Boulez über Boulez



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Herr Boulez, zu Beginn der 1950er-Jahre sah es einen Moment lang so aus, als würden serielle Kompositionsmethoden auf alle Kompositionselemente ausgeweitet werden. Damit verbunden war die spannende Aussicht, dass ein neues musikalisches System begründet werden könnte. Gleichzeitig bestand aber auch die Sorge, dass die Gestaltung von Musik ebenso automatisiert werden könnte wie die Schwerindustrie – so dass Meisterwerke ohne Meister entstehen könnten, nur mit Einsatz von Technologie. Aber diese Art von Durchorganisation stellte sich als nicht haltbar heraus – zum Glück, könnte man sagen. Es war kurz nach dieser Auseinandersetzung, dass Sie Le Marteau sans maître komponierten, ein Werk, das vor genau 55 Jahren hier in Baden-Baden uraufgeführt wurde. Wenn Sie an die Zeit zurückdenken, als Sie mit der Arbeit an dieser Komposition begonnen haben: Wollten Sie mit Le Marteau zeigen, dass Spontaneität und System durchaus nebeneinander bestehen können?

Boulez: Als ich zuvor Structures komponiert hatte, wollte ich als Komponist anonym bleiben, nur ein Übermittler sein, sonst nichts. Aber sehr bald wurde mir klar, dass das unmöglich ist. In Ausnahmefällen vielleicht, aber man kann eine Komposition nicht auf der Grundlage dieser Idee aufbauen. Ich wollte allerdings nicht auf das Zwölftonsystem zurückgreifen, weil ich es als ungenügend und als Einschränkung der vorhandenen Möglichkeiten empfand. Es hätte mich in den vorhandenen Möglichkeiten zu sehr eingeschränkt. Daher begann ich ein System zu entwickeln, das Freiraum bot; ich eroberte meine eigene Freiheit nicht nur in Bezug auf das Zwölftonsystem, sondern auch hinsichtlich der Möglichkeit, innerhalb eines Systems zu komponieren. Deshalb ist Le Marteau für mich noch aus heutiger Sicht, 50 Jahre später, der Beginn einer Art … der Beginn einer Eroberung, von Freiheit.

Le Marteau schien wie eine Verbindung zwischen zwei scheinbar unvereinbaren Erfahrungen zu sein: dem streng konstruktivistischen musikalischen Ansatz der Deutschen und der Wiener Schule, wie sie Webern vermittelte, und dem, was man als eher ornamentale Elemente der französischen Musik bezeichnen könnte, besonders bei Debussy und Messiaen. Sehen Sie das auch so?

Boulez: Ja, es war tatsächlich meine Absicht zu versuchen, zwei Teile der musikalischen Welt, die bis dahin nicht kompatibel waren und sich sogar auf eine gewisse Art voneinander abgrenzten, zu verbinden. Ich denke nicht, dass Schönberg der Sichtweise Debussys gegenüber sehr freundlich gesonnen war, oder besser: damit übereinstimmte, da er sie bestimmt als zu frei empfand. Ich denke, dass Webern oder auch Berg ebenfalls keine besonderen Verehrer Debussys waren. Sie fanden: zu frei, nicht konstruktiv genug.

Es ist bekannt, dass ich eine sehr sentimentale Beziehung zu meiner Arbeit habe … und das stimmt.

Für mich hingegen, vermute ich, hatte der Konstruktivismus der drei Wiener gelegentlich fast etwas Belastendes und ich dachte, dass die Erfindungsgabe und der Einfallsreichtum, die Spontaneität eines Debussy manchmal unerlässlich sind. Man kann wirklich nicht die ganze Zeit nur konstruktiv sein, man muss auch deskriptiv sein. Ich vermute, dass es diese Art von Kombination zwischen Konstruktivismus und Spontaneität ist, die ich für wesentlich halte.

War es von Anfang an Ihre Absicht, eine Balance zwischen diesen beiden Schulen zu finden?

Boulez: Ja, zwischen der Ungezwungenheit der einen und dem Konstruktivismus der anderen. Ich glaube wirklich, dass es notwendig war, einen Ausgleich herzustellen. Ich fand beide Seiten reizvoll. Sicherlich ist die Musik von Debussy manchmal sehr leicht, das stelle ich nicht in Abrede, manchmal zumindest. Auf seine Hauptwerke trifft das allerdings nicht zu – die könnten tiefgründiger nicht sein. Der Konstruktivismus der Wiener Schule andererseits kann mitunter auch als belastend empfunden werden. Deshalb muss man mit diesem Konstruktivismus so umgehen, dass man sich gleichsam davon befreit – darin besteht wahrscheinlich das Verhältnis von Konstruktivismus einerseits und Spontaneität andererseits. Für mich sind das die beiden Elemente, die einen Musiker ausmachen.

Le Marteau wurde vor allem für seinen Klang hoch gelobt, für einen neuartigen Klang, der in die neue Musik einfloss. Welche Klangvorstellung hatten Sie zu Beginn der Arbeit?

Boulez: Zu dieser Zeit interessierte ich mich sehr für andere Kulturen und hörte sehr viel außereuropäische Musik: balinesische und afrikanische Musik, traditionelle japanische Musik, chinesische Oper und so weiter. Die jeweiligen Klangwelten, die je nach Kulturkreis spezifisch sind, interessierten mich dabei besonders. Bali zum Beispiel hat eine Art metallene Sonorität. Diese Klangqualität passt zu ihrer Musik, die sich sowohl mittels der Tonlagen wie durch die Art, wie diese Tonlagen erzeugt werden, definiert – und das ist durch Metall. In Afrika wiederum ist Holz eines der primären klangerzeugenden Materialien, und in diesem Fall besteht der Klang nicht nur aus der Tonlage, sondern auch aus dem Ton des Holzes. Und so weiter und so fort. Deshalb, ja: Die Tradition der Wiener Schule und der europäischen Schule beengte mich, ich hatte das Bedürfnis, den Raum zu erweitern. Ich bin Klang gegenüber grundsätzlich sehr hellhörig und denke, dass er ein sehr wichtiges Element in der Musik darstellt, nicht nur etwas, das man im Nachhinein vordergründig hinzugefügt. Deshalb hört man in meinen Werken einen anders gearteten Klang – zum Beispiel in Improvisations sur Mallarmé.

