»Ein Fenster der Resonanz öffnen«

Mauricio Sotelo


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Mauricio Sotelo, der am 2. Oktober seinen 50. Geburtstag gefeiert hat, ist mit seiner Kombination von traditionellem Flamenco-Gesang mit der Klangwelt der Neuen Musik überaus erfolgreich in musikalisches Neuland vorgestoßen. Dass er aber in dieser Ästhetik nicht verharren will, erzählt er im Interview.

Warum hat der Flamenco eine so wichtige Rolle in Ihrer Musik übernommen, wie ist dieser Prozess entstanden?

Sotelo: Meine musikalische Biographie fängt in Wien an. Als ich als junger Musiker und Komponist noch in Madrid gelebt habe, habe ich alles, was mit irgendeiner Art des Nationalismus zu tun hatte, abgelehnt. Das betrifft auch den Flamenco, obwohl ich selbst Gitarre gespielt habe.

Aber trotz meiner Abneigung war ich immer vom Flamenco fasziniert, wie ja so viele Leute. Es ist eine Musik, die sehr echt klingt. Obwohl ich Konzerte Neuer Musik immer sehr genossen habe, dachte ich mir manchmal: »Das sagt mir nichts. Ich kenne die Technik, aber hinter dieser Sprache ist nichts.«

Sicherlich war ich nicht auf jene Art am Flamenco interessiert, wie es ein Ethnomusikologe oder Musikwissen­schaftler gewesen wäre. Ich dachte, ich könne als Musiker eine Art Radiographie machen, untersuchen, was hinter dieser Maske vibriert. Ich habe angefangen, meinen eigenen Weg zu gehen, später bekam ich den Anstoß von Luigi Nono, der mir sagte, ich müsse zurück nach Spanien und meine Ohren auf die Musik der Kathedralen und der Flamenco-Kreise richten.

Ich habe mich mit ihm sehr viel über mündliche Tradi­tion unterhalten, über die magische Kunst der Erinnerung im Venedig des 15. Jahrhunderts, über Giordano Bruno sowie über das Problem der Notation in der Musik und über das Problem des Hörens, ein Thema, das für Nono sehr wichtig war. Nono sprach dann auch noch die hebräische Tradition und die Tradition der Zigeuner in Andalusien an, letztere stellt eine der wenigen in Europa noch lebenden mündlichen Traditionen beziehungsweise Überlieferungen dar. Es geht hier um die alte und ma­gische Kunst der Erinnerung, welche nach den Griechen, die sich mit dem Problem der Notation und der Schrift beschäftigten, beginnt.

»Die rhythmische Raffinesse der Tänzerinnen ist unglaublich.«

Mauricio Sotelo

Und das hat dann Ihr Verhältnis zum Flamenco verändert?

Sotelo: Kunsterinnerung und mündliche Überlieferung sind für mich Schlüsselworte. Ich erkannte im Flamenco eine andere »Weltmusikanschauung« – ein Überschreiten der Notenschrift, ein direktes »In-die-Musik-Gehen«.

Es hat dann aber lange gedauert, bis Sie in diesen Kreisen akzeptiert waren.

Sotelo: Ich muss sagen, dass es am Anfang sehr schwierig war, selbst in Lokalen, wo sich die großen Meister und Künstler, wie etwa Enrique Morente, Paco de Lucía und Camarón de la Isla, getroffen haben, wurde ich abgelehnt. Jetzt bin ich im Programm von »Suma Flamenca«, dem größten Flamenco-Festival in Madrid. Ich bin von fast allen akzeptiert.

Hat es Sie überrascht, in welches Territorium Sie da vorgestoßen sind?

Sotelo: Ich würde sagen, was ich mache, ist sozusagen unberührtes Land. Meine Untersuchungen sind sehr beeinflusst von der französischen spektralen Schule. Ich habe für meine Analysen Computer verwendet, etwa die Software »AudioSculpt«, mit der ich die Stimmen alter Flamenco-Sänger analysiert habe. Das Ganze ist ein sehr langer Prozess, den man schwer in wenigen Worten zusammenfassen kann, aber er ist – bei aller Freude, die er ausstrahlt – mit Sicherheit keine oberflächliche An­näherung an eine folkloristische Musik, er ist eine sehr tiefe Auseinandersetzung und Untersuchung.

Gibt es Formprobleme?

Sotelo: Bereits Schönberg hat gesagt, dass das ­Problem der Volksmusik nicht an den kleinen Formen liegt, sondern an den großen. Das ist bei Mahler fantastisch zu sehen, hier wird eine andere Dimension des Denkens, des Hörens, des Seins ausgedrückt. Das passiert auch bei Mozart, es grenzt an ein Wunder, dass er so große Konstruktionen wie Don Giovanni im Kopf haben konnte. Ich bin davon überzeugt, dass er als Komponist diese unglaublichen Klanggebäude mit einem Blick erfassen konnte. Das ist Intuition, nicht Konstruktion, es ist nicht komponiert und zusammengestellt, es ist seiner unglaublich tiefen kompositorischen Intuition zu verdanken, dass er diese große Dimension in einem Moment auffassen konnte.

Das ist für mich das Wichtigste. Ich möchte die Qualität und die Ausdruckskraft, die etwa in einer »Seguidilla« oder einer der kleinen Flamencoformen lebt, auf eine größere Architektur übertragen. Also vom Kleinen aus zur klingenden Kathedrale.

