Begegnung mit Kurtág im Nachkriegs-Budapest

György Ligeti


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© Alexander Schlee
György Kurtág

Ich traf György Kurtág zum ersten Male im September 1945, als wir beide die Aufnahmeprüfung in Sándor Veress‘ Kompositionsklasse an der Franz-Liszt-Musikhochschule in Budapest machten. Er war 19 Jahre alt, ich 22. In jenen Tagen, nur wenige Monate nach Kriegsende, herrschte in Budapest eine große Knappheit an Lebensmitteln und Wohnungen: Etwa drei Viertel der Häuser der Stadt lagen in Ruinen. So war es für Leute, die von auswärts nach Budapest kamen, fast unmöglich, ein Bett zum Schlafen zu finden – ein eigenes Zimmer zum Studium oder gar ein Klavier waren unerfüllbare Träume. So bestand meine »Untermietswohnung« aus einer ausgedünnten Matratze auf dem Steinboden einer nach Stadtgas und Wanzen riechenden, schäbigen Küche im entfernten Außenbezirk Kőbánya. Wo und wie Kurtág zur selben Zeit untergebracht war, weiß ich nicht mehr. Es gab in ganz Budapest kein verglastes Fenster, die leeren Fensterrahmen waren mit Papier ausgefüllt, im besten Falle mit dünnen Holzbrettern vernagelt. Im Laufe des Herbstes, als es immer kälter wurde, musste man die Fenster stets geschlossen halten, wodurch es auch tagsüber finster wurde. Es gab keinerlei Heizmaterial, die dicht mit Menschen gefüllten Wohnungen waren von bitterer Kälte durchweht.

Doch nahmen wir die Härte des Alltags kaum zur Kenntnis: Der Krieg war aus, und in der Stadt pulsierte das kulturelle und künstlerische Leben in aller Vielfalt und Buntheit. Das Ende der Nazidiktatur setzte einen intellektuellen Energieschub frei, die Künste blühten auf. Hungernd und frierend, doch mit ungeahntem Elan gingen die am Leben gebliebenen Schriftsteller und Künstler an die Arbeit. In jenen mit so viel Zukunftserwartung gefüllten Tagen nahmen wir überhaupt nicht wahr, dass wir bereits im Begriffe waren, von einer totalitären Diktatur in eine andere hineinzuschlittern: Die stalinistische, kommunistische Diktatur, die zu Beginn in getarnter Form auftrat, sollte wenig später der Freiheit und dem Blühen von Kunst und Kultur ein abruptes Ende setzen.

Einen schlimmen Verlust für das geistige Leben bedeutete die Vernichtung von mehr als der Hälfte der jüdischen Bevölkerung der Stadt durch die deutschen und ungarischen Nazis. Das Vorkriegs-Budapest hatte ungefähr eineinhalb Millionen Einwohner, davon waren etwas mehr als 150.000 Juden. Die Mehrheit der Juden wurde in deutsche Todeslager transportiert oder von den bewaffneten Einheiten der ungarischen Nazis, den Pfeilkreuzlern, in Budapest erschossen. Die meisten von denen, die überlebten, waren im Ghetto konzentriert, das die Nazis im Sommer 1944 errichteten.

Die sowjetische Besatzungsmacht erlaubte im Herbst 1945 die Abhaltung von freien Wahlen, mehr aus taktischen als aus ideologischen Gründen. Die gewählte demokratische, doch provisorische Links-Mitte-Regierung begünstigte das Aufblühen des intellektuellen Lebens und tolerierte die avantgardistischen künstlerischen Bewegungen.

Der bedeutendste ungarische Dichter der Zeit, Miklós Radnóti, wurde von den Nazis umgebracht. Die am Leben gebliebenen Dichter gründeten literarische ­Zeitschriften: Die vielleicht wichtigste und anregendste Zeitschrift nannte sich Válasz (»Antwort«), in ihr publizierten junge Dichter von höchstem Rang, wie Sándor Weöres und János Pilinszky, Anhänger einer radikal modernen literarischen Richtung. Der Dichter-Maler Lajos Kassák war der Anführer der Konstruktivisten, die »Europäische Schule« und der Kreis um den jüngst verstorbenen Maler Lajos Vajda standen im Brennpunkt des Interesses in den Bildenden Künsten.

Wo und wie Kurtág zur selben Zeit untergebracht war, weiß ich nicht mehr.

György Ligeti

Kurtág und ich waren angezogen und beeinflusst von diesem intensiven künstlerischen und literarischen Leben. Trotz der schlimmen Erfahrungen während der Nazi-Zeit waren wir beide von jugendlichem Optimismus erfüllt, voller Hoffnung auf eine moderne ungarische ­Kultur. Beide waren wir Bartók-Anhänger und sahen in Bartóks Musik die Grundlage für eine weitere Entwicklung eines neuen, chromatisch-modalen musikalischen Idioms, das international sein sollte und dennoch in der ungarischen Tradition verwurzelt. Unsere Freundschaft vertiefte sich, als wir entdeckten, dass wir nicht nur gemeinsame musikalische Ideen teilten, sondern auch die gleichen politischen Ansichten hatten (prononciert linksintellektuelle Ansichten, doch nicht konform mit dem offiziellen kommunistischen Gedankengut) und aus ähnlichen familiären Verhältnissen kamen: aus ungarisch-jüdischen (in Kurtágs Fall nur halb-jüdischen) intellektuellen Familien, die an die ungarische Kultur assimiliert waren. Gemeinsam war uns noch eine andere kulturelle Erfahrung: Beide kamen wir aus Gegenden des alten Ungarns, die nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien gefallen waren, beide gingen wir in rumänisch-sprachige Gymnasien und waren, zum Teil wegen der frankophilen Orientierung der rumänischen Kultur, in unseren ­Gefühlen und künstlerischen Vorstellungen stark von Frankreich angezogen.

