Das Orchester Wolfgang Rihms

Ulrich Mosch


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Die üppige Farbpalette des großen Orchesters und seine vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten, zwischen zartesten Klanggespinsten und schierer, entfesselter Gewalt, übten seit jeher eine besondere Anziehungskraft auf Wolfgang Rihm aus. Schon früh entdeckte der Komponist hier ein fruchtbares Betätigungsfeld. Nicht von ungefähr verdankte er seinen künstlerischen Durchbruch auf den Donaueschinger Musiktagen 1974 einem Orchesterstück, der Morphonie für Orchester mit Solostreichquartett (1972). Weitere großbesetzte Werke wie Dis-Kontur, Sub-Kontur und die Dritte Symphonie entstanden kurz darauf in dichter Folge. Die Auseinandersetzung mit dem Apparat und den Möglichkeiten des Orchesters blieb bis heute eine Konstante in Rihms kompositorischer Arbeit.

Grundlegend für Rihms Werke mit Orchester war die Entscheidung, weder den Weg einer Verwandlung des Orchesters in einen großen, strukturell kontrollierten »Klang­erzeuger« einzuschlagen noch den Weg einer bei der inneren sozialen Organisation ansetzenden Neuerfindung des Apparates, etwa als Gemeinschaft gleichberechtigter Individuen oder als selbstregulierendes soziales und musikalisches System. Gegenstand der Auseinandersetzung blieb, bei allem Experimentieren mit der Besetzung im Einzelnen, das Orchester als Klang­körper in seiner gewachsenen historischen Form. Die den orchestralen Mitteln anhaftenden Spuren der Tradition, etwa in der Disposition der Register, stellen dementsprechend nicht wie für manch anderen Ansatz ein Hindernis dar, Rihm bezieht sie in seine Arbeit mit ein. Für seinen in einer »Poetik der Taktilität« fundierten direkten kompositorischen Zugriff auf den Klang bietet das Orchester in der überkommenen Form ein noch längst nicht ausgeschöpftes Potential, das sich nutzen und entwickeln lässt.

© Universal Edition/Eric Marinitsch
Rihm neigte in den frühen Orchesterwerken der Siebzigerjahre zur heftigen Geste, zum vehementen Ausbruch.

 

Ausgeprägte Massigkeit
Mit Rihms Entscheidung für die Arbeit mit dem gewachsenen Apparat hängt zusammen, dass in seinem Orchesterschaffen über die Farbpalette und ihre zahllosen Mischungs- und Abstufungsmöglichkeiten hinaus weitere Aspekte des orchestralen Komponierens ins Blickfeld rückten: so die ganz eigene Körperlichkeit des Orchesterklangs – die Palette der Qualitäten reicht diesbezüglich, abhängig von der Spielweise der Instrumente wie von der Zahl der Beteiligten, von ausgeprägter Massigkeit und Schwere bis zu schwebender Körperlosigkeit.

Oder die Möglichkeit, die orchestrale »Masse« ­energetisch aufzuladen, in unterschiedliche Erregungszustände zu versetzen, sei es in vibrierende Spannung oder in voranstürmende Bewegung. Oder das bewusste Spiel mit der Interdependenz von Tonhöhe und Klangfarbe – Arnold Schönberg, der sich auf den letzten Seiten seiner 1911 bei der Universal Edition veröffentlichten Harmonielehre mit diesem Phänomen beschäftigte, hatte darin ein besonderes musikalisches Zukunftspotential erkannt. Zum Orchester gehört schließlich, da der Klangkörper ab einer bestimmten Größe zwangsläufig eine gewisse Ausdehnung hat, die räumliche Disposition des Klangs. Komponieren für Orchester ist daher auch immer Komponieren von Klangbewegungen im Raum. Teilweise schlägt sich dies bei Rihm direkt in der Orchesteraufstellung nieder, so, wenn er von einer chorischen Disposition ausgeht und mit Orchestergruppen arbeitet wie in dem Stück Im Anfang (1998/2000).

