Pablo Heras-Casado über Pierre Boulez

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Sie gelten als letzter Meisterschüler von Pierre Boulez. Wie haben Sie seine Arbeit mit Ihnen erlebt?

Heras-Casado: Das erste Gefühl war der gewaltige Eindruck, einer lebenden Legende gegenüber zu stehen. Was den offiziellen Unterricht anbelangt, studierte ich zwei Jahre an der Lucerne Festival Akademie bei ihm. Wir hatten die eigentlichen Unterrichtsstunden mit dem Orchester, und wir hatten Diskussionen mit ihm über alles, was die Stunden und das Repertoire betraf.

Sein Hauptinteresse lag immer darauf, der Musik Raum zu lassen, der Partitur Raum zu lassen, nicht zu übertreiben.

Ich würde sagen, dass der Fokus seines Unterrichts zu etwa 80 Prozent auf die Partitur gerichtet war und darauf, wie der Inhalt der Partitur auf die vollkommenste und ernsthafteste und echteste Art zu übertragen sei. Das klingt ziemlich einfach und ist auch ziemlich offensichtlich, ist aber wirklich eine große Sache. Natürlich muss man dazu bereit sein: mehr als nur bereit vor dem Orchester zu stehen, darüber hinaus volle Kontrolle und Bewusstheit darüber zu haben, was notiert ist und wie es klingen soll. Das war sein Hauptanliegen.

Hat er über Körpersprache geredet oder Ihnen gesagt, wie die Energie der Partitur auf das Orchester zu übertragen sei? Hat er Ihnen zum Beispiel gesagt, ob dieser Impuls von der Schulter oder vom Ellbogen ausgehen soll? Unterrichtete er in einer spezifischen oder eher allgemeinen Weise?

Heras-Casado: Er unterrichtete in einer eher allgemeinen Weise, er war nie eine Art typischer Dirigierlehrer. Ich hatte früher viele solche. Jede Schule ist gut, wenn man guten Unterricht bekommt – auch schlechten, sodass man abschätzen kann, was schlecht oder gut für einen ist.

Nur in einigen besonderen Situationen, wenn Boulez den Eindruck hatte, dass die Klarheit der Musik leiden könnte, hätte er so etwas gesagt wie »also, Sie können ein wenig mehr mit Ihrem Handgelenk machen«. Nichts jedoch im Hinblick auf eine festgelegte Technik. Sein Hauptinteresse lag immer darauf, der Musik Raum zu lassen, der Partitur Raum zu lassen, nicht zu übertreiben. Und das stets in einer reduzierten, verdichteten und fokussierten Weise, da seiner Meinung nach – und ich stimme darin völlig überein – die Dirigiertechnik sehr rudimentär ist, recht grundsätzlich, nicht zu kompliziert.

Man kann es an ihm selbst sehen: sein Repertoire an Bewegungen, selbst bei den schwierigsten und komplexesten Partituren, ist wirklich einfach.

Im Prinzip ist da nichts, was visuelle Aufmerksamkeit erregt. Seine Gestik auf dem Bild [zeigt auf ein Boulez-Plakat] ist ein perfektes Resümee seiner Dirigierweise. Er versuchte immer, diese sehr klar zu halten, sehr anschaulich, in Kontakt mit seinem eigenen Gesicht, seinen eigenen Augen, ohne Verwendung eines Taktstocks. Wenn die Technik klar genug der Wahrnehmbarkeit des Impulses dient – wo die Eins ist und die Drei, einige Grundsignale bleiben in der linken Hand – ist es das. Das ist alles. Aber natürlich kommt alles von hier [zeigt auf seine Stirn].

