Festspruch auf Alban Berg

Paul Stefan


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Der 50. Geburtstag von Alban Berg am 9. Februar 1935 wurde von der Universal Edition gebührend gefeiert. Dieser Text entstammt den Musikblättern des Anbruch (Heft 1, 1935) und zeigt die hohe Wertschätzung, die man Berg entgegenbrachte. Da der Autor, Paul Stefan, bei der Feier nicht anwesend war, wurde der Text verlesen.

Meine verehrten Zuhörer! Die Worte, die jetzt verlesen werden, sind leider nicht selbst gesprochene Worte – aber ich hoffe, sie werden die gleiche Kraft der Überzeugung haben und mitteilen. Sie wollen ein Glückwunsch sein; aber eigentlich ein doppelter: einer an Alban Berg und einer an uns gerichtet, die wir Alban Berg den unseren nennen können. Der Künstler ist zu beglückwünschen, weil ihn sein Weg auf die steile Höhe führte, auf der ihn unsere Gedanken jetzt zu suchen haben. Es war ihm vergönnt, in einer besonders für schaffende Menschen schweren Zeit zu tun und zu lassen, was seinem Genius gemäß war und nichts anderes. Er ist davor bewahrt worden, sich unter das Joch eines Berufes zu ducken und der Diplomatie des täglichen Lebens seinen Zoll zu entrichten; da hat ihn die selbst gewählte Einsamkeit geschützt. Sein Leben ist von der bleichen Zwielicht­sonne der Alltagsgunst nicht erleuchtet worden, es gab keine Sensation um ihn, er hat Mächtigen nicht gehuldigt, die Huldigungen zu empfangen wünschten, und von seinen Überzeugungen nichts preisgegeben. Wenn er Freunde und ihre Sache gefährdet glaubte, hat er, unbekümmert um die Folgen, das Wort ergriffen und, schon in den Widmungen seiner Werke, Zeugnis abgelegt. Wie er äußerlich eine noble, um nicht zu sagen aristokratische Erscheinung ist, so darf er seinem ganzen Wesen nach als Ausnahmemensch in einer Welt der Beziehungen, der Feigheiten und Lügen angesprochen werden. Er war und ist vor allem Künstler – aber er hat sich niemals gescheut, auch Bekenner zu sein, auch rechts und links von der schmalen Bahn, die zu wandeln ihm bestimmt war. Sein Mut war freilich die schenkende Tugend eines Mannes, der das Rüstzeug genauesten Wissens und tiefster Einsicht trug. Wenn er zum Streit ausholte, so hatte er von vornherein das Recht der besseren Sache und des besseren Verstehens. Er schreckte dann nicht davor zurück, auch scharfe Worte zu gebrauchen. Doch war es niemals seine Absicht, zu verletzen: Was er sagte und tat, geschah in der Verteidigung, der Schutz idealer Güter schien ihm anvertraut und er war nicht der Mann, ihn anderen zu überlassen.

»Ein Ausnahmemensch in einer Welt der Feigheiten und Lügen.«

Paul Stefan

Wenn dies alles in Zeitläufen wie den unseren weltfremd genannt werden kann, so war er im eigenen und eigentlichsten Schaffen dieser Welt, in der es andere sichtlich darauf anlegten, es zu etwas zu bringen, wie man wohl sagt, er war der Welt des gesuchten Erfolges zeit­lebens erst recht fremd. Im Gegensatz zu dem Talent, das nach jeder Richtung hin wachsen und sich entfalten kann, hat das Genie nur eine Möglichkeit: genau die, die seiner Bestimmung entspricht. Bestimmung und Schicksal sind alles. Schicksal der erste Schritt, den man tut, die Führung, der man sich anvertraut, die Freunde, die man gewinnt, die Gefolgschaften, die sich anschließen. In den ersten Anfängen des Weges, den Alban Berg solcherart nahm, stand die gewaltige Erscheinung Arnold Schönbergs, an der so viele Zeitgenossen vorüber­gehen zu können glaubten. Nicht so Berg, der auf Schönberg aufmerksam wurde, dieses Genie des Lehrens aus dem Lernen, des Findens aus dem eigenen Suchen. Berg half ihm zu suchen und das begründete Schülerschaft und Freundschaft. Anfangs ging er die Wege mit, die der Lehrer ging – der andererseits keinen Schritt tat, ohne ihn mit den Schülern, den Weggefährten zu beraten. Sehr bald durfte der Lehrer für den Schüler eintreten, vor der Öffentlichkeit am deutlichsten, als in dem Konzert, das Orchesterstücke von Berg unter Schönbergs Leitung brachte, und einem Publikum, das eben besonders vergangenheitssüchtig war, den Anlass bot, in unziemliche Heiterkeit auszubrechen. Selbst Wohlwollende paktierten damals mit der öffentlichen Meinung, indem sie die private hinzufügten, Berg sei eben zu weit gegangen. Über das Zuweit entscheiden nicht die Menschen der Kompromisse, sondern die prophetischen Naturen – die vor allem, die über sich selbst und das eigene Wollen und Müssen Bescheid geben können und die Verantwortung zu tragen imstande sind.