Wenn ein Dichter wie Mallarmé der Struktur der Verse und des Sonetts, die relativ strikt ist, solche Aufmerksamkeit bezeugt, ist es interessant, genau das in den musikalischen Gehalt zu überführen.

Auch die darauf folgenden Werke bis hin zu den jüngsten wie sur Incises mit seinem unverwechselbaren Klang haben Vorläufer. So ist zum Beispiel Strawinskys Les noces ein Vorläufer des Klangbildes von sur Incises; wenn ich dann aber Schlagzeug, das sehr wichtig ist, und die Harfen hinzufüge, entsteht ein ganz anderer Klang. Ein Klang, der auf Bali und den afrikanischen Kulturkreis verweist, überhaupt nicht auf den europäischen. Ich finde es sehr wichtig, dass wir uns auf andere Kulturen einlassen: nicht nur im Sinne musikalischen Gehalts, sondern auch hinsichtlich der Art der Übermittlung – folglich unter dem Aspekt des Klangs.

Das erinnert an Debussy, der von der Weltausstellung in Paris und der Musik, die er dort entdeckte, unübersehbar beeinflusst wurde.

Boulez: Allerdings. Aber gerade sein Werk ist manchmal ganz allgemein vom musikalischen Gehalt geprägt und einige dieser Werke sind eher vordergründig, mit der pentatonischen Skala und so weiter. Ich mag die Welt von Debussy, wenn es seine eigene ist – mit Einflüssen von außen, aber dennoch seine individuelle Welt.

Sie erwähnten sur Incises: da verwenden Sie Steel Drums, aber, wenn ich das richtig verstanden habe, nicht um der exotischen Wirkung willen.

Boulez: Ich mag den Klang von Steel Drums wegen der ihnen eigenen Möglichkeiten: zuerst einmal wegen des Klangs an sich, aber auch wegen ihrer besonderen Eigenheiten bei einem Crescendo oder sehr starkem Sforzato – es ergibt eine sehr starke Resonanz, der Klang verändert sich dermaßen, als handle es sich dabei praktisch um einen ganz anderen. Ich mag diese Transformation. Ein am Flügel gespieltes Sforzato verändert den Klang nicht wesentlich. Bei den Steel Drums verändert sich der Klang aber so, dass er sich manchmal dem elektronischen Klangbild annähert – er kommt dabei einem elektronischen Klang näher als dem eines normalen akustischen Instruments.

Im Zusammenhang mit Mallarmé und dem Einsatz der Stimme bemerkte Salvatore Sciarrino, dass sie zu den wenigen Komponisten zählten, die den Schlüssel zum Musiktheater besitzen würden – und meinte damit den Ihnen eigenen Vokalstil. Kann man sagen, dass dieser Stil in ihrem Verständnis der Wirkung von Lyrik in zeitgenössischer Musik begründet ist?

Boulez: Nun, das hängt davon ab. Es gibt ja zwei Möglichkeiten, mit der Stimme umzugehen, indem man den Text direkt artikuliert oder das, was man herausstellen möchte, extrahiert. Außerdem kann man den Text auch zerstören – damit meine ich, in einem positiven Sinn. In Le Marteau, insbesondere aber in Mallarmé wiederum habe ich mit etwas gearbeitet, das ich als Subtext bezeichne. Also, wie viele Silben? Acht. Der Zahl Acht kommt große Bedeutung zu, weil sich der Vers aus acht Silben zusammensetzt. Das Reimschema ist ebenfalls wichtig – ob sich die Reime in die Struktur übersetzen lassen. In Improvisation sur Mallarmé II setzte ich das um. Die erste Strophe ist wie eine melodische Linie mit vielen Ornamenten gestaltet. Das zweite Set mit vier Zeilen finde ich syllabisch, gänzlich syllabisch. Und dann, im dritten Set mit seinen wechselnden Reimen, wechsle ich kontinuierlich zwischen der syllabischen Art der Textvertonung und einer eher melodischen Methode. So reflektiere ich in meinem musikalischen Aufbau die Struktur der Verse Mallarmés. Interessant daran finde ich nicht nur den poetischen, sondern auch den strukturellen Aspekt des Gedichts. Wenn ein Dichter wie Mallarmé der Struktur der Verse und des Sonetts, die relativ strikt ist, solche Aufmerksamkeit bezeugt, ist es interessant, genau das in den musikalischen Gehalt überzuführen.

Es interessiert Sie nicht mehr, Gedichte zu komponieren oder zu orchestrieren, wenn es dabei lediglich um »Text und Musik« geht?

Boulez: Wenn man nur auf die Aussage des Gedichts achtet, verpasst man ziemlich viel von der Beziehung, die man zum Text herstellen kann. Wie gesagt: Für mich ist es wichtig, nicht nur eine Beziehung zur Poesie und zum Inhalt herzustellen, sondern auch eine zu der Struktur.

Um auf Le Marteau zurückzukommen: Abgesehen davon, dass Sie die Instrumentierung gleich nach Abschluss des Werks bearbeitet haben, haben sie es so belassen – was für Sie sehr ungewöhnlich ist. Als würden Sie damit dem besonderen Stellenwert von Le Marteau Rechnung tragen. Stimmen Sie dem zu?

Boulez: Ja, sicherlich, es war die Überwindung einer langen Phase des Zweifel. Ohne den Zweifel kann man etwas beenden – wenn man zweifelt tendiert man dazu, ein Werk niemals abzuschließen. Das hat mich dazu bewogen, manche Werke nicht mehr zu verändern. Aber es gibt einige Werke, die unvollendet sind, nicht, weil ich aufgegeben hätte, sondern weil ich mir über den Inhalt, die Struktur des Werks nicht eindeutig klar war. Deshalb komme ich auf einige Werke wieder zurück, andere taste ich nicht mehr an – Derive II zum Beispiel berühre ich nicht mehr. Es ist abgeschlossen, weil ich mehrere Jahre daran gearbeitet und einen Weg gefunden habe, es zu strukturieren, etwas zu komponieren, das sich von allem, was ich bis dahin getan hatte, grundlegend unterschied; eine Art narrativer Moment der Arbeit. Ich habe bemerkt, dass die Erzählung beendet ist und ich nichts mehr hinzufügen kann – alles Weitere wäre nur künstlich gewesen. Es gibt noch Werke, die ich beenden möchte, andere wieder will ich nicht abschließen. Es ist bekannt, dass ich eine sehr sentimentale Beziehung zu meiner Arbeit habe … und das stimmt.