Ich habe öfters mit Musikern aus Orchestern gesprochen, die er regelmäßig dirigiert hat, so kürzlich mit Mitgliedern des Chicago Symphony Orchestras. Sie alle haben noch lebhaft in Erinnerung, wie Boulez dort über mehr als zwei Jahrzehnte regelmäßig als Dirigent wirkte. Sie alle erinnern sich an die Intensität und die Klarheit, mit der er die Partitur ver- und übermittelte. Das ist, was ein Musiker vorrangig möchte – und niemand war darin so klar wie er.

Ich denke, was Boulez kennzeichnet, ist seine Kontrolle und Durchdringung. Er konnte darüber sprechen und er hatte ein unglaubliches Gehör. Nachdem er jedoch Klarheit über die Partitur verschaffte, ließ er auf einer zweiten Ebene Musik geschehen.

Heras-Casado: Genau.

Von ihm kamen niemals Stehsätze, er war weder bevormundend noch bot er große Lösungen an.

Hat er darüber gesprochen?

Heras-Casado: Über diesen Aspekt wurde nicht gesprochen. Von ihm kamen niemals Stehsätze, er war weder bevormundend noch bot er große Lösungen an. Wenn man aber intelligent genug war und ihm folgte, konnte man daraus etwas lernen – er würde derartiges niemals direkt aussprechen, er würde niemals über diese Freiheit gegenüber dem Orchester sprechen. Man kann dies aber an seiner Dirigierweise ablesen und daran, was er von seinen Studenten und dem Orchester forderte. Wenn man dem Orchester das Gefühl gibt, alles unter Kontrolle zu haben – sodass klar ist, worüber wir sprechen, was wir spielen – und nicht versucht in die Musik einzudringen oder sich ihr aufzudrängen, dann fließt sie.

Genau so hat er dies in seiner Dirigierweise umgesetzt. Er war präsent, aber nie zu präsent. Er steuerte bei, was ein Musiker benötigt, aber lediglich als Unterstützung, damit sein Part mit dem übrigen Orchester zusammengeführt wird. Er versuchte jedoch nie den Diskurs zu stören, da jeder selbst Musiker ist und Vorstellungen über eine bestimmte Phrasierung oder einen bestimmten Ton oder eine Farbe hat.

Vielleicht ist es zu allzu simpel, aber letzten Endes trifft das auf jede Art von Repertoire zu. Vielleicht sprechen wir über so manche komplexe Partitur in einer modernen Sprache, aber ich denke, man kann das auf jede Musik übersetzen und transponieren.

Also hat Boulez keine Spezialkurse für Dirigenten gegeben, die sich auf zeitgenössische Musik spezialisiert haben. Es ging darum, die Musik lebendig zu machen.

Heras-Casado: Genau. Ich habe ihn nie von zeitgenössischer Musik sprechen gehört, oder von moderner Musik. Er hat diese Label nie verwendet. Ich meine, zufällig natürlich, wenn wir im Unterricht zum Beispiel über Stockhausen oder Strawinsky gearbeitet haben. Aber danach, in den folgenden acht Jahren, in denen ich in engem Kontakt zu ihm stand, redeten wir nur über Musik. Wir sprachen darüber auf allen Ebenen, aus der Dirigierperspektive und auch aus kompositorischer, philosophischer Sicht. Es geht um Musik.

Hat er im Unterricht Beispiele gezeigt, wie er bestimmte Takte dirigieren würde?

Heras-Casado: Ja, insbesondere seine eigene Musik betreffend. Ich hatte Glück ihn an meiner Seite zu haben, als ich seine Musik dirigierte. Oftmals würde er an kurzen Beispielen zeigen, wie ein komplexer Takt oder ein Abschnitt zu schlagen sei. Er würde das immer in einer sehr präzisen und klaren Art und Weise darstellen und immer fordern, zu reduzieren und die Gestik zu fokussieren, so gut es mir möglich war. Wenn man versucht zu viel zu zeigen, zeigt man letzten Endes weniger. Lieber mit kleineren, aber präziseren Mitteln verdeutlichen. Immer, immer.

