Metamorphose von Klang

Jay Schwartz


PDF herunterladen
Per E-Mail senden

© Universal Edition/Eric Marinitsch

In Ihren Werken findet sich häufig so etwas wie eine Metamorphose, es ist wie eine Leitidee. Woher kommt das?

Schwartz: Der Aspekt der Metamorphose steht in engem Zusammenhang mit Zeit. Es geht darum, dem Hörer das musikalische Material nicht auf einen Schlag preiszugeben. Auf diese Weise kann ein hohes Maß an Spannung generiert werden, indem zu Beginn einer Komposition nur ein sehr begrenzter Teil des motivischen Materials exponiert wird, das wiederum im weiteren Verlauf entwickelt wird, so als ob die organische Verwandlung sich genuin vor dem Hörer vollzöge, während er diesen Prozess beobachtet.

Vielleicht hat dieser Aspekt von Metamorphose in meiner Musik auch seinen Ursprung in der Intention eines dramaturgischen Erzählens. Wenn ich eine Geschichte erzähle, möchte ich dem Zuhörer am Anfang nicht alles enthüllen, was passieren wird. Wenn man eine Geschichte spannend erzählen möchte, beginnt man im langsamen Tempo und mit wenigen Details, so dass der Zuhörer bestimmte Erwartungen entwickeln kann, was sich ereignen, was sich entfalten könnte. Ich stelle mir vor, dass der Zuhörer am Ende für die Geduld, die er der Komposition entgegengebracht hat, belohnt wird, wenn in deren Verlauf ein Punkt erreicht wird, an dem sich ein größeres Ereignis ankündigt – er wird gleichsam belohnt dafür, dass er die Metamorphose von Klang und thema­tischem Material mitvollzogen hat.

Sie meinten einmal, dies sei eine Art aufrichtiger Manipulation der Zuhörer.

Schwartz: In der Tat kann die Verwendung einer sich auf Metamorphose gründenden Form als tendenziell manipulativ empfunden werden, derart dass das Publikum darauf verpflichtet wird, dem Komponisten in eine bestimmte Richtung zu folgen. Freilich ist Manipulation in vielen Zusammenhängen negativ konnotiert. Ich denke jedoch eher an eine Manipulation in narrativem Sinne, in der Weise, dass es eine Erzählstimme gibt anstelle eines Konglomerats aus kontingenten Ereignissen. Es gibt eine Erzählstimme, die dem Auditorium gegenübertritt und auf die akustische Gestaltung dieser nächsten 20 Minu­ten einen entscheidenden Einfluss hat. Diese Art von Manipulation ist es, die mir vorschwebt: die die Zuhörerschaft mit sich zieht oder – besser – dazu verführt, sich dem Spannungs­bogen der Erzählung anzuvertrauen.

Vermutlich wird dies nicht funktionieren können, wenn man dem Widerstand entgegensetzt. Möglicherweise aber wird sich ein aufgeschlossenes Publikum dem Sog der Komposition nur ungern entziehen wollen. Oft erhalte ich Reaktionen aus dem Auditorium, die in etwa lauten: »Es hört nicht auf. Die Musik hat mich nicht losgelassen.«

Sie sprechen davon, Zuhörer auf eine Reise mitzu­nehmen; aber diese können nicht immer der Sprache der Komponisten folgen. Welche Art von musikalischer Sprache nutzen Sie, um das Publikum zu gewinnen?

Schwartz: Musik als Kunstform stützt sich zu einem großen Teil auf Erinnerung – wie gut erinnert sich ein Zuhörer daran, was vor drei Minuten stattgefunden hat? In welcher Weise ist er in der Lage, dies mit Blick auf den weiteren Verlauf der Komposition zu speichern und somit die Form zu aktualisieren? Es ist wie beim literarischen Erzählen: Man muss sich an die Information, die einem zu einer bestimmten Figur oder einem Ereignis früher mitgeteilt wurde, erinnern, um der Erzählung im Ganzen folgen zu können. Mit der Musik verhält es sich nicht unähnlich – sie ist abstrakter, aber ein Auditorium, das längeren Formverläufen zu folgen gewohnt ist, wird sich während des Zuhörens auch mehr Formmomente vergegen­wärtigen können. Hier handelt es sich nicht unbedingt um etwas Naturhaftes, und insofern teile ich auch nicht die Meinung, Musik sei in jedem Fall eine universell gültige Sprache.

