Experiment und Diskurs: Luciano Berios »Sequenze«

Stefan Drees


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© Kay Harris
Ganz zentral für die »Sequenze« ist ein neues Verständnis von Virtuosität, das zur Einbeziehung experimenteller Techniken auch zu ungewohnten Klangwirkungen führt. Diese finden sich später auch in Berios Ensemble- und Orchesterwerken.

Die Berliner Philharmoniker »streuen« in ihre Konzerte in dieser Saison immer wieder einzelne Sequenze von Luciano Berio ein. Mit diesen hat Berio ein neues Verständnis von Virtuosität ebenso etabliert wie sich als ungemein erfindungsreicher Klangmagier positioniert – bis hin zur theatralischen Aktion.

Seit den Anfängen der Instrumentalmusik wurde der unbegleitete Vortrag eines Solisten immer wieder als monologische Situation aufgefasst, in der sich der Musiker mithilfe seiner Fähigkeiten via instrumentalem oder vokalem Diskurs ins Verhältnis zum hörenden Gegenüber setzt. Wie kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts hat sich der Italiener Luciano Berio über einen Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten hinweg kontinuierlich mit den Möglichkeiten dieser Situation auseinandergesetzt und eine Reihe von vierzehn Kompositionen geschaffen, die allesamt mit dem Titel Sequenza überschrieben sind. Entgegen ihrer ursprünglichen Bedeutungen – nämlich im Sinne einer melodischen Ausdehnung am Ende des mittelalterlichen »Allelujah«-Gesangs oder als Wieder­holung von melodischen oder harmonischen Elementen auf verschiedenen Tonstufen – wählte Berio diese Bezeichnung als Hinweis auf die konstruktive Idee, dass jedes Stück auf einer Folge harmonischer Felder basiert, von denen alle übrigen musikalischen Funktionen abgeleitet werden. Dem Komponisten zufolge haben daher fast alle Sequenze das Ziel, »einen dem Wesen nach harmonikalen Verlauf auf melodischen Wegen zu verdeutlichen und zu entwickeln«, wobei ein »Eindruck polyphonen Hörens« entstehen soll, »der teilweise auf dem raschen Wechsel unterschiedlicher Charaktere und ihrem gleichzeitigen Zusammenspiel beruht«.

»Polyphonie« wird dabei – insbesondere bei den normalerweise primär einstimmig agierenden Klangerzeugern – in übertragenem Sinn verstanden und verweist auf die Präsentation und Überlagerung divergierender Aktionsweisen und unterschiedlicher musikalischer Charaktere.

»Virtuelle Polyphonie«
Diese Idee einer gleichsam »virtuellen Polyphonie« setzt Berio beispielsweise in der Sequenza I für Flöte (1958) um, indem er Haupt- und Nebennoten, Töne und Geräuschklänge, Register, Klangfarben und expressive Gesten miteinander kontrastiert und zugleich gegensätzliche Aktionen, wie das Crescendo des Klappengeräuschs und das Decrescendo von Tonhöhen, miteinander überlagert. Ein vergleichbarer Kontrast ist in der Sequenza XI für Gitarre (1987/88) als Aufeinanderprallen zweier technisch wie musikalisch unterschiedlicher Ebenen inszeniert: Differenzierte Vorgaben für Anschlags-, Zupf- oder Grifftechniken, perkussive Elemente und Details, wie die Integration optionalen Nachstimmens, dienen hier einer genau durchdachten Choreographie von Hand- und Fingerbewegungen, mit deren Hilfe Berio zwei unterschiedliche instrumentale gestische Stile – das Spiel in der Flamenco-Tradition und die »klassische« Vortragsart – miteinander konfrontiert. In die Sequenza XIV für Violoncello (2002) integriert der Komponist dagegen neben extrem heterogenen melodischen Abschnitten rhythmische Passagen, die sich auf das Spiel der Kandyan-Trommel aus Sri Lanka beziehen und durch eine polyphone Gegenüberstellung von Tonerzeugung auf den Saiten und perkussiver Klang­erzeugung auf dem Instrumentenkorpus gekennzeichnet sind.

Am deutlichsten ist die Tendenz zur »virtuellen Polyphonie« jedoch in jenen Sequenze ausgeprägt, die Berio mit theatralischen Aktionen verknüpft. So verwendet er in der Sequenza III für Stimme (1965/66) neben dem bis zur Exaltation getriebenen Singen elementare Äußerungsformen, wie Summen, Flüstern, Sprechen, Atem- und Mundgeräusche, und versieht sie mit einer Fülle assoziativer Vortragsanweisungen. Der dicht gedrängte Wechsel entsprechender Schattierungen verleiht dem Vortrag szenische Qualitäten, da mimische Ausdrucksweisen und Hand- oder Körperbewegungen zur Klangproduktion herangezogen werden müssen, wodurch eine Überlagerung von Aktionen entsteht, die als imaginäres Theater wahrgenommen wird.

