»Aus einem Totenhaus« – Editionsfragen

John Tyrrell


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John Tyrrell gilt als der Janáček-Experte. Während die Quellenlage bei Káťa Kabanová, Das schlaue Füchslein und Die Sache Makropulos relativ überschaubar war, sah er sich bei der Herausgabe von Aus einem Totenhaus mit komplexen Fragen konfrontiert.

Janáček schrieb seine späten Opern dreimal. Die erste Version war eine komplette, voll orchestrierte und fortlaufende Partitur, die allerdings mit der Endfassung noch wenig zu tun hatte. Anstatt als Quelle für musikalisches Material könnte man sie als eine Art Improvisation betrachten oder als einen Weg, in das Werk einzutauchen und sein dramatisches Potenzial zu erfassen. Einige Themen finden sich jedoch in späteren Versionen wieder, wo Janáček sie seinen intensiven Variationstechniken unterwirft.

Die zweite Version war dagegen der Endfassung viel näher. Nachdem Janáček eine Abschrift dieser Version verfasst hatte, sah er sich den Endentwurf noch einmal an, bastelte noch ein wenig daran herum (zum Beispiel, indem er ihn durch orchestrale Verdoppelungen ergänzte) und übergab ihn dann dem Opernhaus. Seit Káťa Kabanová fanden die Premieren in Brno statt, wo der Komponist die Proben beobachten, eng mit dem Dirigenten František Neumann zusammenarbeiten und in letzter Minute Änderungen vornehmen konnte, wo es notwendig war. Eine zweite, vollständige Partitur, die nun auch die kurzfristigen Änderungen enthielt, wurde durch Abschrift erstellt und an den Verlag, die Universal Edition, geschickt. Auf diese Weise gelangten Káťa Kabanová, Das schlaue Füchslein und Die Sache Makropulos recht einfach von der Originalhandschrift zu Aufführung und Publikation. Bei den modernen, authentischen Ausgaben, die die Universal Edition für Káťa Kabanová (herausgegeben von Sir Charles Mackerras) und Das schlaue Füchslein (herausgegeben von Jiří Zahrádka) herausgab, galt es nur, die üblichen Probleme wie Unachtsamkeiten oder Ungereimtheiten zu bereinigen.

Man möchte vielleicht meinen, dasselbe würde auch für Janáčeks letzte Oper Aus einem Totenhaus gelten, deren Entstehungsprozess genauso straff war und fast alle oben beschriebenen Prozesse durchlief: drei handschriftliche Versionen des Komponisten (im ersten Akt sogar eine weitere Teilversion), eine sorgfältige Abschrift der beiden Kopisten Janáčeks Vertrauens, Václav Sedláček und Jaroslav Kulhánek (Sedláček schrieb den ersten Akt und Kulhánek den dritten, den zweiten Akt teilten sie untereinander auf).

Drei Monate lang kamen die beiden jeden Tag zu Janáček und arbeiteten mit ihm, gewissermaßen als seine Schreiber, zusammen. So konnte der Komponist problematische Passagen erklären und neue Ideen diktieren, woraus sich ergab, dass diese Abschriften oft weiter gehen als die Originalpartitur. Janáček prüfte die ersten beiden Akte, ergänzte sie um Verdoppelungen und kleine Änderungen und fügte im Fall des ersten Aktes sogar Metronomangaben ein (er durchdachte sie sorgfältig und schrieb sie zuerst mit Bleistift und dann erst mit Tinte nieder). Janáček nahm Kulháneks Abschrift vom dritten Akt im August 1928 mit in den Urlaub, starb aber, bevor er diesen Akt auf dieselbe Weise überarbeiten konnte.

Extensive Reorchestrierung
Mit anderen Worten: Janáček hätte sich den dritten Akt noch einmal durchsehen und an den Proben teilnehmen müssen, um dieser Oper denselben Schliff wie ihren drei Vorgängerwerken zu geben. Nur einige diskrete, praktische Änderungen wären noch nötig gewesen.

