»Ich suche einen gemeinsamen Nenner«

Nora und Arvo Pärt


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Arvo Pärt (c) Universal Edition, Eric Marinitsch

Der italienische Musikwissenschafter Enzo Restagno führte mit Arvo Pärt und dessen Frau Nora ein umfangreiches Gespräch, bei dem Arvo Pärt sehr offen über seine Wurzeln und sein Leben im sowjetischen Estland, seine Emigration, seine künstlerische Odyssee, sein Weltbild sprach. Die Niederschrift des vollständigen Gesprächs erschien 2010 als Buch (Pärt im Gespräch) bei der Universal Edition.

Anfänge – Zwölftonmusik – Collage-Technik

Sie haben sehr früh mit der Musik angefangen, Sie waren ja nur sieben Jahre alt. Warum und wann haben Sie sich entschieden, Musiker zu werden?

Arvo Pärt: Das kann ich nicht sagen. Man ist so, wie man ist, aber wer man werden wird, das weiß keiner und umso weniger ein Kind. Ich kann wirklich nicht behaupten, ich hätte damals das Gefühl gehabt, Musiker werden zu wollen. Ich glaube aber, dass sich in mir bereits während der ersten Kompositionsversuche ein vages Bewusstsein davon langsam herausbildete. Gelegentlich bilde ich mir ein, ich hätte schon damals die Vorahnung gehabt, komponieren und etwas Ähnliches produzieren zu können wie das, was ich im Rundfunk oder bei Konzerten hörte. Die Wahrheit ist aber, dass ich erst sehr spät reif geworden bin und dass ich damals nicht in der Lage war, den Weg zu finden, der mich zu dem hätte führen sollen, was ich wirklich suchte. Die starke Sehnsucht danach, diesen Weg zu finden, wurde später indirekt auch durch meine viel zu enthusiastische Hingabe an die Zwölftonmusik ausgedrückt. Ich entfernte mich dann von ihr, weil ich etwas anderes suchte. Es war einer von mehreren Versuchen, meinen Weg und meine Welt zu finden.

Ab 1964 schrieben Sie Werke mit »Collage-Technik«. Es handelt sich um Kompositionen, denen die Absicht, mit der eigenen musikalischen Vergangenheit Schluss zu machen, deutlich anzumerken ist.

Arvo Pärt: Die »Collages« sind eine Art Transplantation: Wenn man das Gefühl hat, ohne eigene Haut zu sein, dann versucht man doch, überall Hautstreifen zu nehmen und sie anzuziehen. Mit der Zeit modifizieren sich diese Streifen und werden zu einer neuen Haut. Ich wusste nicht genau, wohin mich dieser Versuch der »Collages« führen würde, doch ich hatte auf jeden Fall den Eindruck, einen lebendigen Organismus in den Händen zu haben, eine lebendige Substanz, so wie ich sie zu dem Zeitpunkt in der Zwölftonmusik nicht fand. Doch mit der Technik der Transplantation kann man nicht unendlich fortfahren.


Credo
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In Credo erreicht die Collage-Technik ihre Grenze. Damals und in dem Zustand, in dem ich mich befand, war ich nicht in der Lage, eine melodische Linie ohne Nummern zu schreiben, doch auch die Nummern der Zwölftonmusik waren für mich endgültig gestorben. Mit dem Gregorianischen Choral war das nicht so: Seine Linien hatten eine Seele. Heute bin ich toleranter, auch gegenüber jenem Stil. Es sind nicht die zwölf Töne an sich, die schuld sind: Alles hängt vom Komponisten ab und von der Art und Weise, wie er die zwölf Töne verwendet. Es kommt darauf an, ob er Honig oder Gift produzieren möchte. Webern zum Beispiel produziert nie Gift.

Die Kritiken, die meine Kompositionen im Westen erhielten, waren positiv.

Die Uraufführung von Credo für Klavier, Chor und Orchester (1968) wurde zu einem skandalösen Erfolg. An dieser Begebenheit finde ich außergewöhnlich, dass die Empörung gerade durch den mittleren Abschnitt der Komposition hervorgerufen wurde. Darin wird die dodekaphonische Technik mit einer seriellen Prozedur verwendet und gipfelt in einer gewaltigen Mimesis des Chaos.

Arvo Pärt: Damals und vielleicht sogar schon ein wenig vorher hatte ich den Eindruck, dass ich dabei war, etwas zu entdecken, was ich einen Neuanfang nennen würde. Das Wichtigste in der Auseinandersetzung mit dem neuen Werk wurde für mich der Text, den ich vertonen wollte: Es handelte sich dabei um jenen Passus des Evangeliums, in dem die Lehre Christi am deutlichsten zu spüren ist, dort, wo Jesus auf den alttestamentarischen Spruch »Oculum pro oculo, dentem pro dente« (»Auge um Auge, Zahn um Zahn«) mit dem Satz antwortet: »Autem ego vobis dico: non esse resistendum injuriae« (»Aber ich sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel«). Ich habe diesen Satz buchstäblich in Noten und Ziffern aufgelöst, sodass jedes Wort eine Entsprechung in den verwendeten orchestralen Mitteln findet.