Andererseits habe ich in meinen Werken immer wieder auch akustische Phänomene zu evozieren versucht, die tendenziell eine Vielzahl von Hörern auf einer sehr instinktiven Ebene berühren, ohne jedoch insgesamt die Ansprüche an den Hörer oder die Qualität zu reduzieren.

»Die Musik der Gegenwart ist neu und zugleich Teil des Universalwerkes.«

Ruskin Watts, mit dem Sie an »Music for Voices and Orchestra« zusammengearbeitet haben, schrieb einmal, dass »Schwartz besessen vom archaischen Urschrei des Klangs« sei. »Music for Orchestra II«, das sich auf »Music for Voices and Orchestra« bezieht, wurde soeben bei Wien Modern aufgeführt. Was hat Sie dabei angetrieben?

Schwartz: Music for Orchestra II beruht auf einer Form, die mich in den vergangenen Jahren zu einer inspirierenden kompositorischen Struktur geführt hat und deren Potenzial für mich darin besteht, dass sie es erlaubt, einen starken Sog sowohl auf der zeitlich-horizontalen als auch auf der harmonisch-vertikalen Ebene des musikalischen Geschehens zu generieren. Man könnte diese geometrisch fundierte Form als Chiasma beschreiben, als ein X. Das Gerüst ist recht einfach zu erklären: Einerseits gibt es ein Klanggeschehen, das in sehr hoher Lage beginnt, so hoch, dass man es eher als »Weißes Rauschen« denn als Ton bezeichnen würde, und das sich sehr langsam zu etwas entwickelt, was wir als konkrete Tonhöhe fassen können. Fast simultan ereignet sich etwas anderes, das sehr tief und extrem leise ansetzt. Diese zwei Linien bewegen sich nun langsam, doch wahrnehmbar aufeinander zu, so dass die Zuhörer den Sog der sich ankündigenden Konsonanzen intuitiv verspüren, und bald fragt man sich: »Wann werden die Linien aufeinanderprallen?« Genau das war meine Intention. Ich habe immer wieder ­Experimente an Synthesizern durchgeführt, wobei ich Sinuswellen eingesetzt und das Tempo sowie die Intervallverhältnisse manipuliert habe, um dieses Formgerüst aus zwei extrem reduzierten Linienbewegungen zu komponieren. Es ist absolut spannend zu hören, wie sich die Linien im Durchgang durch Konsonanzen und Dissonanzen einander annähern, um zuletzt ins Unisono zu münden. Danach streben sie – wie im Krebsgang – wieder auseinander.

In einigen Ihrer Kompositionen verwenden Sie Texte. Die Art, wie Sie sie einsetzen, ist freilich niemals eine konventionelle.

Schwartz: Ich tendiere dazu, die Stimmen in meinen Vokalkompositionen eher instru­mental zu behandeln, und folglich vermitteln sie nicht vorrangig einen verständlichen Text. Das mag zu einem guten Teil begründet sein in meiner Affinität zu früher Vokalmusik, zum Gregorianischen Gesang und besonders zur Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts, wo die Verständlichkeit des Textes nicht unbedingt an erster Stelle stand. Hier entstanden aus Vokalen und Melismen komplexe Strukturen, die den Text bisweilen aus seinem liturgischen Kontext herauslösten – nicht immer zum Gefallen der kirchlichen Autoritäten. Meine ästhetische Praxis trennt die Syntax von den phonetischen Subtilitäten der Wörter, indem sie ein Wort aus seinem textuellen Kontext isoliert und mit Blick auf die Schönheit der Klänge, speziell der Vokale, in einen musikalischen Zusammenhang setzt.

In welchen Programmrahmen sehen Sie Ihre Musik vorzugsweise eingebunden?

Schwartz: Mich interessieren Programme, die zeitge­nössische Werke neben solche der klassischen Tradition stellen, so dass sie sich gegenseitig befruchten können. Es gibt philosophische Theorien, die besagen, dass jedes heute geschaffene Kunstwerk prinzipiell das Kollektive, das heißt das Gesamt der Kunst aus Vergangenheit und Gegenwart, verändert. Jeder heute lebende Dichter trägt etwas zum Inhalt des Universalwerkes bei, wie dies z. B. schon Shakespeare getan hat. Die Musik der Gegenwart ist neu und zugleich Teil des Universalwerkes.

Interview: Eric Marinitsch