Rein technisch stellt sich für mich auch hier die Frage der Resonanz: Ich möchte nicht, auch wenn wir vom »Ausdruck« reden, direkt »zeigen«, was ich »ausdrücken« möchte, ich ziehe die Möglichkeit vor, ein Fenster des Möglichen in diese Resonanz zu öffnen. Und deswegen ist meine Musik modern – ich bin kein unterdrückter Zigeuner, ich kann ja nicht ausdrücken, dass ich im Gefängnis oder unterdrückt bin. Ich möchte nicht zeigen, dass ich leide, sondern diese ganze Kraft im Resonanzkörper ausstrahlen, so dass alle im Saal das spüren und sich mit etwas, das wir alle leben und sind, identifizieren.

Sie haben zuletzt sogar eine Flamencotänzerin quasi als Instrument eingesetzt.

Sotelo: Ich habe mich dazu entschieden, in den letzten zwei Werken ein zusätzliches Element einzubinden: ein perkussives Element, also ein Schlagzeuginstrument, welches auch eine unglaublich visuelle Kraft hat – und das in Form einer Flamencotänzerin. Die Tänzerinnen wissen, dass sie rhythmisch absolut präzise sind, ihre rhythmische Raffinesse, Präzision und Kraft sind unglaublich. Ich war sehr vorsichtig mit diesem Element, denn der Gedanke, dass sich ein Zuseher denkt »Aha, da kommt jemand aus Spanien« liegt sehr nahe. Aber ich muss sagen, dass es funktioniert hat, zumindest im Moment. Auch die Textur meiner Musik wurde dadurch wahrscheinlich noch lebendiger und interessanter.

»Der Flamenco spricht immer vom Tod, hat aber keine Angst vor ihm, er steht ihm immer gegenüber.«

Mauricio Sotelo

Die Klangwelt, mit der Sie den Flamenco konfrontieren, ist auch das Resultat einer Spektralanalyse von alten Gesängen. Können Sie diese Technik erklären?

Sotelo: Das eigentliche Klangbild, das wir hören, ist das Resultat von spektralen Analysen alter ­Flamencogesänge und -stimmen mithilfe von Computersoftware vom IRCAM, wie zum Beispiel »AudioSculpt«, verarbeitet über »OpenMusic« und neulich »Orchidée«, ein Programm, welches bei der Instrumentation helfen kann. Man kann es sich wie das Röntgen eines Klanges vorstellen. Daraus erhalte ich eine neue Klangwelt, im Hinblick auf Instrumentaltechniken bin ich ja sicherlich sehr von Helmut Lachenmann und Salvatore Sciarrino beeinflusst worden.

Wenn Arcángel, ihr phäno­menaler Flamenco-Sänger, seinen Part singt, notieren Sie es, nachdem es aufgenommen wurde. Wie kommt es zu diesen Melodielinien? Existieren sie und Sie komponieren etwas dazu oder werden sie in Zusammenarbeit komponiert?

Sotelo: Der Arbeitsprozess mit Arcángel fängt bei einem musikalischen Gespräch an. Das heißt, wir sprechen über diese alte Tradition, etwa über die »Soleá«, eine der Flamencoformen. Wir sprechen über diese alten Liedformen und plötzlich finden wir gemeinsam ein bestimmtes musikalisches Profil, welches uns interessiert. Irgendwann erreichen wir den Punkt, an dem wir sagen können: »Gut, nehmen wir das auf und arbeiten wir daran. Was gibt es hier, was wächst hier?« Dann beginnen wir damit, mikroskopisch daran zu arbeiten. Arcángel bekommt anschließend eine transformierte Form, ohne dass die Flamencoeigenschaften verloren gehen, im Gegenteil, wir suchen, als ob man das Gras durchforstet und kleine Blumen findet. Wir überlegen, wie wir kleine Floskeln zerreißen können, wie wir noch tiefer gehen können. Es ähnelt einem Filterprozess, er bekommt drei, vier Mal etwas von mir Aufgenommenes, inklusive transformierter Stimme. Das lernt er dann, später treffen wir uns wieder. Irgendwo entsteht dann ein Profil, eine Linie, die eine Flamencostimme hat – aber wir sind bereits woanders.

Welche Themen behandelt der Flamenco?

Sotelo: Hauptsächlich natürlich Tod, Leiden, Liebe. Der Flamenco spricht immer vom Tod, hat aber keine Angst vor ihm, er steht ihm immer gegenüber. Es gibt aber auch eine unendliche Hoffnung. Es ist nicht heroisch, aber utopisch-melancholisch, bittersüß, Licht und Dunkel.

Sie gehen in eine neue Richtung – wo führt sie hin?

Sotelo: Ich bin unterwegs. Einige der nächsten Stücke sind sehr weit vom Flamenco entfernt, sie sind abstrakter. Aber mein Herz und mein Geist bleiben beim Flamenco.

Und ich habe einen Auftrag von Gerard Mortier, eine neue Oper, El público von Federico García Lorca, zu schreiben. Es war eigentlich ein verlorenes Manuskript, ein unvollendet erhaltenes Werk. Für mich ist es interessant, die Entwicklung von Federico García Lorca zu beobachten. Er hatte eine ganz klare Sprache, eine unverwechselbare »Lorca-Sprache«, und diese dichterische Landschaft hat er nach seiner Reise nach New York verlassen. El público wurde um diese Zeit geschrieben, es ist unglaublich surrealistisch, avantgardistisch und modern – aber es bleibt Lorca, obwohl alle Hauptthemen, wie Zigeuner und Liebe, auf einmal verschwunden sind. Die »Lorca-Seele« bleibt, sie ist die unverwechselbare Sprache von Lorca.

Interview: Wolfgang Schaufler