Was ist atonal?

Interview mit Alban Berg im Wiener Rundfunk vom 23. April 1930


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© Madame d’Ora/Österreichische Nationalbibliothek
Alban Berg (1885–1935)

Also, verehrter Meister Berg, wir müssen beginnen!

Alban Berg: Fangen nur Sie an, es genügt mir, wenn ich das letzte Wort habe.

So sicher sind Sie Ihrer Sache?

Alban Berg: So sicher, wie man einer Sache sein kann, an deren Entwicklung und Wachstum man selbst seit einem Vierteljahrhundert Anteil genommen hat, und zwar nicht nur mit der Sicherheit, die einem Verstand und Erfahrung gegeben haben, sondern – was mehr ist – mit der des Glaubens.

Also schön! Es ist wohl am einfachsten, wenn ich gleich den Titel unseres Dialoges aufgreife: Was ist atonal?

Alban Berg: Die Antwort lässt sich nicht leicht mit einer Formel abtun, die gleichzeitig Definition wäre. Dort, wo dieser Ausdruck zum ersten Mal gebraucht wurde – wahrscheinlich in einer Zeitungskritik –, kann es, wie das Wort deutlich sagt, natürlich nur gewesen sein, um eine Musik zu bezeichnen, deren harmonischer Verlauf nicht den bis dahin bekannten Gesetzen der Tonalität entsprach.

Das soll wohl heißen: Im Anfang war das Wort, oder besser gesagt, ein Wort, mit dem die Hilflosigkeit ausgeglichen werden sollte, mit der man einer neuen Erscheinung gegenüberstand.

Alban Berg: Ja, das will ich sagen, aber noch mehr: Diese Bezeichnung »atonal« geschah zweifellos in der Absicht, herabzusetzen, so wie dies bei den zur selben Zeit aufgebrachten Worten, wie arhythmisch, amelodisch, asymmetrisch der Fall ist. Während sich aber diese Worte nur zu einer gelegentlichen Kennzeichnung spezieller Fälle eigneten, wurde die Bezeichnung »atonal« – ich muss schon sagen: leider – zu einem Sammelbegriff für eine Musik, von der man nicht nur annahm, dass sie keine Bezogenheit zu einem harmonischen Zentrum hat (um mich des von Rameau eingeführten Begriffes der Tonalität zu bedienen), sondern, dass sie auch allen anderen Erfordernissen der Musik, wie Melodik, Rhythmik, formale Gliederung, im Kleinen und im Großen nicht entspricht, so dass die Bezeichnung heute eigentlich soviel heißt, wie keine Musik, ja wie Unmusik. Tatsächlich stellt man sie ja auch in völligen Gegensatz zu dem, was man bisher unter Musik verstand.

Selbst wenn durch den Verlust von Dur und Moll einige harmonische Möglichkeiten verloren gegangen sind, so sind doch alle anderen Erfordernisse wirklicher und echter Musik geblieben.

Aha, ein Vorwurf! Ich muss ihn freilich gelten lassen. Nun sagen Sie aber selbst, Herr Berg, besteht nicht tatsächlich ein solcher Gegensatz, und ist durch den Verzicht auf die Bezugnahme auf eine bestimmte Tonika nicht tatsächlich das ganze Gebäude der Musik erschüttert?

Alban Berg: Bevor ich Ihnen das beantworte, möchte ich Folgendes vorausschicken: Wenn diese sogenannte atonale Musik in harmonischer Hinsicht auch nicht auf eine Dur- oder Mollskala bezogen werden kann – schließlich hat es ja auch schon vor der Existenz dieses harmonischen Systems Musik gegeben …

… und was für eine schöne, kunstvolle und phantasiereiche! …

Alban Berg: … so ist damit noch gar nicht festgestellt, ob sich nicht doch in den »atonalen« Kunstwerken des letzten Vierteljahrhunderts, zumindest in Hinblick auf die chromatische Skala und die daraus resultierenden neuen Akkordbildungen, ein harmonisches Zentrum, welches natürlich nicht mit dem Begriff der alten Tonika identisch ist, finden lassen wird. Selbst wenn dies in Form einer systematischen Theorie nicht gelingen sollte …

Ach, diesen Zweifel finde ich unberechtigt!

Alban Berg: Na, umso besser!

Sie haben ja auch auf meine frühere Frage noch gar nicht geantwortet, ob nämlich nicht wirklich ein solcher Gegensatz zwischen der früheren und der jetzigen Musik besteht und ob also durch den Verzicht auf die Bezogenheit auf eine Tonika nicht tatsächlich das ganze Gebäude der Musik ins Wanken gekommen ist?

Alban Berg: Nun, wo wir uns geeinigt haben, dass durch den Verzicht auf die Dur- und Molltonalität keineswegs harmonische Anarchie einzureißen braucht, kann ich diese Frage viel leichter beantworten. Selbst wenn durch den Verlust von Dur und Moll einige harmonische Möglichkeiten verloren gegangen sind, so sind doch alle anderen Erfordernisse wirklicher und echter Musik geblieben.

Heute weiß man ja, dass atonale Kunst für sich genommen fesseln kann, ja in bestimmten Fällen sogar fesseln muss. Dort nämlich, wo echte Kunst ist! Es handelt sich nur darum, zu zeigen, ob atonale Musik wirklich in jenem gleichen Sinn als Musik zu bezeichnen ist wie alles frühere Schaffen. Das heißt, ob – wenn sich, wie Sie behaupten, nur das harmonische Fundament geändert hat – alle anderen Elemente der bisherigen Musik auch in der neuen vorhanden sind.

Alban Berg: Das behaupte ich allerdings und könnte dies anhand einer modernen Partitur in jedem Takt nachweisen. Vor allem nachweisen – um mit dem Wichtigsten zu beginnen –, dass dieser Musik, wie jeder anderen, die Melodie, die Hauptstimme, das Thema zugrunde liegen, beziehungsweise ihr Verlauf dadurch bedingt ist.

Ja, ist denn innerhalb dieser Musik Melodie im herkömmlichen Sinn überhaupt möglich?

Alban Berg: Ja natürlich, sogar eine gesangliche.

Nun, was den Gesang betrifft, Herr Berg, so befindet sich die atonale Musik ja doch auf neuen Wegen. Hier gibt es unbedingt bisher Ungehörtes, ja, ich möchte fast sagen vorläufig Unerhörtes.

Alban Berg: Aber doch nur in Bezug auf das Harmonische; darüber sind wir uns ja einig. Es ist aber ganz falsch, dies im Hinblick auf die sonstige Eigentümlichkeit der melodischen Linienführung als einen neuen Weg, wie Sie behaupten, oder gar als Ungehörtes und ­Unerhörtes zu bezeichnen. Auch bei einem Gesangspart nicht, auch wenn er sich, wie unlängst zu lesen war, durch ­instrumental chromatische, verkrauste, verzackte, weitsprüngige Intervalle auszeichnet, ebensowenig, wie damit allen gesanglichen Notwendigkeiten der Menschenstimme widersprochen wird.