»Hypnotische Klanglandschaften, die einen vereinnahmen«

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Wie wurden Sie auf die Musik von Georg Friedrich Haas aufmerksam?

Holten: Als ich vor einigen Jahren an das Royal Opera House kam, waren wir sehr an der Vergabe von Aufträgen an eine Reihe von Komponisten interessiert. Dieses Haus hat eine stolze Tradition, Auftragswerke an britische Komponisten zu vergeben, in letzter Zeit jedoch eher weniger an europäische Komponisten. Also haben wir uns das gesamte Europäische Spektrum angesehen, und es war dabei ziemlich aufregend zu erfahren, wie viele großartige und ganz unterschiedliche Komponisten es derzeit gibt. Haas war einer jener, der uns aufgrund früherer Werke sofort aufgefallen ist, zum Beispiel mit Bluthaus. Sein Mut, dieses Thema anzugreifen, sein starkes Gespür für Theatralik, seine Persönlichkeit und dann natürlich das mikrotonale Universum – all das vermittelte uns den Eindruck von jemandem, der etwas Gewichtiges zu sagen hat, der Mut und ein Gespür hat, etwas bisher Ungehörtes zu gestalten. Wir dachten daher, dass ein Werk von Georg Friedrich Haas ein sehr spannender Auftrag für unsere Hauptbühne sein könnte. Dann erfuhren wir, dass die Deutsche Oper in Berlin bereits über ein Projekt im Gespräch war, und zwar nach einem Libretto von Jon Fosse, den ich als Skandinavier selbstverständlich sehr gut kenne. Wir dachten, dieses Projekt sei zu gut, um wahr zu sein, und haben uns sofort darauf gestürzt. Ich muss sagen, dass mir die Idee gefiel, weil sie sich von den von uns bisher gezeigten britischen Opern stark unterscheidet. Das ganze Szenario wirkt so anders, so simpel: die Geschichte eines norwegischen Fischers, der geboren wird und dann stirbt. Rein oberflächlich könnte das extrem dürftig, ja sogar langweilig erscheinen. Es war einfach sehr faszinierend, wie Fosses Dichtung und Haas’ Musik das Thema mit einem unglaublichen Sinn für Poesie, wenn nicht Radikalität erfüllen, und wie die Spärlichkeit einen tatsächlich in eine andere Dimension vordringen lässt.

Haas‘ Klanglandschaften sind durchaus hypnotisch und vereinnahmend.

Sie sprachen davon, dass das Royal Opera House eine lange Tradition von Auftragsvergaben an britische Komponisten habe. Ist Haas also auf gewisse Weise eine neue Figur innerhalb dieses Kosmos von in Großbritannien aufgeführten Komponisten? Worin unterscheidet sich seine Musik von jener britischer Komponisten?

Holten: Es ist natürlich sehr schwierig, Musik in Worte zu fassen. Das gleicht eher immer einer intellektuellen Übung, als es der Musik den nötigen Respekt erweist. Ich bin mir nicht sicher, ob die Identität von Komponisten zwingend etwas mit ihrer Nationalität, oder mit dem, was in ihrem Reisepass steht, zu tun hat. Für mich steht fest, dass die Musik von Haas ganz außergewöhnlich ist. Es gibt offenkundig keine Melodien, aber selbst die üblichen Orientierungspunkte einer modernen Oper helfen hier nicht sich zurechtzufinden. Es ist eine Klanglandschaft, eine Klangwelt. So wie Fosses Libretto an der Oberfläche nicht dramatisch ist, entbehrt das Werk insgesamt einer opernüblichen Dramatik. Das Buch hat einen geradezu hypnotischen Effekt, was auch für Haas gilt. Wenn man das anhört, ist es schwer zuzuordnen. Es fühlt sich ein wenig so an, als befände man sich in der Fremde oder als sei man entwurzelt. Man weiß sich nicht genau zu orientieren – und dennoch sind diese Klanglandschaften durchaus hypnotisch und vereinnahmend. Deshalb würde ich sagen, dass sich Haas nicht nur von jedem Komponisten in Großbritannien unterscheidet, sondern von jedem anderen mir bekannten Komponisten weltweit. Diese einzigartige Klangwelt wollten wir präsentieren.

