»Jede Phrase eine scharfe Plastik«

Zoltán Kodály


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Die Musik Bartóks ist heute nicht mehr wie noch vor zehn Jahren für Publikum und Kritik ein Buch mit sieben Siegeln, aber noch immer vermögen nur wenige, dem Komponisten auf dem Wege zu folgen, den er vom Suchen auf alter Grundlage bis zum Sich-Finden zurückgelegt hat. Selbst seine früheren Gegner sind gezwungen, den Reichtum seiner Erfindungsgabe, die individuelle Farbe seines Orchesters, die ursprüngliche Verbundenheit seiner Farben mit den Gedanken und
den streng organischen Zusammenhang seiner Gedankenwelt anzuerkennen. In keinen Zweig der »modernen Musik« gelang es, ihn einzureihen, weder in den bunten Mischstil von Alt und Neu noch in die chaotische Anarchie der Halb- und Pseudotalente.

Bartóks Musikerpersönlichkeit wird durch die ganz individuelle Art des Zusammenschweißens von Urprimitivem mit hoch entwickelter Kultur zu einer einzig dastehenden. Seine Musik ist ein einheitlicher, in sich geschlossener Organismus aus einem Stoff, der von Entlehnungen oder Nachahmungen fast gar keine Spuren aufweist. Vorfahren hat auch er, doch tritt die Beziehung nicht in Äußerlichkeiten zutage: Der Geist erhabener Musik der Vergangenheit lebt in ihm, alles, was nicht zeitgebunden, was von ewigem Wert ist. Aber für die musikalische Durchschnittsbildung ist bei Bartók am schwersten verständlich, was aus seiner Verbindung mit der Volksmusik hervorgegangen ist.

Neuerdings stellt man die Volkskunst gern als den unvollkommenen Überrest einer älteren Kunststufe hin. Wohl gibt es in der Volksmusik viele solche Überreste, doch ist damit ihr Bereich nicht erschöpft. Ihr wahrer Wert ist all das, was sie von der Ur-Musik bewahrt hat, und alles, wofür sie zum anspornenden Vorbild wird: der aller Formeln bare, von keinem Schema beengte und darum ungeheuer intensive Gefühlsausdruck, die freie, ungehemmte Sprache der Seele. Wer diese Volksmusik nicht kennt (und wie wenige kennen sie!), kann sie auch bei Bartók nicht erkennen und fühlt nur etwas sehr Fremdes, wofür es keine Analogien gibt, weder in der universalen Kunstmusik noch in der bisherigen ungarischen Musik.

Die Wegsucher der ungarischen Musik in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts fanden als ihre unmittelbaren Vorläufer, denen sie sich anschlossen, die blutlose Liedliteratur vom Anfang des Jahrhunderts und die Tanzmusik der Zigeuner. Was in diese Entwicklung hie und da von unten, aus der älteren Schicht, verstreuten Felsen im Moore gleich hineingelangte, das führte zu der neu auflebenden ungarischen Musik, die den abgerissenen Faden der Tradition an einem älteren, ursprünglicheren Punkt wieder aufnahm.

Es ist begreiflich, dass diejenigen, die den Stil einiger hundert um 1850 entstandener Lieder als den einzig ungarischen betrachteten, diese neue Musik nicht als ungarisch empfinden. Jene Lieder sind halbdilettantische Literatur, als solche allerdings nicht ganz wertlos, aber das Ungarische in ihnen ist so oberflächlich und mit so viel weinseliger Zigeunermusikstimmung und Schankstubengeruch behaftet, dass ihnen das Tor zur höheren Kunst verschlossen bleiben muss.

Bartóks Musik ist ein einheitlicher, in sich geschlossener Organismus.

Zoltán Kodály

Der neuen ungarischen Musik entströmt eine andere, die jungfräulich reine Atmosphäre eines tiefer wurzelnden, unverbrauchten Ungartums; wie der Duft der Szekler Fichtenwälder, in denen etwas von dem ungeheuer starken Lebensstrom erhalten geblieben ist, welcher einst das ganze Land durchflutete. Diesem Strom ist auch Bartóks Musik entwachsen, und durch die vulkanische Arbeit einer außergewöhnlich schöpferischen Kraft hat sie sich zu einer unendlich ausdruckskräftigen und dabei fest konstruierten Seelensprache entfaltet, dergleichen wir heute überall vergebens suchen. Dies ist nicht mehr die sentimentale Zechkumpanenstimmung der ungarischen Gentry zur Zeit der Unterdrückung, nicht der Alarmruf Kossuths, nicht das wehmütige Klagen der »Kurutzen«, es ist kein Teil-Ungartum, sondern alles zusammen; ein vielschichtiges, tief-tragisches Weltungartum, mit dem Selbstbewusstsein der einstigen Landeseroberer und einer wilden, dem gegenwärtigen Elend trotzenden Lebensenergie. Eine solche Musik ist in ihrem wahren Element, wenn sie sich mit dem Drama verbindet. Sie stand dazu bereit, nur musste zur Gestaltung des Vokalen ein noch ungebahnter Weg gegangen werden.