»Es ist Arbeit von strengster Form, Gedankenarbeit, etwas unerhört Neues.«

Paul Stefan

Der Krieg brach herein, es wurde still um die Unerbittlichkeit der Avantgarde von damals, man hatte sie vergessen. Als eine neue da war, durch Jahrzehnte getrennt von allem, was nur Jahre zurücklag, stand Alban Berg abermals in den vordersten Reihen. Schon kannte man seine Klaviersonate, sein Streichquartett, seine frühen Lieder – es ist ganz merkwürdig, wie sich die Kenntnis bezeichnender Werke einer neuen Musik allerorten gewissermaßen unterirdisch durchgesetzt hat. Wo immer sich Gemeinschaften bildeten, die diese neue Kunst pflegten, suchten sie die Werke von Berg zu verbreiten, die zahlreichen Musikfeste der ersten Nachkriegsjahre wurden ihnen gerecht, Schüler strömten herbei, die Sache Bergs wurde kritisch durchgefochten. Aber die Volkstümlichkeit eines jungen Meisters gründete sich vor allem auf die zwei der späteren Hauptwerke, auf die Lyrische Suite für Streichquartett, die nun freilich Interpreten von ganz besonderer Art fand, und auf die Oper Wozzeck. Den Roman dieses Meisterwerkes kann man vielleicht nur aus der eigenen Erinnerung schreiben. Da waren die Jahre stiller, weltabgeschiedener Arbeit, die weiteren, in denen die fertige Partitur von einem Theater zum anderen wanderte, aber nichts hervorrief als Zeichen des Schreckens und Beteuerungen der Unmöglichkeit. Endlich die Annahme durch Kleiber in Berlin, der sich bis zur Selbstpreisgabe in diese Oper versenkte, das fraglos repräsentative Opernwerk der neuen Zeit und der neuen Musik. Endlich die Aufführung vor fast zehn Jahren, unter deren Wucht ein vorbereiteter Skandal in das Nichts seiner Drahtzieher versank – aus dem Chaos stieg der erste Triumph. Skandal in Prag bei der dritten Aufführung im tschechischen Nationaltheater, der ein demonstratives Bekenntnis der besten Künstler Prags zu der Kunst Alban Bergs im Gefolge hatte; der Dirigent der Aufführungen wurde von der Regierung ausgezeichnet. Abermals Ruhen des Werkes: Plötzlich wird In- und Ausland alarmiert – nach Amerika, nach Holland und Belgien hat England den Wozzeck gehört. Im Zeichen des Kampfes steht die erste Aufführung eines weiteren Bühnenwerkes von Alban Berg, dem heute wenig populären Wedekind nachgedichtet – oder vielmehr die Aufführung einiger Bruchstücke aus der Musik zu diesem Werk. Auch hier begibt sich das Wunder, dass ein zum Protest von außenher nur so gereiztes Publikum nicht protestiert, vielmehr von der Wucht und der mindestens geahnten Schönheit dieser Musik überwältigt wird und in Ovationen ausbricht.

Magie des Künstlers und des Werkes: Es ist Arbeit von strengster Form, Gedankenarbeit, etwas unerhört Neues, dem man zujubelt – man tut es trotzdem und muss es tun, weil das innere Müssen da ist und in seiner unbesieglichen Stärke gespürt wird. Alban Bergs Kunst zu deuten, ist Sache der Kenner und der Wissenden – an sie zu ­glauben, sie zu lieben, Sache des einfachsten Hörers. Es gibt ein untrügliches Zeichen des Echten: dass es erkannt oder vielleicht nicht so sehr erkannt wie gefühlt von Mensch zu Mensch übertragen wird. »Dich schuf das Herz«, sagt ein Dichter von ewigen Gestalten und einem ewigen Werk. Darauf kommt es auch Berg an, und das erfahren alle seine Hörerschaften. Ein großes Herz schwingt mit, ein großer Mensch spricht hier, und es ist im letzten Grund gleichgültig, in welcher Sprache und mit welchen Mitteln. Der richtende Verstand darf sie gutheißen und als etwas wahrhaft Neues begrüßen. Aber die alte Weisheit gilt noch, dass die Kunst bei aller Verschiedenheit des Scheines und der Form im Wesen eins ist und auch der Mensch etwas Ewiges und Einziges, merkbar, wenn eben ein Mensch geredet hat.


Musikblätter des Anbruch, 17. Jahrgang, Heft 1, 1935