»Jenůfa«-Urfassung
Mark AudusLeoš Janáčeks Jenůfa – das Werk, das seinen Durchbruch bewirkte – ist nun auch in der Brünner Urfassung aus dem Jahr 1904 verfügbar. Durch das Abtragen zahlreicher Schichten von Änderungen, die Janáček selbst und andere vorgenommen hatten, ist es gelungen, jene Wirkung zugänglich zu machen, die dieser Dauerbrenner in der Publikumsgunst in den Anfangstagen auf das Publikum hatte.
Die Wirkung der sinistren Ballade von Gabriela Preissová, in der Motive vom »verlassenen Mägdlein«, von Bruderhass und Kindsmord, gesteuert durch die drückenden moralischen Normen einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft, verschränkt werden, war nicht so sehr Sache der Schauspielvorlage, sondern erhielt erst Profil durch Janáčeks unerschütterlichen Glauben an die Macht der Musik. Es scheint sogar, dass Janáčeks musikalische Aufrichtigkeit das Volksstück überhaupt erst in den Rang einer ergreifenden Tragödie erhoben hat.
Charakteristischer Musikstil
Leoš Janáčeks Oper Jenůfa gehört vor allem deswegen zu den beliebtesten und meistaufgeführten Werken des Komponisten, sie brachte ihm den Durchbruch und legte den Grundstein für seine weiteren Erfolge. Heute wird die Oper zumeist in der »Brünner Fassung von 1908« aufgeführt – das Ergebnis einer Reihe von Modifikationen, die Janáček selbst zwischen 1906 und 1913 vornahm.
Aus der Zeit, in der das Werk uraufgeführt wurde – dem Jahr 1904 – stammen einige Erinnerungen, Kritiken und Anekdoten, aus denen das hervorgeht, was uns bis heute an Janáček fasziniert, unter anderem seine Verwurzelung in der Volksmusik und der Einsatz der Sprachmelodie. Die Einzelheiten der Version, in der Jenůfa erstmals aufgeführt wurde und die Janáčeks charakteristischen Musikstil und sein künstlerisches Streben erstmals definierten, blieben jedoch lange Zeit im Dunkeln. Endlich ist es durch das Abtragen zahlreicher Schichten von Änderungen, die Janáček selbst und andere vorgenommen haben, gelungen, uns jene Wirkung zugänglich zu machen, die dieser Dauerbrenner in der Publikumsgunst in den Anfangstagen auf das Publikum hatte.
Die Version aus dem Jahr 1904, als Jenůfa vom kleinen Ensemble des Brünner Nationaltheaters gespielt wurde, ist ideal für Produktionen in kleinen und mittleren Häusern, eignet sich aber durchaus auch für die großen Opernbühnen.
»Es gibt viele Unterschiede, die die Faszination der Urfassung ausmachen.«
Lückenloses Verständnis
Die Handlung der Oper ist unverändert, und auch die Musik ist klar erkennbar – dennoch gibt es viele Unterschiede, die die Faszination der Urfassung ausmachen. Die vier Hauptrollen sind stimmlich stärker gefordert und die Orchestrierung atmet den Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Einige Passagen sind stark gekürzt, darunter die Ensembles im ersten Akt, die in der Fassung aus 1904 eher zum traditionellen pezzo concertato der italienischen Oper tendieren. Lacas Liebeserklärung an Jenůfa gegen Ende des zweiten Aktes war ursprünglich ein erweitertes Ersatzstück, das Janáček in späteren Versionen auf einige wenige Takte reduzierte. Das sind nur zwei der augenfälligeren Beispiele in einer Fassung voller Überraschungen – keine einzige Seite der Opernpartitur blieb von Janáčeks eigenen Änderungen ausgespart, vom Xylophonsolo am Anfang bis zu den wunderbaren Schlussakkorden.
Die Jenůfa-Fassung aus dem Jahr 1904 war die Grundlage aller Aufführungen des Werks in den ersten beiden Jahren seiner Existenz. Damit ermöglicht sie uns ein lückenloses Verständnis der Entwicklung einer der größten Gestalten in der Oper des 20. Jahrhunderts. Es geht hier aber um viel mehr als musikwissenschaftliches Interesse – ohne diese Fassung wäre es nicht möglich, dass das Publikum erneut jenen Reiz des Neuen, jene unverfälschten Emotionen erlebt, die das Werk in die Nähe des Verismo um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert rücken. Und sie ermöglicht uns zum ersten Mal einen Blick auf das »Jugendbildnis« einer geliebten Freundin.