Welches Werk würden Sie gerne fertigstellen?

Boulez: Besonders gerne würde ich Éclat/Multiples beenden. Das ist eines der Werke, die fast fertig sind; es ist praktisch doppelt so lang wie das, was ich heute davon aufführe. Ich würde es gerne fertigstellen, weil das Konzept des Schlusses schon vorhanden ist.

Derive I ist aus dem Material abgeleitet, das ich für Répons benutzt habe; von Répons gibt es noch eine Menge weiteres, ungenutztes Material.

Es ist Derive II vergleichbar – auch da gab es die Idee vom Schluss schon vor 50 Jahren, aber es war zu früh: Also komponierte ich es in dem Bewusstsein, dass es dazwischen eine lange Entwicklung geben würde und griff auf das Ende vor, weil es ja bereits hier war. Manchmal denkt man den Schluss lange im Voraus – deshalb behalte ich ihn in Reserve.

Der Vorgänger von Derive II war Derive. Auch hier, wie in vielen Werken, benutzten Sie den Sacher-Hexachord. Wie kam es dazu, wie haben Sie diesen Akkord gefunden und warum wurde er für Sie so wichtig?

Boulez: Eigentlich habe nicht ich diesen Akkord entdeckt – diese Reihe von sechs Tonhöhen habe ich anlässlich einer Hommage an Paul Sacher zu dessen 70. Geburtstag erhalten. Ich hatte dafür Messagesquisse komponiert, ein sehr kurzes Stück, weil es im Rahmen eines Konzerts gespielt werden sollte, für das auch viele andere Komponisten kurze Stücke geschrieben hatten; ein kurzes Gelegenheitsstück also. Während dieser Arbeit entdeckte ich schließlich die Möglichkeiten all dieser Akkorde. Wenn ich komponiere, spielt der Arbeitsvorgang eine wichtige Rolle und fordert mich manchmal zu spontanen Reaktionen. Wenn ich mir dann das Resultat ansehe, finde ich Material, aus dem ich noch weit mehr machen könnte – so war es auch mit dem Sacher-Material. Im Laufe der Arbeit fand ich darin Möglichkeiten, die ich niemals zuvor genutzt hatte. Es handelt sich dabei um Entwürfe. Wenn ich solche Ideen oder Einfälle habe, notiere ich sie sofort, jedenfalls so rasch wie möglich. Das ist nicht immer möglich und es kommt vor, dass man es mit Verzögerung macht. Aber so funktioniert Spontaneität, denke ich. Und es ist festgehalten, daher der Name Derive, weil es so bleibt, unbenutzt und abgeleitet von Dingen, die ich bereits geschrieben habe. Derive I zum Beispiel – wir sprechen immer noch von Derive I ist aus dem Material abgeleitet, das ich für Répons benutzt habe; von Répons gibt es noch eine Menge weiteres, ungenutztes Material. In der Paul Sacher Stiftung kann man das Material sehen. Es ist nicht übermäßig umfangreich, aber doch viele Seiten an Material, das dann immer wieder einmal Verwendung fand. So also arbeite ich, wenn ich komponiere.

Heißt das, dass Sie das gewaltige Potential des Sacher-Akkords durch Zufall entdeckten?

Boulez: Das war nicht ganz zufällig, sondern weil ich mit diesem Material auf meine eigene Weise umgegangen bin. Das heißt, dass es mir nicht darum ging, damit jeweils Paul Sacher eine Referenz zu erweisen – gewiss nicht, auch wenn ich sur Incises ihm gewidmet habe. Aber der eigentliche Anlass für die Komposition von sur Incises war nicht diese Widmung, sondern das Material, das mich dazu aufforderte, etwas damit zu tun. Ich bin sehr pragmatisch und mag es eben einfach nicht, wenn meine Einfälle verloren gehen.

Wenn man Derive I und Derive II vergleicht: zwar aus demselben Material entstanden, sind sie doch völlig unterschiedlich …

Boulez: Sie sind wirklich aus dem gleichen Material entstanden, aber unterscheiden sich völlig, weil Derive I sozusagen improvisiert war. Sir William Glock, damals Chef der Musikabteilung des BBC und gleichzeitig Leiter eines Festivals, engagierte mich für den Sender. Kurz vor Beendigung seiner Arbeit für das Festival wollten ihm die Musiker, die um unsere Freundschaft wussten, eine Hommage zuteil werden lassen. Es war nur ein kurzes Stück, ganz kurzfristig. Ich erinnere mich, dass ich zu der Zeit in Los Angeles eine Konzertreihe aufführte und zwischen den Proben daran arbeitete, sodass ich die Partitur in letzter Minute schicken konnte. In einem nächsten Derive würde ich den Entwurf von Dérive I bestimmt wieder aufnehmen, aber auf eine vielschichtigere Art; in meinem Kopf gibt es bereits Derive III und ich hoffe, dass ich Zeit finden werde, um es fertig zu machen.

Es gibt ein Zitat von Gustav Mahler, der gesagt haben soll: »Die Musik hat ihn komponiert.« Stimmen Sie dem in Hinblick auf Derive II zu?