Aber es kam anders. Janáčeks Tod im August 1928 folgte kurz darauf der seines erfahrenen Weggefährten, des Komponisten František Neumann. Stattdessen wurde die Produktion dem Bühnendirektor Ota Zítek, der den Text überarbeitete, und zwei von Janáčeks Schülern anvertraut. Während Břetislav Bakala, wie schon bei Káťa Kabanová und Das schlaue Füchslein, die Klavier-Vokalpartitur verfasste und die Premiere dirigierte, wurde die Partitur von einem anderen Schüler, dem Komponisten Osvald Chlubna, erstellt, den Janáček ausgewählt hatte, um den dritten Akt seiner ersten Oper Šárka zu orchestrieren.

Das Ergebnis dieses Gemeinschaftswerks, das anschließend von der Universal Edition sowohl als Orchesterpartitur als auch als Klavierauszug gedruckt wurde, war ein Akt außergewöhnlicher Kühnheit, der eine extensive Reorchestrierung, zusätzliche Takte, Textänderungen und eine Reihe von neuen Bühnenanweisungen beinhaltete, Vokallinien und sogar ein mögliches neues, »erhebendes« Ende hinzufügte.

In einem Artikel aus dem Jahr 1958 versuchte Chlubna, diese Version zu rechtfertigen, indem er darauf hinwies, wie sehr sich Janáčeks Originale oft von der Endversion unterschieden. Er deutete an, dass sich der Komponist seines nahenden Endes bewusst war, erbittert gegen die Zeit ankämpfte, um seine Gedanken zu Papier zu bringen, und aus diesem Grund ein Skelett hinerließ, dem nur noch Fleisch in Form von Orchestrierung hinzugefügt werden musste. Das ist natürlich Unsinn.

Es stimmt, dass sich die Originalpartitur von Janáčeks früheren Opern unterscheidet. Sie wurde zwar auf leerem Papier mit handgezogenen Notenlinien verfasst ­(während alle anderen Opern bis Makropulos auf gedrucktem Notenpapier geschrieben wurden), doch Janáček verwendete bereits eine Zeitlang selbst erstelltes Notenpapier: Selbst große Kompositionen wie die Sinfonietta und die Glagolitische Messe waren im Jahr davor auf dieselbe Weise geschrieben worden. Dasselbe gilt auch für die Ouvertüre, die auf Janáčeks unvollendetem Violinkonzert basiert, und es entsteht der Eindruck, als hätte er einfach die Methode seiner Wahl gefunden.

Janáček hatte die nötige Zeit, um drei Versionen der Oper zu schreiben – wenn er wirklich vorgehabt hätte, von vorn zu beginnen und viele zusätzliche Instrumente hinzuzufügen, hätte er das im Zuge der Überarbeitungen oder der Abschrift getan. Fern davon, gegen die Zeit anzuschreiben, fand er die Ruhe, sein wunderschönes Streichquartett (JW VII/13) zu schreiben, das den Spatenstich für die neue Universität Brno zum Anlass hatte, und begann, Begleitmusik für ein Theaterstück zu komponieren (JW IX/11). Als Chlubnas Änderungen in den Mittelpunkt des Interesses rückten und einige Dirigenten begannen, diese auszulassen, fand man heraus, dass die knappe Partitur, die Janáček hinterlassen hatte, im Opernsaal wunderbar funktionierte. Was das überarbeitete Ende betrifft, so wurde es wahrscheinlich aufgrund der Annahme, Janáček würde an erhebende, erlösende Schlussteile (wie in Das schlaue Füchslein und Die Sache Makropulos) glauben und einen solchen auch für seine letzte Oper wünschen, hinzugefügt. Es ist aber klar, dass sich diese Oper stark von ihren Vorgängern unterscheidet: Das düstere Ende mit dem Gefangenenmarsch entspricht dem Inhalt des Werkes und zeigt, wie sehr Janáček vom Pessimismus seiner Zeit getragen war.