Die Operntradition in Ungarn hatte, da der Spielplan zum überwiegenden Teil aus übersetzten Werken bestand, eine eigentümliche musikalische Deklamation herausgebildet, von der sich dann auch die Verfasser von Originalopern nicht freimachen konnten. In dieser Deklamation war es geradezu eine Regel, dass Sprachakzent und Musikakzent dauernd im Kampf miteinander standen. Meistens siegte die Musik, und die Zuhörer, größtenteils Aristokraten und Deutsch sprechende Bürger, duldeten zwei Menschenalter hindurch das Radebrechen der ungarischen Sprache, ihr Sprachgefühl lehnte sich nicht dagegen auf. In den letzten Jahren brachten einige neue, künstlerische Übersetzungen eine wesentliche Besserung. Aber selbst die beste Übersetzung bleibt noch Übersetzung: sie kann der einer fremden Sprache angepassten Melodienlinie nur unvollkommen folgen, und vielleicht weiß es sogar das heutige Opernpublikum noch nicht recht zu schätzen, wenn sich die ungarische Sprache einmal auf die eigenen Beine stellt, selbstständig zu schreiten, ja zu fliegen versucht.

Diesen Weg zur Befreiung der Sprache, zur Steigerung ihres natürlichen Tonfalls ins Musikalische betrat Bartók und brachte damit die Entwicklung des ungarischen Rezitativstils um ein großes Stück vorwärts. Herzog Blaubarts Burg ist das erste Werk auf der ungarischen Opernbühne, bei dem der Gesang von Anfang bis Ende in einheitlich fließendem Ungarisch zu uns spricht.

Diese Vertonung, in der jedes Wort, jede Phrase scharfe Plastik gewinnt, beleuchtet selbst die kleinsten sprachlichen Unebenheiten. Dass es solche in Balázs‘ Text gibt, könnte ein ernster Einwand sein, obwohl seine strengen Kritiker es nicht erwähnen. Ihr fast einstimmiges – allerdings unmotiviertes – abfälliges Urteil erweckt den Anschein, als ob hierzulande sehr hohe Ansprüche an Operntexte gestellt würden. Dabei halten unsere Schriftsteller das Libretto nicht für eine ernst zu nehmende Kunstgattung, sie vergessen, dass jeweils zur Blütezeit der Oper auch der Text von Berufenen geschaffen wurde. Daher ist es bei uns eine auffallende Erscheinung, wenn ein Operntext von einem Dichter oder gar Dramatiker geschrieben ist. Und darum ist es ein besonderes Verdienst von Béla Balázs, dass ihm eine seiner schönsten, dichterischen Konzeptionen nicht zu gut für einen Operntext war und dass er damit zur Entstehung eines großartigen Werkes beigetragen hat. Seinem »ereignislosen« Text fehlt es allerdings an jeder gewohnten Opernschablone. Aber wie er die Schale des alten Märchens aufbricht und die ewige Unlösbarkeit des Mann-und-Frau-Problems zeigt, erfüllt den Zuschauer mit tragischer Spannung und fesselt ihn vom ersten bis zum letzten Wort. Die skizzenhafte Art, wie er es der Musik überlässt, die Konturen mit Leben zu füllen, macht die engste organische Verschmelzung des Textes mit der Musik möglich. Weder das Drama noch die Musik sind gezwungen, ihr gesondertes Dasein zu verleugnen, dennoch verbinden sie sich zu einer höheren Einheit. Diese Einheit wird durch den symphonischen Aufbau der Musik nicht nur nicht gestört, vielmehr noch gehoben: Der Bogen des Dramas und der parallele Bogen der Musik stärken und gestalten sich gegenseitig zu einem gewaltigen doppelten Regenbogen.

Die konstruktive Kraft dieser Musik kommt noch mehr zur Geltung, wenn wir den Holzgeschnitzten Prinzen hören. Das Ballett gleicht mit seinem spielerischen, beweglichen Allegrokontrast das trostlose Adagio der Oper aus. Die beiden Werke fügen sich wie zwei Sätze einer riesigen Symphonie ineinander. Und wer das Atonale für Bartóks Hauptergebnis hält, möge doch endlich merken, dass beide Werke wiederkehrende Grundtonarten aufweisen, genau wie irgendeine Mozart-Oper.

Die Aufführung war eine der schönsten des ganzen Jahres. Dirigent Tango hatte bereits im vorigen Jahre bewiesen, dass man nicht unbedingt zwanzig Jahre alt und Ungar sein müsse, um die neue ungarische Musik zu verstehen. Es gibt Schlüssel zu jeder neuen Kunst, sie sind: Talent, bereitwillige Aufnahmefähigkeit, technisches Können. Es geschah voriges Jahr bei der Aufführung des Tanzspieles vielleicht zum ersten Mal, dass ein ehrlicher Künstler ohne die bei Dirigenten übliche »schulterklopfende« Attitüde an ein ehrliches Werk heranging: Und Bartóks Musik erklang vielleicht zum ersten Mal so, wie sie erdacht worden war. Jetzt hat sich dieses »Wunder« wiederholt, und sicherlich werden bei jeder weiteren Wiederholung immer mehr Menschen entdecken, dass diese Musik gar nicht so unverständlich ist.


Béla Bartók – Weg und Werk

Zusammengestellt von Bence Szabolcsi »Béla Bartópks Oper – von Zoltán Kodály«
Verlag Boosey & Hawkes GmbH Bonn © Corvins Verlag, Budapest 1957