Boulez: Ja, absolut. Ich denke, dass, wenn man eine interessante und produktive Beziehung zu dem Material hat, es sicherlich für einen komponieren wird. Aber man muss wissen, wie es zusammengesetzt ist. Ich finde es wunderbar mir vorzustellen, dass das Material tatsächlich für einen komponiert, und man selbst mit dem Material; es ist ein Austausch. Ich finde, das ist nur eine andere Art, der Idee der Deduktion Ausdruck zu verleihen. Wenn man Material hat, stellt sich die Frage, was man damit tut. Nicht nur Spontaneität ist wichtig, sondern die Frage der Umsetzung. Die Einfälle entstehen in einer Art Hyper-Spontaneität – das macht Komponieren so schwierig. Wenn man zum Beispiel Stücke betrachtet, die gewissermaßen »abgeleitet« sind, wie die Nummer 2 meiner Notations, und die Länge des Ausgangsstücks mit der finalen Partitur vergleicht, ist das Werk nun zehn Mal so lang und das Material um vieles eindringlicher herausgearbeitet als noch in dem kleinen Klavierstück. Ich mag diese Art der Konfrontation, zum Beispiel mit Material, das ich vor 60 Jahren komponiert habe. Vielleicht konnte ich damals nichts damit anfangen, was kann ich also heute damit tun? Ich vermute, dass sich auch Wagner eben diese Frage gestellt hat, als er die Götterdämmerung schrieb. Er muss sich wohl überlegt haben: »Was kann ich aus Material machen, das ich für Rheingold komponiert habe?« – nach 20 Jahren. Das erklärt, was mich so beeindruckte, als ich den Ring in Bayreuth dirigierte. Den Ring von Anfang bis zum Ende zu dirigieren heißt, dass man mit der Götterdämmerung endet und zwei Tage später wieder mit Rheingold beginnt. Das offenbart diesen enormen Unterschied zwischen den beiden Stücken, gerade bei Rheingold und Götterdämmerung … er hätte das nicht einfach 20 Jahre früher komponieren können! Und die Art und Weise, wie er sich selbst reflektiert, hat mich beim Dirigieren des Ring tief berührt.

Interessant an den Notations ist, dass Sie vergessen hatten, dass diese Stücke existieren.

Boulez: Ganz vergessen hatte ich sie nicht, alles kommt letztlich wieder zurück. Natürlich erinnerte ich mich daran und an die Tatsache, dass ich sie komponiert hatte; so etwas vergisst man eigentlich nie. Aber der Text war mir nicht mehr geläufig und als ich ihn sah, sagte ich: Das ist ja interessant! Ich wollte mit meinen früheren Werken generell nicht identifiziert werden, mit diesen allerdings schon. Ich fand sie sehr einfach, naiv, aber sie zeigen eine Entwicklung auf, die nicht uninteressant ist. Im Gegenteil, ich finde solche Anregungen interessant und würde gerne mehr daraus machen.

Stimmt es, dass diese Werke verschollen waren, bis jemand sie wieder gefunden hat?

Boulez: Ja, das Manuskript ging mehrere Male verloren. Ich studierte mit Serge Nigg, einem Komponisten, den ich lange nicht gesehen hatte. Ich kam gerade nach meinem sechsjährigen Aufenthalt in New York wieder zurück, als er mir schrieb, dass eine Rundfunksendung über die frühen Studenten von Messiaen geplant sei. Es sollten Stücke der Studenten aus der Studienzeit verwendet werden und Nigg bat mich um mein Einverständnis.

Also sagte ich mir, nun, so etwas kann ich auch, und schrieb zwölf Stücke mit jeweils zwölf Takten, die ich von eins bis 12 durchnummerierte.

Ich sagte prinzipiell zu, wollte aber zuerst ein Manuskript sehen, bevor ich mich endgültig entschied. Ich bat ihn also, mir ein Manuskript oder eine Photokopie davon zu senden und nachdem ich die Kopie erhalten hatte, sagte ich zu. Es war ein Stück, das ich als Student bei Messiaen komponiert hatte und eignete sich perfekt als Beispiel. Später erfuhr ich, durch Nigg oder auch auf anderem Weg, dass das Manuskript, nachdem er es mir geschickt hatte, erneut verloren ging. Ich selbst hatte ja nur die Photokopie des Manuskripts und als das Original nach der Radiosendung wieder in die Bibliothek gegeben werden sollte, war es verschwunden. Es ging also zweimal verloren.

Sie erwähnten mir gegenüber einmal, dass Sie sich mit diesen Notations über die Zwölftonmusik lustig machen wollten.

Boulez: Ja, wegen Leibowitz, dessen konventionelle Analysen und so weiter mir unerträglich waren, ganz besonders nach meinen Erfahrungen mit Messiaen. Wenn ich auch nicht mit allem übereinstimmte, was Messiaen tat, war er zumindest schöpferisch und hatte seine eigene Welt. Leibowitz hingegen, das war wie »Salz auf nichts«, so trocken und so fantasielos, nur eins-bis-zwölf, zwölf-bis-eins, sechs-bis-eins, eins-bis-sieben und so weiter … es war furchtbar. Also sagte ich mir, nun, so etwas kann ich auch, und schrieb zwölf Stücke mit jeweils zwölf Takten, die ich von eins bis 12 durchnummerierte. Ich nannte es mein System, aber es klang und klingt nicht danach. Diese Stücke waren nicht lustig, es waren nur spontane Stücke, die ich innerhalb von zwei oder drei Tagen komponiert habe, ich glaube, kurz vor Weihnachten 1945.

Wissen Sie noch, wo Sie sie komponiert haben?

Boulez: Wo? In Paris, ja … dort lebte ich zu dieser Zeit.

Und Sie haben nie gedacht, dass ein solches Potential darin steckt?

Boulez: Nein. Als mir einmal einer der Entwürfe unterkam, nahm ich das in meine Improvisation sur Mallarmé auf, wie ein Andenken sozusagen. Mit einem anderen Stück, das von ähnlichem Interesse für mich war, hatte ich weniger Glück. Im Anschluss an die zweite Klaviersonate komponierte ich eine Symphonie für Klavier und Orchester, die ich aber nicht sofort orchestriert habe. Ich fuhr nach Köln, um Stockhausen dort im Studio zu treffen, und da gab es diese Putzfrau, die das Zimmer sauber machte … und das Stück war weg – verschwunden. Ich hatte nicht einmal einen Entwurf, nichts, und kann mich nur an einen einzigen Takt erinnern. Das reicht nicht einmal für Derive.

Stimmt mein Eindruck, dass Notations Ihre Distanz zu jeglichem Dogmatismus demonstriert?