Die Gestik, sei sie klein, reduziert und verdichtet, muss genau und präzise verdeutlichen, was in der Musik steckt. Man braucht keine Arabesken oder Fantasterei. Aber in jedem kurzen Augenblick, wenn ein bestimmter rhythmischer Schlag, eine Farbe oder Strom in der Musik vorhanden ist, dann wird alles da sein.

Mit Banalem, Trivialem oder mit Routine kann Boulez nichts anfangen.

Ich erinnere mich, dass ich das Royal Academy Ensemble in London dirigierte, als Boulez einen Ehrendoktor bekam und seine Reise nach London ausdehnte. Er war in Aldeburgh und nahm ein Auto, weil er bei unserer Probe dabei sein wollte. Wir haben Dérive 1 und Mémoriale (... explosante-fixe ... Originel) gespielt. Er rief an und sagte, dass er zur Probe möchte. Wir waren eine Gruppe von Studenten der Royal Academy und ich. Natürlich saß er dort und erteilte den Studenten Ratschläge – auch mir, obwohl ich als Dirigent die Verantwortung trug. Zu jener Zeit dirigierte ich in Cardiff Rigoletto, ich machte eine Menge Dinge. Er hat jedoch nie gezögert, mir einen Ratschlag zu erteilen – weil er selbstverständlich wusste, dass er das durfte.

Vor einigen Jahren, als ich in Lucerne zwei große Programme dirigieren musste, die einige seiner Kompositionen enthielten, aber auch Webern, Bartók, Berg und Berio, war er anwesend. Das war eine der intensivsten und arbeitsreichsten Zeiten meines Berufslebens, aber auch der glücklichsten, da ich ihn an meiner Seite wusste. Natürlich war er immer sehr großzügig und zögerte niemals, einen guten Ratschlag zu erteilen, aber immer in derselben Richtung: fokussiere, lass die Musik sprechen. Stelle Dich nicht über die Musik.

Die Arbeit mit jungen Studenten scheint sehr wichtig für ihn zu sein.

Heras-Casado: Die Lucerne Festival Akademie war in den letzten Jahren wahrscheinlich das wichtigste seiner Projekte, er hat so viel in die Akademie investiert: als Komponist, als Dirigent, als Lehrer, als Mensch. Die ganze Zeit über, jeden einzelnen Tag der Kursdauer, widmete er sich der Lehre und auch dem Kontakt mit den jungen Musikern. Und er verwehrte sich nie einem Gespräch oder einer Frage. Er liebte es in alle Proben zu gehen, aber nicht nur in jene der Akademie, er wollte auch die Künstler aller Gastorchester kennenlernen, in deren Proben und Konzerten sein. Das hat ihm so viel Energie und so viel Freude verschafft, ihn äußerst jung und vital gehalten.

Ich denke, jeder ist davon beeindruckt, dass er seinem Gegenüber nie das Gefühl gibt, mit einer lebenden Legende zu sprechen. Er nähert sich immer als jemand, der an Musik interessiert ist. Wenn man ernsthaft ist, dann widmet er einem Energie und Zeit.

Heras-Casado: Mit Banalem, Trivialem oder mit Routine kann er nichts anfangen. Eine Konversation über das Wetter kommt nicht vor. Das bedeutet nicht, dass er allzu ernsthaft wäre oder es ihm an Humor mangelt. Im Gegenteil, er liebt es, Scherze zu machen. Ich habe oft mit ihm Abend- und Mittagessen verbracht, in solchem Kontext ist er der großzügigste und lebendigste Gesprächspartner. Er hat jedoch kein Interesse daran, einfach nur zu plaudern oder sich die Zeit zu vertreiben. Er bleibt immerfort neugierig, er sucht eine Richtung – jeden Augenblick, den man mit ihm verbringt.


Interview: Wolfgang Schaufler
Übersetzung: Therese Muxeneder
Salzburg, Jänner 2015
(c) Universal Edition