Franz Schreker: Einen fernen Klang entdecken

Christopher Hailey


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© ÖNB; Schreker-Nachlass
Franz Schreker in seinem Arbeitszimmer (Berlin, 1930/34)

Der Musikwissenschafter Christopher Hailey über das Werk von Franz Schreker, dem er sein wissen­schaftliches Leben gewidmet hat. Für ihn sind dessen Klänge „Metaphern der Zerbrechlichkeit menschlichen Glücks“. Daher rührt auch die ungeheuere Aktualität von dessen Opern.

Der ferne Klang, Titel von Schrekers bekanntester Oper, ist eine Metapher für sein Lebenswerk: eine Welt aus betörender Klangfülle von beispielloser Originalität. Es ist glaubwürdig, wenn der Komponist sagte, dass die Themen, Handlungen und Charaktere seiner Opern einer musikalischen Vision entsprangen. Ein überzeugender Beweis für diese Behauptung sind die ersten Takte der Ouvertüre von Die Gezeichneten (1918): ein faszinierend bitonales Leuchten der Geigen, Harfen, Celesta und des Klaviers, das sich schwebend über eine sich windende, schlängelnde Melodie in der Bassklarinette und den tiefen Streichern erhebt. Das ist die Musik des Fin de siècle in Wien, der Stadt am Abgrund, taumelnd zwischen atemberaubender Perspektive und erschreckenden Klüften.

Schreker war ganz Zeitgenosse von Sigmund Freud, Gustav Klimt und Arthur Schnitzler; gleich ihnen er­forschte er die dunklen Tiefen und die labyrinthische Vielschichtigkeit der menschlichen Seele. Er tat dies mit einer unendlich differenzierten musikalischen Sprache, die aus den reichen Quellen des Orchesters schöpfte. Wenn Arnold Schönberg die Dissonanz befreite, so emanzipierte Schreker, wie Claude Debussy, die Klangfarbe der Instrumente und erhob sie zu derselben Bedeutung wie Melodie, Harmonie und Rhythmus. Während sich Schönberg zur strengen Reinheit der abstrakten Idee bekannte, war Schreker, ein Mann des Theaters, fasziniert vom sinnlichen Spiel des Scheins, von Träumen und Illusionen, die sowohl bezaubern wie auch verführen.

Deshalb sind Schrekers ferne Klänge kein romantisches Idealbild. Sie sind Metaphern der Zerbrechlichkeit menschlichen Glücks, ein Motiv, das in seinen reiferen Opern (deren Libretti er selbst geschrieben hat) Widerhall findet. Ein anderer roter Faden, der sich durch diese Arbeiten zieht, ist sein tiefes Empfinden der ­menschlichen Verletzbarkeit. Eine Eigenschaft, die er mit Alban Berg teilt, der Schrekers Opern gut kannte, nachdem er den Klavierauszug von Der ferne Klang gefertigt hatte; Wozzeck und Lulu sind ohne das Vorbild seines älteren Zeitgenossen undenkbar. Berg lernte auch aus Schrekers Umgang mit der Stimme, der feinfühligen Empfänglichkeit für eine Stimmung, eine Idee oder das Wort. Schrekers Werk ist voll hochfliegender Lyrik – man denke an Carlottas Lobgesang an die Sonne am Ende des 1. Akts von Die Gezeichneten –, aber alles fließt, entfaltet sich unentwegt, fast ohne Wiederholungen. Überall zeigt sich das wunderbar delikate Wechselspiel von vokalem Tonfall und der Klangfarbe der Instrumente, so zum Beispiel in Schrekers exquisiten Orchesterliedern nach Walt Whitman wie Vom ewigen Leben (1927).

Trotz ihrer nahezu schmerzhaften Schönheit lastet auf Schrekers Musik nicht die Nostalgie, wie man sie bei Berg, Mahler oder Korngold findet. Ihre fragile Unmittelbarkeit und flüchtige Vergänglichkeit sind hoch emotional und dabei seltsam flüchtig.

„Schrekers Modernität gründet in einer Verlagerung der Perspektive.“

Naturalismus und Symbolismus
Schrekers Modernität gründet nicht so sehr in einer revolutionären musikalischen Sprache wie der Atonalität oder der Zwölftontechnik, sondern in einer Verlagerung der Perspektive. Einerseits erweitert er Wagners Konzept vom Gesamtkunstwerk durch eine visuelle und akustische Dramaturgie, welche die Sprache des Kinos – einschließlich Split-Screen-Effekte, Nahaufnahmen und Bildmontage – vorwegnimmt. Andererseits bedient sich Schreker einer stilistischen Vielfalt, die an Mahler erinnert und in der das scheinbar Konventionelle, Banale neben ­Revolutionärem und Anspruchsvollem besteht. Ganz wie bei Mahler können diese Welten weder getrennt noch durch kritische Prinzipien hinreichend ausgesöhnt werden. Schrekers ästhetische Welt bewegt sich zwischen Naturalismus und Symbolismus, zwischen Jugendstil und Expressionismus, zwischen Romantik und Moderne. Diese belebende Mischung der Bestandteile ist einer der Gründe, warum sich seine Musik nicht leicht zuordnen lässt.

Zu seiner Zeit waren Schrekers populärste Opern Der ferne Klang, Die Gezeichneten und Der Schatzgräber (1920), aber in den letzten Jahren wurden auch seine frühen pantomimischen Werke wiederentdeckt und aufgeführt, so Der Geburtstag der Infantin (1908), das apokalyptische Das Spielwerk und die Prinzessin (1913), das expressionistische Irrelohe (1924) und das späte, komische Meisterwerk Der Schmied von Gent (1932). Nur Der singende Teufel (1928) wartet heute noch auf eine gebührende Neuinszenierung. Das ist Teil einer längst überfälligen Neubewertung von Schrekers späten Arbeiten, die nach seinem Umzug nach Berlin 1920 entstanden, als er Direktor der bekannten dortigen Hochschule für Musik wurde. Die bemerkenswerte Transformation von Schrekers Stil im letzten Jahrzehnt seines Lebens spiegelt seine Faszination für die neuen Techniken der Tonaufnahme wider, den Rundfunk, für den er Kleine Suite für Kammerorchester (1928) schrieb, oder den Tonfilm, für welchen er so fantastisch Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 orchestrierte.

Fixer Platz im Repertoire
Nach Jahrzehnten der Versäumnis hat Schreker heute den ihm zustehenden Platz in der Geschichte der europäischen Moderne zurückerobert, sei es als Lehrer, als Dirigent oder als Intendant. Sein wesentlicher Nachlass aber besteht aus einem umfangreichen Œuvre, das über seine Opern und Orchesterwerke hinausreicht und Chorstücke, Kammer­musik, Lieder und frühe Werke für Klavier umfasst.