Boulez: Ja, weil es sehr stark strukturiert, gleichzeitig aber auch frei ist. In meinen Werken geschieht das fast absichtslos, eher zufällig in dem Sinn, als ich, wenn sich mir etwas Unvorhergesehenes eröffnet, gerne auch solchen »Seitenwegen« folge. Hier kommt das Mahler-Zitat »das Material komponiert für dich« wieder ins Spiel. Man muss offen sein für die Anregungen des Materials und darauf reagieren. Wie ich schon sagte, ist diese Art von Austausch mit dem Material sehr wichtig. Genau unter diesem Aspekt waren die Notations wichtig.

Könnte man sagen, dass Notations für Orchester eine Art sur Notations ist?

Boulez: Ja, das trifft es genau: Wie ein Archäologe, der eine Zivilisation entdeckt – tiefer, tiefer und tiefer. Und dann entdeckt man sich zunehmend selbst, genau so wie Archäologen eine alte Kultur entdecken.

Wenn es auch für einen Komponisten nicht so üblich ist über seine Emotionen beim Komponieren zu sprechen: Spüren sie eine Art erfrischender Inspiration, wenn sie neue Dimensionen in ihrem eigenen Werk entdecken?

Boulez: Ja, ganz sicher. Ich mag es, wenn man manchmal in einer bestimmten Materialkonstellation sehr rasch auf eine Lösung kommt. Das kann vorkommen, wenn man sich orientiert und bereits in eine bestimmte Richtung hingearbeitet hat. Aber manchmal ist man mit Material konfrontiert, bei dem man sich nur fragen kann: »was kann ich hier machen?« Man sitzt davor und findet absolut keine interessanten oder lohnenden Lösungen. Und wenn sich die Lösung schließlich auftut, ist man glücklich und geht ihr freilich nach. Es gibt einige Notations, bei denen ich zwar grundsätzlich eine genaue Vorstellung davon habe, was zu tun ist, aber bis jetzt noch keinen Weg gefunden habe, wie es zu realisieren sei mit dem Material in einer für mich zufriedenstellenden Art und Weise zu arbeiten. Ich behalte das aber im Kopf. Manchmal denkt man nicht mehr darüber nach, sondern eigentlich an etwas anderes – vielleicht studiert man eine andere, wenn nicht gar fremde Partitur – und plötzlich sagt man sich »Ah!« Das ist also die Richtung, in die es gehen kann. Wissen Sie, jeder Moment in Ihrem Leben kann befruchtend sein, wenn sie schöpferisch tätig sind oder sich in einem schöpferischen Prozess befinden. Sie müssen aber die Gelegenheit ergreifen. Und Komponieren hat auch damit zu tun eine Möglichkeit zu erkennen, die andere Menschen nicht sehen. Genau darum geht es.

Wie werden Sie mit den Notations fortfahren?

Boulez: Also, derzeit vollende ich Nummer VIII. Ich habe eine bestimmte Abfolge im Sinn. Nummer V liegt als Particell vor, Nummer VIII harrt der Vollendung, Nummer VII möchte ich modifizieren (es gibt da noch einige Fragen zur Balance), und dann will ich noch VI sowie die nächsten vier Stücke machen, die nicht umfangreicher als die anderen sein werden. Nummer VIII ist verhältnismäßig lang. Vielleicht wird sie nach Abschluss der letzten vier wieder kürzer. Es bleibt zu vermuten. Das ist zumindest mein vorläufiges Konzept.

Ich würde gerne auf Derive II zurückkommen. Daniel Barenboim hat in einer Einführung zu dem Stück, als er es in Berlin dirigiert hat, Begriffe aus der Sonatenform wie etwa Coda, Reprise und so fort entlehnt. Welchen Rat würden Sie einem Hörer geben, wie er sich dieser komplexen Musik annähern sollte?

Boulez: Die müssen ihre eigene Analyse machen, und das ist komplex. Ich weiß, ich habe auf die Form, die mir vorschwebte, hingewiesen. Aber wissen Sie, ich bin leidenschaftslos was die Form betrifft, die ich hier entdeckt oder verwendet habe. Form ist stärker als man selbst – in punkto dessen, was zu tun ist, bis man zur Hälfte mit dem Stück durch ist. Sie haben strenge Formabschnitte, strenge rhythmische Formen, kanonische Formen und so weiter – wie auch immer Sie sie bezeichnen möchten. Es gibt strenge Formen oder obligate, die dann mehr und mehr von freien Formteilen unterbrochen werden. Und sie spüren, bei »A-B-A-B-A-B-A« … handelt es sich immer um denselben Wechsel, mit extrem kurzen Unterbrechungen am Beginn. Diese sind zunächst kaum wahrnehmbar und werden zunehmend länger und länger bis sie schließlich wichtiger als der Text selbst sind. Danach verkomplizieren sich die Dinge. Ich kann das wirklich nicht erklären … wiederum haben Sie die sehr strengen rhythmischen Strukturen aus der ersten Hälfte. Trotz ihrer Strenge sind sie jedoch freier als dort. So entsteht eine Art von Balance zwischen den beiden Teilen. Und dann gibt es noch eine lange Coda. So bin ich vorgegangen.

Zu Incises und sur Incises. Sie haben einmal gesagt von Gustav Mahler gelernt zu haben, wie man große Formen konstruiert.

Boulez: Ja.

Und besonders in sur Incises. Könnten Sie das erklären?

