Atmosphères

George Benjamin


PDF herunterladen
Per E-Mail senden

Atmosphères bricht bekanntlich mit sämtlichen traditionellen Kategorien westlicher Kunstmusik. Es gibt absolut keine erkennbare Melodie mehr, die Harmonik ist auf ein Dahingleiten satter chromatischer Cluster reduziert, und Pulsschlag – respektive jegliche Art von herkömmlicher rhythmischer Artikulation – fehlt gänzlich. Sämtliche gewohnte Strukturwegweiser bleiben aus, ebenso jeglicher Zusammenhang zu normiertem Forminventar, ungeachtet des Gespenstes einer Reprise gegen Ende des Werks.


Dafür ist der Hörer mit einer zeitlupenartigen Aufeinanderfolge von ineinander überquellenden Texturen konfrontiert, in der die instrumentale Klangfülle mehr mit den Überblendungen und dem ­Brummen von elektronischer Musik gemein hat als mit einem herkömmlichen Symphonieorchester. Geringfügige Spuren von Fremdeinflüssen sind erahnbar – ­Debussy etwa, ein wenig Richard Strauss, sicherlich Bartók – wenngleich Ligetis Visionen von verblüffender, freilich radikaler Originalität zeugen.

Ligeti war ein genialer Klangpoet.

George Benjamin

Ein weiteres auffallendes Element des Werks ist seine ­Unabhängigkeit von einigen in der zeitgenössischen Musik der frühen 1960er-Jahre weithin herrschenden Dogmen: Vorbei sind die perkussiven, pointillistischen Texturen serieller Musik, und weitverbreitete Tabus – wie etwa das Oktavverbot – werden ignoriert. In der solistischen Führung sämtlicher Streicherstimmen und der Aufgliederung des Taktschlages in verschiedene metrische Einheiten mag der Einfluss von Xenakis aus den 1950er-Jahren erkennbar sein – wenn auch die künstlerische Sensibilität kaum unterschiedlicher sein könnte.

Über solche stilistische Feinheiten hinaus findet das Ohr unmittelbar Genuss an der Art, wie sich das Stück bewegt, wie die Klangoberfläche mittels subtiler ­Tempo­wechsel und betörender Timbreveränderungen durch die Register gleitet. Die Musik fließt einer Lava gleich, summt wie ein Bienen­schwarm oder vermag auch wie eine Vielzahl kleiner Äolsharfen zu glimmern. Beginnend mit einer gewaltigen, erstickenden Decke statischen Klangs durchläuft Atmosphères einen nahezu ununterbrochenen Bogen, ehe das Werk am Ende gespenstisch in totale Stille abdriftet.

Dieses scheinbar nahtlose Netz von Tönen stellt – paradoxerweise – eine Collage von unabhängigen, dezenten kompositorischen Modulen dar, jedes von unterschiedlicher Dauer und von subtiler Kontrastwirkung; gekoppelt und überlagert von einer Technik, ähnlich jener der Montage bei der Gestaltung von Tonbandmusik.

Könnte dieses hohe Maß an innerer Struktur – ge­bun­den an eine raffinierte und detailreiche instrumentale Setzweise – erklären, warum dieses Stück als praktisch einziges Beispiel von »Texturmusik« aus den 1960er-Jahren in das Repertoire Eingang gefunden hat?

Vielleicht kann man einfach sagen, dass Ligeti ein genialer Klangpoet war und dass dieses Stück – ein Requiem wie so manches seiner Werke aus dieser Schaffens­periode – schon beim ersten Hören bei den meisten einen tiefen Eindruck hinterlässt. Ungeachtet dessen zählt Atmosphères fraglos zu den außergewöhnlichsten Äußerungen eines Komponisten im 20. Jahrhundert.