»Ein Prozess der Entdeckung«

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Manfred Eicher, Tõnu Kaljuste, Arvo Pärt; photo: Kaupo Kikkas / Arvo Pärt Centre; for further use of the photo, please send your requests to Arvo Pärt Centre (info@arvopart.ee)

Wann sind Sie der Musik von Arvo Pärt zum ersten Mal begegnet?

Kaljuste: Ich war ungefähr 14 und sang in einem Kinderchor. Wir sangen seine Kantate Unser Garten. Wir haben es dann beim Youth Song Festival aufgeführt.

Wann hat die Zusammenarbeit begonnen?


Te deum
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Kaljuste: Unsere Zusammenarbeit begann 1988 als ich das Te Deum für das Estnische Radio aufnahm. Pärt lebte damals noch in Berlin und verlangte, dass die Aufnahme ihm geschickt wird. Ich vermute sie gefiel ihm und wir spielten daraufhin das Werk für CD ein. Wir knüpften schnell eine sehr gute Verbindung.

Pärt ist Referenz und Inspiration für viele Musiker und Komponisten, obwohl er nie als Kompositionslehrer gewirkt hat. Woher kommt diese Kraft?

Kaljuste: Ich kann nicht für andere sprechen, für mich aber ist bedeutsam, dass Pärt ehrlich, aufmerksam und frei von Vorurteilen ist. Er behandelt alle Menschen, Orchester und Chöre gleich. Er und seine Musik spiegeln Güte wider.

»Vertrauen Sie der Stille«, sagt er gerne.

Sie haben viele Uraufführungen dirigiert, aber auch viele CDs eingespielt. Unterscheidet sich die Arbeit mit Pärt, wenn es sich um eine UA oder CD handelt?

Kaljuste: Pärt arbeitet seine Werke oft nach ihrer Uraufführung um, fügt Änderungen ein. Eine CD-Einspielung ist wiederum ein Zeichen, dass ein Werk fertig ist. Er lässt kein Stück einspielen, solange er nicht selbst mit der Komposition zufrieden ist.

Spielt Klangqualität dabei eine Rolle?

Kaljuste: Selbstverständlich – die Suche nach Schönheit endet nie.

Sie arbeiten ja mit vielen Komponisten, was charakterisiert Pärt?

Kaljuste: Einige Komponisten trennen sich von ihren Werken nach der Uraufführung und geben den Interpreten dann völlig freie Hand. Pärt hingegen nimmt gerne Teil an der Vorbereitungsarbeit für Aufführungen. Er ist sehr einfühlsam und fordernd wenn es um Details geht und er spricht zu Musikern eher in Bildern als über Technik. Außergewöhnliche Sensibilität wird von den Musikern erwartet – »vertrauen Sie der Stille«, sagt er gerne.

Pärts Musik ist oft ein Gebet. Wenn man sein inneres Gleichgewicht erreicht, dann kann man der eigenen Freiheit vertrauen.

Erinnern Sie sich auch an besondere Begebenheiten in der Arbeit mit Pärt?

Kaljuste: Es gab einmal eine amüsante Episode während einer Aufführung von Lamentate. Ich wandte mich dirigierend an einen Teil des Orchesters, hörte aber, dass ein anderer Teil des Orchesters genau diese Phrase zu spielen begann. Arvo erklärte mir in Anschluss seine neueste Idee. Leider hatte er aber keine Zeit mehr, sie in die Partitur einzutragen.

Gibt es Ratschläge, die Sie einem Dirigenten geben würden, der sich zum ersten Mal der Musik Pärts nähert?

Kaljuste: Es sollte eigentlich keinerlei Unterschied darin geben, ob ein Dirigent sich auf Pärts Werke oder die eines anderen Komponisten vorbereitet. Studiere das Stück, höre dem strukturellen Fluss genau zu, finde einen Sinn in jeder Zeile, die es dem ausübenden Musiker ermöglicht, das Stück nicht einfach mechanisch nach Noten zu spielen. Das macht die Musik dann zu etwas Besonderem und Bedeutsamen. Wenn das passiert, dann erkennen wir, wie wunderbar es ist, der Stille so nahe zu sein.

Welche Freiheiten lässt Ihnen eine Partitur von Pärt?

Kaljuste: Pärts Musik ist oft ein Gebet. Wenn man sein inneres Gleichgewicht erreicht, dann kann man der eigenen Freiheit vertrauen.

Wie vermitteln Sie die Musik von Pärt Ihrem Publikum?

Kaljuste: Mit gut durchdachten Konzertprogrammen. Niemand will nur nackte Noten hören. Ich spreche vor einer Aufführung nicht gerne über Musik. Worte verursachen eine bestimmte fixierte Denkart beim Zuhörer. Ich habe es lieber, wenn das Publikum völlig unvoreingenommen (tabula rasa) ins Konzert kommt.

Mit dem EPCC (Estonian Philharmonic Chamber Choir), dessen Gründer und langjähriger Leiter Sie waren, haben Sie das Chorwerk Pärts international bekannt gemacht. Was charakterisiert Pärts Umgang mit Stimme?

Kaljuste: Ich kann mich da nicht auf einen bestimmten Aspekt festlegen. Jedes Werk ist eine Welt für sich, die sich uns durch den Text erschließt.

Jedes Werk ist wie ein Flug in eine neue Welt, ein Prozess der Entdeckung.

Woher kommt Pärts Popularität bei Chören?


Magnificat
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Kaljuste: Ich habe Pärts Magnificat zum ersten Mal von einem Schulchor gesungen gehört. Ich denke, dass Popularität oft in der Jugend seinen Ausgang nimmt.

Sie sind ein international gefragter Chordirigent, gerade für das Chorrepertoire von Pärt. Wie führen Sie einen Chor, der noch nie Pärt gesungen hat, in diese Welt ein?


Solfeggio
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Kaljuste: Ich denke er sollte das Magnificat oder Solfeggio singen. Das wäre ein guter Start.


Kanon Pokajanen
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Kanon Pokajanen ist Pärts umfangreichstes a cappella Chorwerk. Sie haben es vermutlich öfter dirigiert als jeder andere Dirigent. Welche Art von Erfahrung ist dies?

Kaljuste: Bei diesem Werk bin ich gerne ein Teil des Chores. Die Aufführung ist weder ein Konzert noch eine Liturgie. Wir sitzen im Kreis und bereuen unsere Sünden.

Gibt es Werke, die Sie besonders nachhaltig beeinflusst haben?

Kaljuste: Es ist schwer für mich zu unterscheiden, was mich am meisten beeinflusst hat: Pärt als Person oder seine Musik oder sein Umgang mit Text? Das Werk, das mich aber innerlich am meisten beschäftigt hat, ist das Te Deum.

Gibt es Werke mit denen Sie besonders zu kämpfen hatten, um sie zu erfassen?

Kaljuste: Pärts Werke entfalten einen einzigartigen Klang wenn man genug Zeit hat, sich ihnen zu widmen. Was an der Oberfläche leicht aussieht, kann dennoch misslingen, es sei denn man forscht und experimentiert. Jedes Werk ist wie ein Flug in eine neue Welt, ein Prozess der Entdeckung.

Viele Werke Pärts basieren auf Texten, auch wenn diese nicht vertont werden. Sind diese Texte bei Ihrer Arbeit noch von Relevanz?

Kaljuste: Ja, sich während der Proben und der Konzerte in die Texte zu vergraben ist eine Erfahrung für sich. Es ist einzigartig in welche Tiefen und Hören sie uns bringen.


© Universal Edition, 2015