Boulez: Nun ja, ich war immer davon beeindruckt, wenn Musiker im Allgemeinen, darunter auch die Zwölftonkomponisten, zu kleineren Formen tendierten – sogar wenn sie so etwas wie eine Symphonie mit vier Sätzen schrieben. Die Form stand schon fest. Sogar über Debussy kann man sagen, dass er in La mer nur drei Muster verwendet hat – mit dem Scherzo in der Mitte und einem mehr oder weniger rondoartigen Finale am Schluss. Und das wollte ich nicht. Worauf ich abziele, ist das Narrative: man erzählt eine Geschichte – eine abstrakte Geschichte natürlich. Ich verwende sur Incises nicht, um das Meer zu beschreiben oder etwas in der Art. Aber die Erzählung bleibt. Kontinuität kann nicht auf Stückwerk beruhen, sondern die Grundelemente müssen immer vorhanden sein – wenn auch mit differenzierenden Variationen. Man kann kein langes Werk komponieren, wenn man nicht auf Material zurückgreifen kann, das reichhaltiger als jenes für ein kürzeres Stück ist. Deshalb ist in sur Incises das entsprechende Material vorhanden: die erste Seite liefert die Substanz für die Hälfte des ganzen Stückes, da das Material sehr einfach gehalten ist. Es gibt resonierendes und flüchtiges Material, das im Verlauf vermischt wird oder auch nicht. Am Anfang bleiben die Ebenen getrennt, werden im Lauf der zweiten Hälfte des Stücks jedoch vermischt. Das Ziel besteht darin, einen Weg für den Dialog zwischen resonierend und flüchtig zu finden. Das ist die Materialebene, die sich jedes mal neu darstellt und sich mehr oder weniger erschließt. Diese Kompositionsweise verfolge ich nunmehr, auch in Bezug auf Besetzung oder Notation. Ich denke an die nächsten Notations. Sie sind deshalb länger, weil die zu erzählende Geschichte länger ist. So einfach ist das.

Wie kam die Instrumentation von sur Incises zustande? Liegt es daran, dass Bartók schon etwas für zwei Klaviere und Schlagwerk geschrieben hat und Strawinsky für vier Klaviere?

Boulez: Durch die drei Klaviere steht das Werk ja quasi in der Mitte … aber im Ernst, ich muss sagen, dass ich von beiden Werken immer ziemlich beeindruckt war. Das Bartók-Stück wurde damals, als ich es zum ersten mal gehört habe – das muss etwa '45 gewesen sein – sehr selten gespielt. Ich kann mich noch an die beiden ungarischen Pianisten erinnern. Die beiden Schlagwerker waren Franzosen; vielleicht konnten sie nicht ihre eigenen Schlagwerker mitbringen, ich weiß das nicht genau. Und dann gab es auch einen Dirigenten für das Stück. Die haben sich irgendwie erst einen Tag zuvor zu Proben getroffen, das Werk kann jedoch nicht einfach so aufgeführt werden. Bei der Uraufführung in Basel wurde nicht dirigiert, das weiß ich noch. Die Aufführung war ziemlich planlos. Ich erinnere mich zudem, dass mich die Klanglichkeit sehr, sehr überrascht hat. Les Noces hingegen habe ich öfters gehört. Messiaen war davon, wie auch von Bartóks Musik für zwei Klaviere, ebenso sehr angetan. Daher habe ich diese beiden Stücke schon seit langem gekannt. Sie waren praktisch Teil meines kulturellen Hintergrunds.

Für mich hatte der Konstruktivismus gelegentlich fast etwas Belastendes und ich dachte, dass die Erfindungsgabe und der Einfallsreichtum, die Spontaneität eines Debussy manchmal unerlässlich sind.

Als der Wunsch aufkam Incises zu sur Incises umzugestalten, kam der Titel sur Incises erst in letzter Minute. Glauben Sie mir, der Titel stand nicht am Beginn. Es gab eine Art Stiftung in Italien, von der ein Wettbewerb, ein Klavierwettbewerb, organisiert wurde. Pollini war in der Jury, wie auch Berio. Und ich dachte, ich könnte für Pollini ein Stück schreiben, ein konzertantes Stück für Klavier und Orchester – oder Klavier und Ensemble, ich wusste es nicht genau. Und als ich dann begonnen hatte richtig mit dem Material zu arbeiten, dachte ich: nein, so gehört das wirklich nicht. Ich möchte ein Klavier, ein Klavier mit einem ersten und einem zweiten Schatten. Das Klavier im Mittelpunkt tauscht mit beiden Seiten in symmetrischer Weise Material aus, wenn sich diese Symmetrie auch komplexer gestaltete, als hier jetzt angedeutet wird. Am Anfang jedoch war es ganz und gar nicht so komplex, zumal ich lediglich eine Klanggestalt haben wollte, die jene des Klaviers anreichern würde, auch um den Klavierklang zu verdreifachen oder den Klavierklang zu repetieren. Also fügte ich die Harfen hinzu. Drei Harfen. Und dann kam die Marimba, die das schnelle thematische Material vorzustellen beginnt. Schließlich habe ich mir gesagt: wenn ich eine Marimba habe, brauche ich auch ein Vibrafon für das hohe Register. Das zweite Vibrafon kam erst in letzter Minute dazu, weil ich kein anderes Instrument im Schlagwerk finden konnte, das zu Vibrafon und Marimba gepasst hätte. Also hatte ich da das Vibrafon und fügte anschließend Steeldrums, Pauken, Röhrenglocken hinzu … und so ist das Schlagwerk eingerichtet: ein Spieler an rein chromatischen Instrumenten und einer an, sagen wir, Spezialinstrumenten. Also, das kam stufenweise während des Komponierens – das war notwendig, das war notwendig, das war notwendig – und letzten Endes hatte ich drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagwerker.

Aber die Klaviere blieben die Hauptinstrumente?

Boulez: Ja, die Klaviere blieben die Hauptinstrumente. Aber die anderen gewinnen im Stückverlauf mehr und mehr an Bedeutung – vor allem die Klanglichkeit der Harfe. Das gilt natürlich nicht für die schnelleren Sätze, in denen sie einfach den Klang unterstreichen. In den resonierenden Sätzen jedoch sind die Harfen gewiss sehr wichtig.

Und Harfen sind extrem kraftvoll, unerwartet kraftvoll, was ihren Klang betrifft, scheint mir.

Boulez: Die Harfen sind sehr kraftvoll. Ich kann es nicht leiden, wie französische Komponisten das Instrument behandeln, wissen Sie, immer so anmutig. Ich kann mich an eine Reise mit Jean-Louis Barrault in den Anden erinnern, auf der wir Musik hörten – es war in Quito oder irgendwo in Kolumbien … ich weiß nicht mehr, eins davon. Wir haben Musik gehört, die Bauern auf kleinen andischen Harfen spielten. Und diese Bauern haben auf ihren Instrumenten einen sehr starken Klang erzeugt; sie haben richtig in die Saiten gegriffen. Diese Art von Klangeindruck ist mir im Gehör geblieben und ich denke, dass ich seitdem weiß, wie Harfen für mich klingen sollen. Sie können sehr zart aber auch gleichermaßen sehr stark klingen. Wir haben eine Harfenistin im Ensemble, die dafür perfekt ist, Frédérique Cambreling. Sie hat eine sehr überzeugende Herangehensweise an das Instrument. Ich mag das.

