist der umgekehrte Weg von Strawinsky, der ja eigentlich moderner begonnen hat …

Halffter: ... und dann zum Neoklassizismus gelangt ist. Apollon musagète ist ja unglaublich konservativ.

Haben Sie Strawinsky erlebt?

Halffter: Ja, ich habe ihm einmal eine Massage gegeben. Er kam nach Madrid, wo ich zur Probe gegangen bin und mit ihm gesprochen habe. Nach der Probe hat er mich gefragt, ob ich ihn massieren könnte. Er hatte ein sehr breites Kreuz und ich habe ihm gesagt: »Meister, in diesem Moment massiere ich Musikgeschichte, la historia de la música!« Er verneinte das! Er war sehr intelligent, sehr schlau und schnell.

Es ist interessant, dass Spanien immer ganz kurz davor war, die Moderne zu entdecken, und dann passierte etwas, und es ging wieder zurück.

Halffter: Ja, das ist eine Gegenreaktion. Die Jahre von 1930 bis 1936, also noch vor dem Weltkrieg, werden hier als silberne Epoche bezeichnet. Wir hatten auf allen Ebenen, was wir wollten, das ist 1936 plötzlich verschwunden.

Wer zum Beispiel?

Halffter: Ortega, Picasso, Dalí, Lorca. In den Wissenschaften dasselbe, auch Rechtsanwälte waren sehr prominent. Aber das war nur eine kleine Gruppe der Gesellschaft, und ihr fehlte die Zeit, sich so tief in der Gesellschaft zu verwurzeln, dass es die zweite Ebene der Gesellschaft verstanden hätte.

Wann kam die Moderne in Spanien an, wann hat das begonnen?

Halffter: Ich glaube in den 70er-Jahren, in den letzten Jahren der Diktatur von Franco. Hauptsächlich waren die Musik und Bildende Kunst davon betroffen, eben auch Maler und Bildhauer. In einer meiner Partituren gibt es ein Bild, welches Manuel Rivera extra für mich gemacht hat. Es war abstrakt und somit für die Regierung nicht gefährlich. Diese Gelegenheit haben wir bis zum Ende ausgenutzt. Das war der Anfang, der Impuls.

Wie stand das Publikum dazu?

Halffter: Zu Beginn der 60er war das Publikum sehr gegen Neue Musik, aber langsam wurde sie akzeptiert. Vor einem Jahr machte man für mich diese »Carta blanca«, das Nationalorchester führte 12 Konzerte mit meiner Musik auf, das Publikum reagierte mit Beifall. Vor 30 Jahren wäre das sicherlich nicht so gewesen, aber heute ist es möglich.

Musik braucht immer länger als die Malerei, nicht?

Halffter: Ja, man muss sie hören und zum Hören braucht man Zeit. Und die Zeit und diese Stille, die man hier (Anm.: in Villafranca, einem Ort im Nordwesten Spaniens) hört, die ist auch sehr wichtig für Musik. Ich sage immer: »Hier höre ich die Stille!«

Anton Webern hat gesagt: »Pausen klingen gut.«

Halffter: Ja, fantastisch!

Interview: Wolfgang Schaufler