Schwarze Tinte
Wie bei Jenůfa entstanden die Probleme, mit denen sich der Herausgeber hier konfrontiert sieht, nicht durch Janáček selbst, sondern durch jene, die nach ihm kamen: Durch den Prager Dirigenten Karel Kovařovic, der Jenůfa für die Prager Premiere 1916 umgestaltete, und die Gruppe in Brno, die 1930 Aus einem Totenhaus änderte. Während es bei Jenůfa oft schwierig war, die letzte »Schicht« Janáčeks aus dem etwa sechsschichtigen Palimpsest herauszulösen, schien die Bearbeitung von Aus einem Totenhaus zunächst einfacher. Sedláček, Kulhánek und Janáček hinterließen eine Partitur in schwarzer Tinte; Chlubna trug seine Änderungen mit Bleistift ein. Alles, was ich tun musste, dachte ich, war, den Bleistift zu ignorieren und mich auf die Tinte zu konzentrieren. Das war aber leichter gesagt als getan. Besonders, als ich die Horn- und Posaunenparts umschrieb, bei denen die Tintenoberfläche zerkratzt war, war schwer zu erkennen, was zuerst da war. Ich musste mit dem Original arbeiten, da sich mit Bleistift eingetragene Stakkato-Punkte oder sogar Crescendo-Zeichen bei einer Kopie nur schwer von Tinte unterscheiden lassen.

 

Der Prozess, wieder und wieder nachzuprüfen, war also lang und arbeitsreich. Und es stellt sich noch immer die Frage, was Janáček selbst noch hinzugefügt hätte, wäre er bei den Proben anwesend gewesen (zum Beispiel im dritten Akt). Es ist einfach, die zusätzliche Instrumentation, die Chlubna hinzugefügt hat, zu streichen (Harfe, dichte Holzbläser etc.), aber sollte man die Höhepunkte dieses Werkes auf ihre originalen, überraschend kammermusikalischen Proportionen ausdünnen?

Authentisches Notationsbild
Was den Text der Oper angeht, übernahm Janáček sein Libretto unmittelbar aus Dostojewskis Roman im originalen Russisch und übersetzte den Text erst nach und nach. Teile seines Librettos sind ein schwer verständliches Mischmasch aus transkribiertem oder sogar falsch verstandenem Russisch. Es ist verständlich, dass Zítek versuchte, einen »verständlichen« tschechischen Text zu verwenden, der im Opernhaus gesungen werden konnte. Heutzutage aber, wo fast jedes Opernhaus untertitelte Übersetzungen anbietet, erscheint es vernünftig, Janáčeks gesungenen Text in seiner Originalfassung zu belassen und seine ausgezeichneten akustischen Qualitäten zur Geltung zu bringen, während das Opernhaus einen leicht verständlichen Text in der Landessprache, sei es Tschechisch, Deutsch, Englisch oder in jeder anderen Sprache, anbieten kann.

Und während Pierre Boulez in seinem Interview mit Wolfgang Schaufler Janáčeks sonderbare Notations­methoden beklagt, die nicht so »logisch« seien wie jene von Strawinsky, findet der Herausgeber, dass die Partitur so bleiben soll, wie Janáček sie hinterlassen hat, ohne die großen Veränderungen von Takt- und Zeitangaben, die eine Renotation nach Strawinsky-Art möglicherweise beinhalten – und vertritt die Ansicht, dass das authentische Notationsbild in sich selbst »beredt« genug ausdrückt, wie sich Janáček den Klang seiner Musik vorstellte.


John Tyrrell

Der Musikwissenschafter John Tyrrell ist Honorarprofessor an der Cardiff-Universität. Sein Spezialgebiet liegt in der tschechischen Musik, besonders jener von Leoš Janáček. Gemeinsam mit Sir Charles Mackerras zeichnet er u. a. für die Herausgabe der Jenůfa verantwortlich.