Hat der Charakter eines Instrumentes – wie etwa der Harfe – Einfluss auf die Art der Erfindung Ihres Materials?

Boulez: Ja, bestimmt, weil ich nicht die Harfen mit dem Klavier konkurrieren lassen wollte. Sie können Betonungen, sie können ein langes Tenuto erzeugen, sie haben ihren eigenen Materialumfang. Aber ich weiß, dass die Harfen zum Beispiel nicht mit der Geschwindigkeit des Klaviers mithalten können. Also verwende ich die verschiedenen Instrumente um bestimmte Ziele zu erreichen und versuche ihr raison d’être zu bereichern. Aber es wäre absurd die Klangcharakteristik zu verstecken, indem man die Klangfülle permanent dämpft. Das ist nicht möglich.

Die Klangwelt, die Sie erschaffen haben, ist absolut einmalig. Haben Sie das genau in dieser Weise zuvor schon innerlich gehört?

Boulez: Nein … also ja. Im Laufe des Komponierens hat sich mir einiges mehr und mehr erschlossen, so konnte ich schon vor einer Aufführung immer besser abschätzen, was ich wollte. Gewiss. Zu Beginn stand einfach eine Art Echo des Klaviers, ehe die anderen Instrumente schließlich am Klang teilhaben. Und ganz zum Schluss sind diese ebenso wichtig wie das Klavier, da ihre Akkorde im mittleren Bereich sehr stark klingen und man das mittlere Register viel stärker wahrnimmt als sogar die extreme Stärke des Klaviers. Also nein, ich habe nach und nach mehr über die Möglichkeiten erfahren, die sich mir mit diesem Ensemble boten.

Incises ist ein sehr kurzes Stück und sur Incises eines ihrer längsten. Waren Sie von dessen Umfang selbst überrascht?

Boulez: Ja, ich war überrascht; dann aber auch wieder nicht, da ich in dieser Zeit schon bestrebt war kurze zu Gunsten von langen Formen aufzugeben. Ich war also sicher bereit, eine längere Form auszuarbeiten. Das galt auch für Derive II – ich wollte etwas Umfangreiches aussagen.

Werden Sie diese Richtung bei kommenden Ensemblestücken beibehalten?

Boulez: Zum jetzigen Zeitpunkt wäre für mich ideal ein Werk mit gleichermaßen langen und sehr kurzen Sätzen zu komponieren. Ich denke schon längere Zeit über Kontrastwirkungen innerhalb eines Stückes nach, in welchem starke und leichte, konzentrierte Momente nebeneinander stehen können … Ich habe einmal auf diese Fragestellung geantwortet, das sei wie Bruckner mit Webern zu verheiraten.

In welcher Weise haben Ihre Bruckner-Dirigate Ihre Sicht auf die Großform beeinflusst?

Boulez: Die waren sehr wichtig. Ich schätze seine auf lange Entwicklungen angelegte Harmonik – am Ende des langsamen Satzes der Neunten zum Beispiel, wenn die melodische Linie wiederholt und expansiv wird. Das ist für mich jedoch weniger bedeutsam als die vorhandenen Teilabschnitte, die meines Dafürhaltens nach zu offen zu Tage treten.

Aber das ist lediglich Ansichtssache – eine Verschiedenheit, die eher in den Epochen als den Persönlichkeiten zu suchen ist. Wenn Teilabschnitte zu offensichtlich sind, ist für mich das Thema verfehlt. Und genau das ist an den großen Momenten bei Mahler so interessant. Ich war von seinem Formgefühl sehr, sehr beeindruckt – was die Sätze betrifft natürlich. Was ich aber meine ist, wie diese Sätze zusammengesetzt sind. Ich habe kürzlich in Chicago in Vertretung von Riccardo Muti die 7. Symphonie dirigiert. Davor habe sie fünf Jahre lang nicht aufgeführt. Indes sie für mich nicht neu war, war sie zum wiederholten Male beeindruckend. Der letzte Satz ist bezeichnend für den Zusammenhang des Ganzen. Ich finde, wenn man das richtige Tempo nimmt und die Tempi zwischen den verschiedenen Sätzen in richtiger Art und Weise zueinander in Beziehung setzt, dann wird es tatsächlich sehr kohärent. Man muss wirklich eine Art von Tempokohärenz herstellen, dann geht das Ganze auf. Ansonsten ist es Stückwerk, was zu vermeiden ist – zumindest könnte ich es mir nicht vorstellen.

Mahler sprach über die Flexibilität von Tempi und deren Bedeutung für eine wirklich lebendige Aufführung.

Boulez: Ja, die Tempoverhältnisse sind wirklich wichtig; das entspricht dem, was ich Narration nenne. Sie erzählen die Geschichte. Und um die Geschichte zu erzählen, müssen Sie sehr vorsichtig mit Spannungsmomenten umgehen, genauso wie mit Momenten, in denen die Spannung nicht so stark ist, und so fort. Das ist wichtig. Und sogar in einem ersten Satz müssen Sie sehr vorsichtig mit Tempoverhältnissen operieren. An einem gewissen Punkt ist dies jedoch mein Problem …

Bruckners Einfluss ist doch erstaunlich, da Bruckner nicht Teil der französischen Musikkultur war – zumindest nicht, als Sie heranwuchsen.