»Ich bin ein Expressionist. Ich schreibe expressive Musik.«

Georg Friedrich Haas

Bei der Generalprobe vor ein paar Tagen wurde klar, dass es in dieser Oper nicht so viel Mikrotonales wie in anderen Opern und Werken von Haas gibt. Welche Art von Musik haben Sie von ihm erwartet?

Holten: Wir erwarten von den beauftragten Komponistinnen und Komponisten das zu tun, was auch immer sie für notwendig halten. Ich empfinde die Welt von Haas immer noch als einzigartig und denke, dass uns diese Erfahrung auch geschenkt wird. Es ist etwas Wunderbares an diesem Werk und es ergab wirklich Sinn für mich, als Haas zu uns sagte: »Ich bin ein Expressionist. Ich schreibe expressive Musik.« Wenn man es also als sehr intellektuelle Übung ansieht, diese Klangwelt zum Funktionieren zu bringen, ist es tatsächlich eine sehr expressive Übung. Sobald man das versteht, denke ich, begreift das Publikum diese Klangwelt in einem ganz physischen Sinne. Ich glaube nicht, dass sich der Großteil des Publikums dafür interessiert, mit welcher Technik er diese Wirkung erzielt, die gleichwohl darauf abzielt, dass man sich ein wenig entwurzelt und unsicher über das Gehörte fühlt. Man versteht freilich, dass das, was immer es sein mag, eine starke emotionale – ich würde sogar sagen physische – Wirkung ausübt.

Es ist wichtig sich darauf zu besinnen, dass wirklich große Kunst von einer persönlichen Aussage lebt.

Eine abendfüllende Oper in Auftrag zu geben ist ein ziemlich großes Unterfangen. Was bedeutet so ein Auftrag für das Royal Opera House?

Holten: Wenn man ein neues Werk in Auftrag gibt, birgt dies ein großes Risiko. Wir haben einen bestehenden Kanon und wir haben eine Reihe von Raritäten, die zwar Meisterwerke sind, aber dennoch selten aufgeführt werden – wir können diese hervorholen und wissen mehr oder weniger, was uns erwartet. Eine neue Oper ist nicht nur eine Investition in den Komponisten und Librettisten, die Jahre ihres Lebens auf die Entwicklung des Werkes verwenden, in Sänger, die aufwändige Partien einstudieren, die sie vielleicht niemals mehr singen werden. Zudem wissen wir auch nicht, welches Ende das Projekt nehmen wird: es bedeutet also einen Sprung ins Ungewisse.

Alles, was man tun kann, ist Leute auszuwählen, von denen man denkt, dass sie etwas zu sagen haben. Wir leben in einer Zeit, in der sich alles um den »user« dreht; es geht nur um die Wünsche des Publikums. Es ist jedoch wichtig sich darauf zu besinnen, dass wirklich große Kunst von einer persönlichen Aussage lebt. Außergewöhnliche Menschen zu finden, denen etwas so brennend am Herzen liegt, dass sie es sagen müssen und vermitteln möchten – und ihnen die Möglichkeit dazu zu bieten, sie in ihrem Bestreben sich auszudrücken so gut als möglich zu unterstützen, sogar wenn man damit einen Misserfolg riskiert –, ist eigentlich das Schlüsselelement in der Präsentation neuer Werke.

Es ist sehr wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass in der Zeit, als Mozart, Wagner oder Verdi ihre Opern schrieben, hunderte – tausende – Opern verfasst und dann ausgemustert wurden. Sogar die ersten Opern der berühmtesten Komponisten werden sehr selten gespielt. Eine Oper zu schreiben birgt ein großes Risiko, und das gilt auch für die Auftragsvergabe. Und im Gegensatz zu anderen Opernaufführungen weiß man nicht wirklich, was man hat, bis man es auf die Bühne bringt.

In einer Zeit, in der wir Worte, Zahlen und Logik zum Verständnis unseres Menschseins benutzen, brauchen wir hierzu wirklich die Kunst als Korrektiv.