Vergleichbar arbeitet Berio in Sequenza V für Posaune (1966), indem er theatralische Elemente nicht nur explizit vorschreibt, sondern auch das Einatmen in oder über dem Instrument als besondere musikalische Aktion einbezieht und den Musiker singen lässt, wobei durch den Klang bestimmter Vokale das Spiel eingefärbt wird und über weite Strecken hinweg eine Zweistimmigkeit entsteht, die in gleichem Maße eine Vokalisierung des Instruments wie eine Instrumentalisierung der Stimme beinhaltet.

»Berio setzt sich in eine bedeutende Tradition solistischen Komponierens.«

Stefan Drees

 

Staccato-Techniken 
Lediglich in zwei Kompositionen kommt es darüber hinaus zu einer Aufteilung des polyphonen Ansatzes auf mehrere Klangerzeuger: In der Sequenza VII für Oboe (1969) schreibt Berio einen leisen, unveränderlichen Bordunklang auf dem Ton H vor, der von einer anderen Klangquelle (etwa einer Tonbandzuspielung) hervorgebracht werden soll und als Klangzentrum fungiert, von dem aus sich der Instrumentalpart entwickelt und zu dem er am Ende zurückkehrt.

 

In der Sequenza X für Trompete in C und Klavierresonanz (1984) ist schließlich gar ein elektronisch verstärktes Klavier vorgeschrieben, das dem Melodieinstrument als Resonator dient. Ein zweiter Instrumentalist muss daher entsprechende Akkorde stumm niederdrücken und das Tonhaltepedal bedienen, wodurch unterschiedliche harmonische Räume entstehen, die durch das Spiel des Trompeters angeregt und zum Klingen gebracht werden. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, wie stark Berio in »harmonikalen Verläufen« denkt, wenn er für ein einstimmig agierendes Melodieinstrument schreibt, da die Melodiestimme grundsätzlich mit einem harmonischen Schatten versehen ist.

Ganz zentral für die Sequenze ist ein neues Verständnis von Virtuosität, das zur Einbeziehung experimenteller Techniken der Klanggebung führt. Es resultiert daraus, dass viele der Werke für Musiker entstanden sind, die durch neu entwickelte Spieltechniken dazu beigetragen haben, die Grenzen für ihr jeweiliges Instrument neu zu definieren, und damit auch entscheidend die Veränderung des kompositorischen Zugriffs auf dieses beeinflussten. Die Sequenze gehen solchen technischen Aspekten auf den Grund und lassen sich mitunter gar als musikalische Kommentare lesen, in deren Verlauf der neue Stand der Instrumentaltechnik zunächst isoliert wird, um dann einem Prozess der Transformation unterworfen zu werden, der ihm musikalische Ausdruckswerte verleiht und somit erst seine sinnvolle Integration in das Repertoire technischer Gestaltungsweisen ermöglicht.

Ein solches Vorgehen findet sich etwa in der für Heinz Holliger komponierten Oboen-Sequenza, die in technischen Anforderungen, wie Flageolett- und Doppelflageolettklängen, Mehrklängen, Doppeltrillern, Triller-Glissandi, Flageolett- oder Doppelflageolett-Trillern, die spezifischen Fähigkeiten des Oboisten reflektiert und diese in einen bogenförmigen musikalischen Diskurs einbindet.

Auf ganz ähnliche Weise verwendet Berio in der für Patrick Gallois geschriebenen Sequenza XII für Fagott (1995) eine Vielzahl ungewöhnlicher Spieltechniken, wie lange Glissandi zur Verbindung weit entfernter Registerbereiche oder unterschiedlichste Staccato-Techniken. Mit einer Dauer von fast zwanzig Minuten ist dieses Werk nicht nur die längste Komposition der Sequenza-Reihe; in Anbetracht dessen, dass der Komponist auf einen kontinuierlichen Klang zielt und das Stück daher ohne Atempausen mit der so genannten »doppelten Zirkular­atmung« ausgeführt werden muss, konfrontiert es den Interpreten zudem mit ungewöhnlichen körperlichen Anstrengungen.

Lyrische Momente 
Der kompositorischen Untersuchung von Spieltechniken auf ihre ästhetische Relevanz hin ist auch Berios Wendung gegen die zum musikalischen Klischee erstarrten Konventionen der verwendeten Klangerzeuger zuzurechnen. So stellt er in der Sequenza II für Harfe (1963) vor allem die ungewohnte, klanglich härtere Seite des Instruments in den Vordergrund, indem er mit den Handflächen zu spielende Cluster, Bartók-Pizzicati, Saiten- und Pedal-Glissandi oder perkussive Klänge miteinbezieht. Vergleichbar setzt er in der Sequenza VI für Viola (1967) die Bratsche gegen ihr Image als klagendes Streichinstrument ein, indem er ihr überwiegend akkordische Tremoli im dreifachen Forte anvertraut, die dem Interpreten viel Kraft und Ausdauer abverlangen. Erst im Verlauf des Werkes treten – gewissermaßen parallel zur allmählichen physischen Erschöpfung des Instrumentalisten – als Kontrapunkt hierzu auch lyrische Momente auf, die sich gegen Ende zu einer ruhigen Melodie vereinen.