Boulez: Bruckner wurde überhaupt nicht aufgeführt, und sogar noch als Karajan auf einer Tournee mit den Berliner Philharmonikern eine Bruckner-Symphonie mitbrachte, kamen in einigen Zeitungen Reaktionen wie etwa »warum nur dieses Monster?« Und sogar Messiaen – wenngleich Sie sich vorstellen können, dass es einige sehr eigentümliche Beziehungen zwischen dem Universum Messiaens und dem Universum Bruckners gibt – Messiaen sagte, »oh, bei Bruckner, da gibt es eine Menge an Brücken.« Im Französischen bezeichnet man den Übergang von einem Abschnitt zu einem anderen als Brücke. Und für Messiaen war Bruckners Musik schlicht eine Aneinanderreihung von Übergängen. Es ist sehr seltsam, die Franzosen stehen manchmal musikalischem Denken, das nicht ihren eigenen Gepflogenheiten entsprungen ist, wildfremd gegenüber. Sogar im Falle Mahlers: jetzt ist er sehr populär, obwohl er in Frankreich zuallerletzt wiederentdeckt wurde. England und die Staaten waren gegenüber Mahlers Einfluss viel offener als die Franzosen.

Meine Bildung schritt chronologisch gesehen geradezu rückwärts. Ich lernte Berg kennen, ich lernte Webern kennen, ich lernte Schönberg kennen … und dann erst Mahler.

Dank Barbirolli und Bernstein, würde ich sagen …

Boulez: Ja genau … und Mitropolous vor ihnen. Und Bruno Walter, da Walter ab ca. 1936 im Exil war. Er hat nicht alles aufgeführt und besonders Nr. I, IV und IX bevorzugt, wobei ich das wirklich nicht mehr genau weiß. Mahler-Symphonien spielte er doch recht regelmäßig. Und die wurden dann eigentlich unter Bernstein ziemlich populär. Der Manager der New Yorker Philharmoniker erzählte mir, dass sich der Saal, wenn Mitropolous beispielweise die Fünfte oder die Siebte spielte, gegen Ende schon zur Hälfte geleert hatte. Und Dimitri Mitropolous – das sind die 1950er … '51, '52.

Vielleicht war das ein später Einfluss von Toscanini – Toscanini war von Mahlers Erfolg in New York absolut nicht angetan, so arbeitete er gegen ihn.

Boulez: Ja, also ja, am Anfang, aber wissen Sie, Toscanini war bis in die 60er … oder die späten 50er Jahre tätig, immerhin. Und er hat nichts in dieser Art dirigiert. Aber er hatte auch absolut keinen Bezug zur österreichischen Schule. Er spielte Brahms – ich glaube, das war die jüngste Musik aus Österreich, mit der er sich beschäftigte, der letzte Schritt, den er unternahm. Sonst sicherlich nichts. Aber er führte Debussy auf, der praktisch zur gleichen Zeit geboren wurde, wissen Sie … immer wieder mal La mer, aber nicht die späteren Werke wie etwa Jeux. Er dirigierte La mer und auch die Nocturnes. Und er gab erstmals Pelléas an der Scala – zu dieser Zeit war das etwas sehr Neues, vor allem verglichen mit Puccini, oder sicherlich mit Leoncavallo … sicher …

Wie würden sie beschreiben hat sich Ihre Haltung gegenüber Mahler über die Jahre verändert?

Boulez: Also, die musste sich wirklich nicht ändern, weil sie zunächst gar nicht existierte. Und ich erinnere mich, dass ich vielleicht als erstes – nicht nur vielleicht! Mahlers Vierte war tatsächlich die erste seiner Symphonien, die ich gehört habe – unter Paul Kletzki, da französische Dirigenten zu dieser Zeit Mahlers Symphonien nie aufgeführt haben. Und natürlich, als ich sie zum ersten Mal gehört habe, die Schellen, sagte ich mir in etwa »was ist das?« Und ich erinnere mich immer noch … nicht darüber zweifelnd, aber auch nicht überzeugt von den Liedern eines fahrenden Gesellen gewesen zu sein. Die habe ich zuerst in Hamburg gehört, ich war dort für eine Aufführung im Rahmen von das neue werk, und da gab es dieses Konzert. Ich kann mich nicht genau erinnern, wer dirigiert hat, aber dass ich zunächst überhaupt nicht beeindruckt war. Ich sagte mir, na ja, ein alter Schinken, oder so etwas in der Art. Es ist ziemlich seltsam, weil ich davon einfach nichts wusste und meine Bildung chronologisch gesehen geradezu rückwärts schritt. Ich lernte Berg kennen, ich lernte Webern kennen, ich lernte Schönberg kennen … und dann erst Mahler. Es war vollkommen umgekehrt, da es dafür keine Tradition gab.

Da sie Mahler kannten – hat seine Musik Ihr Verständnis von der Wiener Schule geprägt?

Boulez: Nein, die kannte ich von Anfang an. Mit der Wiener Schule wurde ich im Jahr '45 vertraut – im Frühjahr '45, soweit ich mich erinnere. Und ich hatte sicherlich meine eigene Auffassung davon. Man darf aber auch nicht vergessen, dass diese Musik damals furchtbar exerziert wurde, absolut furchtbar. Ich meine, es gab entweder überhaupt keine Tradition unter jenen, die dirigieren konnten, oder andererseits solche, die es zwar gut meinten, aber eben keine guten Dirigenten waren. So war das. Ich erinnere mich an absolute schreckliche Aufführungen unter [René] Leibowitz oder Max Deutsch, bei denen man sich fragen musste »was machen die da?« Ich erinnere mich an eine Aufführung von Schönbergs Opus 29 … a-di-ya-da-ta-ta, a-ya-ta-ta …. Aber es ging so: aaaa-daaa-daaaa-daaa-taaa-taaa – können Sie sich das vorstellen? Diese Art von Darbietung dauerte eine dreiviertel Stunde … es war furchtbar. Und ich kann mich auch noch einer Aufführung der Symphonie op. 21 [von Anton Webern] entsinnen; glauben Sie mir, der Anfang mit den Hörnern, das war … speziell! Man kann niemandem etwas vorwerfen, das waren schließlich Amateurdirigenten. Das Problem war lediglich, dass sie meinten, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben.

Und Sie haben gesehen, in welche Richtung die gingen und sich dabei gedacht, dass die Wahrheit anderslautend sei.

Boulez: Ja! Also, wenn Sie eine Partitur lesen, wissen Sie mehr oder weniger wie sie klingen soll.


Interview: Wolfgang Schaufler
Übersetzung: Angelika Worseg, Therese Muxeneder
Baden-Baden, Dezember 2010
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