Trotz des Gesagten stehe ich leidenschaftlich dazu, Komponisten und Librettisten diese unglaubliche Kunstform in Anspruch nehmen zu lassen, die meiner Meinung nach die menschliche Seele und menschliche Erfahrung in einer für uns höchst notwendigen Weise beschreibt, auch in unserer Zeit. Es ist mir wichtig, dass wir auch unsere Zeit auf das Medium der Oper treffen lassen, ganz einfach deshalb, weil die Oper meiner Ansicht nach etwas schafft, das keine andere Kunstform zu leisten imstande ist. In einer Zeit, in der wir Worte, Zahlen und Logik zum Verständnis unseres Menschseins benutzen, brauchen wir hierzu wirklich die Kunst als Korrektiv, um uns zu erinnern, dass das Leben irrational, unlogisch ist und aus mehr als Worten und Zahlen besteht. Und Oper ist eine schöne Art und Weise dies zu tun.

Denken Sie, dass die Musik von Haas und Fosses Worte gut zusammenpassen?

Holten: Seitdem ich Morgen und Abend gehört habe, kann ich mir diese Oper nicht mehr in einer anderen Kombination als Haas und Fosse vorstellen. Sie sind beide sehr ausdrucksstark und dennoch reduziert – das ist ihnen gemeinsam. Diese Spärlichkeit, ja geradezu Ausdrucksaskese, kombiniert mit großer Expressivität und dem Umgang mit den größten existierenden Themen – der Geburt eines Kindes und dem Tod eines Menschen, eines Selbst – ist so extrem wie es nur sein könnte, und dennoch wird alles auf den Kern der menschlichen Erfahrung heruntergebrochen. Ich denke, es geht alles fantastisch gut zusammen. Es war lustig von Haas zu erfahren, dass er nach dem Erhalt des Librettos feststellte, dass Fosse tatsächlich nicht zwingend jene Romanszenen eingerichtet hatte, die Haas erwartet hatte – das Libretto war ganz anders. Aber meiner Meinung nach war dies eine dieser einzigartigen Kooperationen, in der ein Komponist und ein Librettist wirklich zusammenfinden, worüber wir uns sehr glücklich schätzen. Es gibt viele andere berühmte Beispiele von Komponisten, die ihre Stimme durch einen Librettisten finden, und ich glaube bestimmt, dass wir es hier mit einem solchen Beispiel zu tun haben.

Welche Zukunft erwarten Sie für das Werk?

Holten: Bei jeder neuen Oper besteht immer die Hoffnung, dass sie zukünftige Produktionen erfährt und die Uraufführung nicht die einzige und definitive Umsetzung darstellt. Ich habe bereits von einigen Leuten aus der Branche gehört, dass die Oper a) ein Meisterwerk sei, jedoch b) so anders, dass sie wirklich aufhorchen lässt. Am Ende des Tages gibt es dankenswerterweise ziemlich viele neue Opern, viele davon aber bewegen sich in derselben »Region«. Und diese eine ist wirklich wahrhaft anders, lässt einen aufhorchen und denken: »Was ist das?«

Ich glaube, dieses Stück könnte tatsächlich die Chance auf eine weite Reise haben, es bedarf jedoch – auch in weiteren Realisierungen – couragierter Leute, die sagen: »Hier haben wir etwas, das so gegen alle Zeitströmungen steht, in denen alles schnell, unterhaltsam und schillernd sein muss«. Das Leben eines norwegischen Fischers ist wohl kaum schillernd. Es braucht Leute, die den Mut haben, von uns zu fordern, Platz zu nehmen und zuzuhören.

Beim Durchleben des gesamten Werkes erlangt man einen Geisteszustand, der sich vom Alltagsleben unterscheidet, sich so von der normalen Welt abhebt und uns bewusst macht, was in unserer Existenz wichtig ist. Also ja, ich denke und hoffe, dass Morgen und Abend ein Nachleben haben wird.


Interview: Sarah Laila Standke
London, November 2015
(c) Universal Edition