Ich habe das dodekaphonische Gerüst dadurch strukturiert, dass ich Quintenintervalle, die reinsten und harmlosesten Intervalle, nacheinander gelegt habe und so weiter und so fort bis zur größtmöglichen orchestralen Entfaltung. Durch diese Nebeneinanderstellung der Quinten kommt man zu einer immer dichteren Textur, zu einer wahrhaften Sättigung der Klänge, die als Nach­ahmung des Chaos und der Zerstörung fungiert. Erst dann kommen die Worte Jesu: »Aber ich sage euch …«, und so zerfällt allmählich alles in seine Teile. Es ist wie der Zerfall des sowjetischen Regimes. Irgendjemand könnte es so interpretiert haben und hatte davor Angst.

Sie haben gesagt, dass Sie die Ausreise nach Westeuropa bewogen hat, Tallinn definitiv zu verlassen. Erinnern Sie sich, wie Sie zu dieser Entscheidung gelangt sind?

Arvo Pärt: In jener Zeit sind eine Menge Dinge geschehen, aber entscheidend war das Verhalten der Regierungsleute mir gegenüber. Sie gaben mir zu verstehen, dass es ihnen nicht unangenehm wäre, wenn meine Frau und ich das Land verließen. Ich hatte praktisch keine Möglichkeit mehr, als Komponist zu überleben, da sich die Funktio­näre, von denen mein Leben abhing, mir gegenüber immer feindseliger verhielten. Die Aufführungen meiner Werke im Ausland waren ihrer Meinung nach zu häufig geworden. Da aber die Uraufführung einer Komposition ohne die Anwesenheit des Komponisten als ein Skandal angesehen worden wäre, sahen sie sich gezwungen, mich gehen zu lassen. Die Kritiken, die meine Kompositionen im Westen erhielten, waren positiv, aber das führte nur dazu, dass sich meine Lage verschlechterte, sie wurde in kurzer Zeit unerträglich, für sie und für mich.

Nora Pärt: Im Herbst 1979 besuchte uns zu Hause ein führendes Mitglied des Zentralkomitees und empfahl uns, das Land zu verlassen. Es sollte nach einer freiwilligen Entscheidung aussehen, aber eigentlich war es ja eine Ausweisung aus dem Land, die damals endgültig war. Nach einiger Zeit stiegen wir in den Zug nach Wien.

Es ist möglich, dass die Personen, die meiner Musik mit Interesse folgen, hoffen, darin etwas zu finden. Oder vielleicht handelt es sich vielmehr um Personen, die wie ich etwas suchen und beim Hören meiner Musik empfinden, dass sie in dieselbe Richtung gehen.

Tintinnabuli

Bis 1968 haben Sie, wenn auch nicht mit großer ­Strenge, die dodekaphonische Methode verwendet. In jeder Komposition spiegelt sich jenes typische Unbehagen derjenigen, die noch keine eigenständige Sprache als Lösung für ihre Probleme gefunden haben. Nach diesen geplagten Versuchen folgte eine lange Periode der Stille, in der endlich eine originelle Perspektive entstand.


Statuit ei Dominus
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Arvo Pärt: Ich war damals davon überzeugt, dass ich mit den vorhandenen Mitteln einfach nicht weitermachen konnte: Es gab nicht genügend Material, und so hörte ich einfach auf, Musik zu schreiben. Ich wäre gerne mit etwas in Kontakt gekommen, das lebendig und einfach war und nicht zerstörerisch. Das, was ich wollte, war nur eine einfache musikalische Linie, die innerlich lebt und atmet wie jene, die in den Gesängen entfernter Epochen existierte, oder wie heute immer noch in der Volksmusik: eine absolute Monodie, eine nackte Stimme, aus der sich alles ergibt. Ich wollte lernen, die Melodie zu führen, doch ich hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Zur Verfügung hatte ich nur ein Buch über gregorianische Gesänge, einen »Liber usualis«, den ich von einer Kirche in Tallinn bekommen hatte. Ich fing an, jene Melodien zu singen und zu spielen, mit demselben Gefühl, mit dem man sich einer Bluttransfusion unterzieht. Auf irgendeine Weise gelang es mir, mit jener Musik in Kontakt zu treten. Doch ich benutzte diese Nähe nie als Zitat – abgesehen von einem Werk, das ich für den Dom in Bologna geschrieben habe (Statuit ei Dominus).

Nora Pärt: Das, was er machen wollte, war ein neues Gehör zu bilden. So verzichtete er in dieser Zeit darauf, jede andere Art von Musik zu hören. Arvo wollte in sich jene geheimnisvolle Quelle finden und die Klänge frei ausströmen lassen. Er mühte sich mit der Lektüre von Psalmen ab, und unmittelbar danach versuchte er eine melodische Linie ohne Zäsur, ohne Kontrolle zu schreiben, so, als ob er ein Blinder wäre, um die Eindrücke der Lektüre besser sofort in Musik umwandeln zu können.