Neigte Rihm in den frühen Orchesterwerken der Siebzigerjahre zur heftigen Geste, zum vehementen Ausbruch, so tendierte im darauf folgenden Jahrzehnt seine Musik eher zum Objekthaften, Skulpturalen. Ein Beispiel dafür wäre die Klangbeschreibung III (1984–87). Seit den frühen Neunzigerjahren gewannen dann aufgrund veränderter kompositorischer Interessen andere Aspekte an Gewicht. Nicht nur in der Orchestermusik rückten seither Linie, Gewebe, Schichtung und Überlagerung gleichzeitiger Verläufe – kurz: die Polyphonie – in den Fokus.

Ein Beispiel für die Arbeit mit Klangschichten wäre das aus einem komplizierten, mehrstufigen Prozess von wiederholten »Übermalungen« aus dem Ensemblestück – et nunc I für Bläser und Schlagzeug (1992) hervor­gegangene Vers uns symphonie fleuve IV (1997–98), in dem immer wieder die genetisch unterschiedlich alten Schichten auch als Farbschichten der verschiedenen Register sich voneinander abheben. Auch die jüngst entstandene und in Donaueschingen zur Uraufführung gebrachte Séraphin-Symphonie ist – teilweise auf der Basis von bereits mehrfach verarbeitetem Material aus dem Musiktheaterwerk Séraphin (1993–94) – aus einem doppelten Überschreiben von Séraphin III (2006–07) hervorgegangen, zuletzt mit einer neu hinzugefügten Schicht für großes Orchester. Ob nun als Schicht, sozusagen mit breitem Pinsel, oder mit feinerem »Malgerät« als mehr oder weniger kompakter Strich – die Linie und damit auch das Miteinander, Dialogisieren oder Gegeneinander von gleichzeitig verlaufenden Vorgängen gehören, wie der Komponist selbst es ausgedrückt hat, zu seinen kompositorischen »Obsessionen« der letzten Jahre, gerade in der Orchestermusik. Das jüngst entstandene Nähe fern 1 ist ein gutes Beispiel dafür.

»Rihm ist bei seinen Arbeiten für Orchester durchlässig geblieben zur großen symphonischen Tradition.«

Ulrich Mosch

 

Mit Gegenwart vollgesogen
Da Rihm bei seinen Arbeiten für ­Orchester beim überkommenen Apparat mit all seinen ihm anhaftenden historischen Momenten ansetzt, sind seine Orchesterwerke durchlässig geblieben zur großen symphonischen Tradition. Zugleich ermöglicht ihm der Ansatzpunkt, mit orchestralen Tonfällen zu arbeiten und damit ein komplexes Vexierspiel zu betreiben. Das wird dort besonders sinnfällig, wo es direkte Bezugspunkte im Komponieren gab: So finden sich in dem als Komplement zu Richard Strauss’ Salome geschriebenen Einakter Das Gehege (2004–05; Text: Botho Strauß) vielfach Anspielungen auf den luxurierenden Orchestersatz des hundert Jahre zuvor entstandenen Skandalstücks. Weitere Werke aus jüngster Zeit wären in diesem Zusammenhang zu nennen, so etwa die »Opernphantasie« Dionysos (2009–10) mit ihren Wagnerismen und vielfältigen Anspielungen auf Strauss oder der kürzlich mit Nähe fern 1 begonnene Zyklus von orchestralen »Antworten« auf die Symphonien von Johannes Brahms. Bis heute belegen Rihms Arbeiten für Orchester immer wieder, welche Möglichkeiten das von ihm bereits früh geforderte »inklusive Komponieren« (anstelle eines »exklusiven«) eröffnet, ein Komponieren, das – wie er es 1978 auf den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik formulierte – »durch Einbeziehung und Umschließung aller von Phantasie und Arbeitsökonomie berührten und ge­öffneten Bereiche zu einem mit Gegenwart vollgesogenen Ergebnis gelangt«.


Ulrich Mosch

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator bei der Paul Sacher Stiftung in Basel. Er ist Heraus­geber der Schriften von Wolfgang Rihm.