Kurtág kam aus Lugoj, einer kleineren Stadt im ­Banat, nicht weit von der rumänisch-jugoslawischen Grenze, und studierte in Temeschwar, der Hauptstadt des Banats. Ich wurde in Dicsöszent­márton ­geboren, einer winzigen Stadt in der Mitte Siebenbürgens, und wuchs in Klausenburg auf, der größten Stadt jener Provinz. Wir beide – voneinander nicht ­wissend – nahmen zur gleichen Zeit, im September 1945, das Risiko auf uns, die rumänisch-ungarische Grenze ohne Papiere, illegal und zu Fuß zu überqueren, um nach Budapest zu gelangen. Der Entschluss, dieses Risiko einzugehen, hatte denselben Grund: Beide träumten wir davon, an der Budapester Musikhochschule zu studieren, der besten Musikschule im südöstlichen Europa, deren große Tradition bis zu Franz Liszt zurückreichte.

Das eigentliche Ziel unserer Pilgerfahrt war aber nicht nur die Schule selbst, sondern noch mehr die Person Béla Bartóks, der im Herbst 1945 aus New York zurückerwartet wurde: Er sollte sowohl seine Professorenstelle an der Musikhochschule als auch seine herausragende Stellung im ungarischen Musikleben wieder einnehmen. Obwohl keiner von uns ihn vorher kennengelernt hatte, bewunderten wir ihn mit voller Hingabe und konnten den Tag kaum erwarten, an dem wir ihn in Person sehen und hören sollten. Man kann sich unsere Verzweiflung vorstellen, als wir am Tag unserer Aufnahmeprüfung die schwarze Fahne über der Musikhochschule wehen sahen: Gerade an dem Tag traf die Nachricht ein, dass Bartók im Alter von 64 Jahren in New York gestorben war. Die Freude über unsere Zulassung in die Kompositionsklasse war auf diese Weise ganz überschattet vom Schmerz über den unwiederbringlichen Verlust unseres geistigen Vaters.

Eine ganz spontane Freundschaft entstand zwischen Kurtág und mir in jener halben Stunde, in der wir mit klopfendem Herzen im Jugendstil-Korridor der Hoch­schule darauf warteten, in den Prüfungsraum gerufen zu werden. Ich fühlte, dass ich in Kurtág einen musikalischen Weggenossen gefunden hatte – so verwandt waren unsere Ansichten und so identisch unsere Vorstellungen eines neuen Musikstils. Ich mochte Kurtágs Schüchternheit, seine introvertierte Haltung und den völligen Mangel an Eitelkeit und Eingebildetheit. Er war intelligent, ehrlich und auf eine sehr komplexe Weise einfach. Später einmal erzählte er mir, dass er seinerseits mich für einen protestantischen Theologiestudenten gehalten habe. Beide lachten wir sehr über diese Vermutung: Er hatte meine provinzlerische Schüchternheit als religiöse Strenge gedeutet – eine Auslegung, die wahrlich kaum meinem eigentlichen Charakter entsprach.

Eine ganz spontane Freundschaft entstand zwischen Kurtág und mir in jener halben Stunde, in der wir mit klopfendem Herzen im Jugendstil-Korridor der Hochschule darauf warteten, in den Prüfungsraum gerufen zu werden.

György Ligeti

Die Freundschaft, die während des Wartens auf die Aufnahmeprüfung entstand, schloss auch einen dritten jungen Komponisten ein: Franz Sulyok. Er war damals 20, und sowohl Kurtág als auch ich bewunderten ihn wegen seiner Eleganz, totalen Aufrichtigkeit und geistiger Unabhängigkeit. So wurden wir drei zu unzertrennlichen Freunden und besuchten gemeinsam Sándor Veress‘ Kompositionsklasse. Sulyok kam aus ähnlichen familiären Verhältnissen wie Kurtág und ich, wenn auch nicht aus der Provinz, sondern aus Budapest, und hatte ähnliche musikalische Ideale.

Die Lebensumstände haben uns in drei verschiedene Teile Europas verschlagen. Sulyok war der Erste, der das stalinistische Ungarn verließ: bereits 1949. Er nahm das tödliche Risiko auf sich, zuerst die ungarisch-tschecho­slowakische, dann die tschechoslowakisch-österreichische Grenze illegal zu überschreiten. Er gelangte nach Paris, wurde Schüler von Darius Milhaud und Nadia Boulanger, lebte später in Bujumbura in Afrika und ist heute wieder in Paris. Nachdem Sándor Veress 1949 Ungarn ebenfalls verlassen hatte, setzten Kurtág und ich unser Studium zuerst bei Pál Járdányi, dann bei Ferenc Farkas fort. Kurtág studierte zur gleichen Zeit auch Klavier bei Pál Kadosa und frequentierte Leo Weiners berühmte Kammermusik-Klasse. Im Dezember 1956 nahm ich Abschied von Kurtág und seiner Frau: meine Frau und ich flohen nach Österreich. Kurtág blieb in Budapest und ist mittlerweile der bedeutendste Komponist Ungarns geworden.

Trotz der geographischen Trennung blieb unsere Freundschaft uneingeschränkt erhalten – wenn wir uns von Zeit zu Zeit treffen, spüren wir die Übereinstimmung unserer musikalischen Ideale, ungeachtet der Verschiedenheit der Entwicklung, die wir seit den gemeinsamen Budapester Jahren durchgemacht haben.


Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Boosey & Hawkes Bote & Bock, Berlin.
Aus: Musik der Zeit, Band 5: György Kurtág.
Hg.: Friedrich Spangemacher. © 1986.