Arvo Pärt: Mit dem Tintinnabuli-Stil kehrte ich zu den Regeln zurück. Im Grunde stellt sich das Tintinnabuli-Konzept als etwas dar, das dem vergleichbar ist, was normalerweise passiert, wenn man anfängt, das Klavierspiel zu lernen: Mit der linken Hand spielt man immer denselben Akkord, während die rechte die Melodie entwickelt. In meinem Fall gibt es eine Melodie und drei Töne, aber jede Note der Melodie ist nach sehr genauen Regeln an einen der drei Töne gebunden, und natürlich gilt das auch umgekehrt. Es entstehen offensichtlich unerwartete Dissonanzen, aber es gibt in der oberen Melodie eine Logik, wie es auch eine, wenngleich mehr versteckte, in den drei Tönen gibt, die sie begleiten.


Cantus in Memory of Benjamin Britten
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Würden Sie mir bitte etwas über Cantus erzählen? Ich war richtiggehend berührt von der Begeisterung, mit der mir Steve Reich mehrere Male davon erzählte. Die erste Frage könnte demnach lauten: Warum »in Memory of Benjamin Britten«?

Arvo Pärt: Die Entwürfe für dieses Stück waren bereits fertig, als ich zufällig im Radio vom Tode Brittens hörte. In diesem Zusammenhang wurden im Radio einige seiner Musikstücke übertragen, die meine Frau und mich wegen ihrer Zartheit und einer Transparenz tief berührten, die eine Atmosphäre der Balladen von Guillaume de Machaut entstehen ließen. Zu diesem Zeitpunkt verfestigte sich bei mir der Wunsch, dieses Werk zu vollenden und es Britten zu widmen. Schon lange Zeit hatte ich mir gewünscht, ihn zu treffen und kennen zu lernen, aber nach dieser Nachricht musste ich diesen Gedanken aufgeben. Cantus ist einfach ein Proportionskanon, der aus einer Tonleiter besteht. Die fünf unterschiedlichen Einsätze verlängern sich bei jeder Wiederholung, bis alle Stimmen wie in einer Kadenz »zu Hause« zusammenfallen. Die bloße Struktur des Werks, so wie Sie es beschreiben, erklärt indes nicht den Enthusiasmus, den das Publikum bei jeder Aufführung zeigt. Arvo Pärt: Ich denke, es ist der Klarheit und der Einfachheit der Konstruktion des Stückes zu verdanken, dieser absolut klaren Ordnung, die wir alle bewusst oder unbewusst wahrnehmen. Meiner Meinung nach handelt es sich um Schwingungen, die eine Art Resonanz entstehen lassen. Das ist das Geheimnis der Musik, von jeder Art Musik.

Eines der Schlüsselkonzepte Ihrer Musik liegt meiner Meinung nach in ebendiesem gleichzeitigen Vorhandensein vieler Tempi. Manchmal weitet sich ein Augenblick Ihrer Musik aus, so, als ob er das zeitliche Element aus den Angeln heben würde.


Tabula Rasa
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Nora Pärt: Ich könnte da einige Beispiele nennen. Der letzte Akkord in Cantus will nicht enden. Er steht, ohne anzuwachsen oder sich zu verringern. Es ist etwas erreicht worden und nun möchte man es nicht mehr aufgeben. Der Inhalt des gesamten Werkes strebt zu diesem Punkt. Wenn dieses Kadenz-Plateau erreicht ist, will der Akkord nicht mehr aufhören. Dasselbe geschieht in Tabula rasa am Ende des ersten Teils: Immer dieser Schlussakkord, der sich bis in die Unendlichkeit verlängern möchte.

Wie erklären Sie sich den Erfolg Ihrer Musik?

Arvo Pärt: Es ist möglich, dass die Personen, die meiner Musik mit Interesse folgen, hoffen, darin etwas zu finden. Oder vielleicht handelt es sich vielmehr um Personen, die wie ich etwas suchen und beim Hören meiner Musik empfinden, dass sie in dieselbe Richtung gehen. Hinzu kommt, dass ich mit einfachen Zahlen arbeite, die gut zu sehen und zu hören sind; ich suche einen gemeinsamen Nenner. Ich strebe nach einer Musik, die ich universell nennen könnte, in der sich viele Dialekte vermischen.

Arvo Pärt im GesprächNora Pärt: Jedenfalls zählt für Arvo am meisten der Wille, an die Wurzeln der Musik zu gelangen, sozusagen die Grundzelle zu entdecken und mit ihr musikalisch wiedergeboren zu werden. Ich denke, dass diese Zelle, diese tiefe Wurzel viele unterschiedliche Früchte produzieren kann, und deswegen erkennen sich viele sehr unterschiedliche Menschen in ihr wieder.

Arvo Pärt: Ich glaube, dass man die Tatsache akzeptieren sollte, dass der Mensch in unserer Epoche das Bedürfnis empfindet, auszuatmen und nicht nur einzuatmen

Interview: Enzo Restagno


Enzo Restagno

ist 1941 in Turin geboren, hat als Musikwissenschafter und umsichtig programmierender Veranstalter (u. a. »MiTo Settembre Musica«) das italienische Musikleben in den letzten Jahrzehnten nachhaltig beeinflusst.