Dass Berio trotz solch enormer technischer Anfor­derungen durchaus auch die idiomatischen Eigentümlichkeiten der verwendeten Klangerzeuger zu nutzen weiß, zeigen nicht nur jene Passagen aus der Gitarren-Sequenza, deren Harmonik aus der Saitenstimmung abgeleitet ist, oder die Begleitstrukturen in der Sequenza XIII (Chanson) für Akkordeon (1995), in denen sich die Anordnung der Akkordeonbasstöne entsprechend dem Quintenzirkel widerspiegelt. Es wird auch in den kompositorisch konventionelleren Sequenze deutlich: So verzichtet der Komponist in der Sequenza IV für Klavier (1965/66) zugunsten der Erforschung einer primär an die Tasten gebundenen polyphonen Konzeption vollständig auf experimentelle Komponenten wie die Präparierung von Klaviersaiten oder das Spiel im Innern des Flügels. Und die Struktur der Sequenza IXa für Klarinette in B (1980), in einer Umarbeitung auch als Sequenza IXb für Alt-Saxophon (1981) veröffentlicht, hat Berio selbst als »lange Melodie« beschrieben, die »wie die meisten Melodien Redundanz, Symmetrien, Transformationen und Wiederholungen aufweist« und einem entwicklungslogischen Zusammenhang unterworfen wird, der in einen Prozess des Zersetzens mündet und schließlich nur noch Fragmente des Beginns übrig lässt.

»Mich fesselt lebhaft der bedächtige und würdevolle Wandel der Instrumente und der instrumentalen (und vokalen) Techniken durch die Jahrhunderte hindurch. Das ist vielleicht auch der Grund, warum ich in allen meinen Sequenze nie versucht habe, das Erbgut eines Instruments zu verändern noch es gegen seine eigene Natur zu gebrauchen.«

Luciano Berio

 

Erweiterte historische Perspektive 
Ganz gleich, auf welche Art Berio den technischen Möglichkeiten der Klangerzeuger auch nachlauscht: Immer setzt er den Ausführenden in ein bestimmtes Verhältnis zu seinem Instrument und damit auch zu dessen Geschichte. Während dies in den früheren Kompositionen wie Sequenza III und Sequenza V dadurch geschieht, dass der Musiker auf einer theatralischen Ebene agieren muss und damit gezwungen ist, den Radius herkömmlichen Gestaltens umfassend zu modifizieren, sieht sich der Interpret späterer Stücke vielfach im Rahmen einer erweiterten historischen Perspektive mit den Spannungen zwischen traditionellen Impulsen und zeitgenössischem Komponieren konfrontiert. Charakteristisch hierfür ist die Sequenza VIII für Violine (1976/77), in der Berio – angelehnt an das Prinzip der Ostinatovariation, wie es exemplarisch in der Chaconne aus Bachs d-Moll-Partita BWV 1004 realisiert ist, – gleichsam variativ von wiederkehrenden Elementen ausgeht, nämlich von den Tönen A und H, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Komposition ziehen. Vergleichbar hiermit vermittelt er in der Akkordeon-Sequenza XIII musikalisch disparate Welten miteinander, indem er – was auch im Untertitel Chanson anklingt – »Echos von Volks-, Arbeiter- und Kabarett­liedern, argentinischen Tangos und Jazz« mit klassischen Elementen kombiniert und so zugleich Geschichte wie Technik des Instruments reflektiert, also die reiche Tradition verschiedenster Verwendung und die daraus resultierenden Klangtypisierungen als »Vermächtnis spezifischer musika­lischer Milieus« (Teodoro Anzellotti) einbindet.

Experimentelle Grundhaltung
Gemäß der Verschiebung vom immanent theatralischen Moment zur Auseinandersetzung mit Historischem lassen sich die einzelnen Sequenze trotz ihrer generellen Gemeinsamkeiten auch als Stellvertreter für eine allmähliche Wandlung von Berios ästhetischen Auffassungen deuten. Diese zeichnet sich unmittelbar in einer Veränderung der Notation ab und reicht von der »space notation« der frühen Werke mit ihren zwar quantitativen, aber dennoch approximativen Dauerangaben, die den Ausführenden von dem Dickicht herkömmlicher rhythmischer Notation befreien, bis zur Integration des Notats in die Matrix des Taktgefüges in den späteren Sequenze und lässt sich zudem daraus erschließen, dass Berio einzelne frühe Werke – so die Sequenza I – seit den Neunzigerjahren in ein herkömmliches Notenbild übertragen hat. Gleichwohl bleibt die Auseinandersetzung mit dem solistischen Klang­erzeuger eine bedeutsame Konstante in Berios Schaffen: Auf der Basis einer experimentellen Grundhaltung hat er hier immer wieder den Diskurs des Solisten unter die Lupe genommen und ihn – durchaus der traditionellen Auffassung gemäß – als Monolog gestaltet. Von dieser Warte aus ist es verständlich, wenn Berio seine Verbundenheit mit der historischen Kontinuität instrumentaler (bzw. vokaler) Techniken dezidiert hervorhebt und sich damit in einer bedeutenden Tradition solistischen Komponierens positioniert.