»Hören mit offenen Ohren, mit offenem Herzen und offenem Verstand«

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Wie ist die Zusammenarbeit für Morgen und Abend mit dem norwegischen Autor Jon Fosse entstanden?

Haas: Die Zusammenarbeit mit Jon Fosse begann etwa 2004, als Hans Landesmann auf mich zukam und sagte: »Georg, ich habe zwei Wünsche. Der erste Wunsch ist, dass ich eine Oper von dir und Jon Fosse hören möchte. Und der zweite Wunsch ist, dass ich es noch erleben darf.« Für die erste Oper, Melancholia, ging dieser Wunsch in Erfüllung. Für die zweite, Morgen und Abend, leider nicht mehr.

Wenn ich mich richtig erinnere, hat mir Fosse am Abend der Premiere von Melancholia den Themenvorschlag für eine zweite Oper gemacht. Ich war ein klein wenig enttäuscht, dass er nicht eines seiner wunderbaren Beziehungsdramen vorschlug, sondern eine Geschichte, in der es »nur« um die Geburt und den Tod eines norwegischen Fischermanns geht. Aber ich habe Jon Fosse vertraut und dieser hat mir ein ganz wunderbares und rührendes Libretto geschrieben.

Morgen und Abend handelt von meiner Zukunft und von der Zukunft jedes Menschen, der diese Oper sieht. Das hat mich gezwungen, emotional sehr tief zu gehen.

Zwischen Melancholia und Morgen und Abend sind einige Jahre vergangen, die Idee für eine zweite Oper stand jedoch seit längerem im Raum. Was ist in diesen Jahren mit dieser Idee passiert?

Haas: Rückwirkend muss ich sagen, dass ich sehr froh bin, dass ich so viele Jahre warten musste. Mein Leben hat sich in der Zwischenzeit verändert. Ich lebe in New York, ich lebe mit einer wunderbaren Frau zusammen, die mir diese emotionale Tiefe ermöglicht hat, und ich glaube, vor drei Jahren hätte ich dieses Werk so nicht schreiben können. Morgen und Abend handelt von meiner Zukunft und von der Zukunft jedes Menschen, der diese Oper sieht. Das hat mich gezwungen, emotional sehr tief zu gehen.

Das Sterben und der Tod sind zentrale Themen in Morgen und Abend. Diese Themen werden von Ihnen jedoch – anders als im klassischen Opernkanon – nicht theatral umgesetzt. Welchen Tod stirbt Johannes, die Hauptfigur Ihrer Oper?

Haas: Johannes stirbt eben keinen theatralischen Operntod, er stirbt einen realen. Wir sehen in der traditionellen Oper den Tod immer aus der Perspektive des Voyeurs, der von außen zusieht. Ich wünsche für meine Opern aber, dass sich die Zuhörer automatisch in die zentrale Person, in dem Fall Johannes, hineinversetzen. Niemand im Publikum identifiziert sich zum Beispiel mit dem sterbenden Komtur in Mozarts Don Giovanni – wenn man sich mit jemandem identifiziert, dann mit Don Giovanni, aber nicht mit dem Gestorbenen. Dies ist bei allen Operntoten so. In Morgen und Abend jedoch bemerkt man plötzlich, dass man sich in die Rolle des Gestorbenen hineinversetzt. Dies schafft eine sehr tiefe und intensive emotionale Grundsituation, die für mich natürlich auch kompositorisch eine Herausforderung war.

Johannes stirbt zwar den realen Tod, aber danach befinden wir uns nicht mehr in der realen Welt, sondern in einer Zwischenwelt.

Haas: Vielleicht sollte ich darüber sprechen, dass ich im Alter von 14 Jahren eine Nahtoderfahrung hatte, daher ist mir diese Zwischenwelt nicht ganz unbekannt. Was an dieser Nahtoderfahrung für mich wichtig geblieben ist, ist nicht die Erinnerung an ein Licht, das viele andere in dieser Situation gesehen haben, sondern die Erinnerung an einen extrem lauten, extrem hohen und extrem schnell rotierenden Klang. Dieser Klang kommt gegen Ende der Oper vor, wenn Johannes und sein Freund Peter die Schwelle überschreiten. Es gibt viele Berichte über eine Person, die einen im Leben begleitet hat und die kommt und einem hilft – so wie Peter Johannes in dieser Situation hilft und über die Schwelle begleitet. Es handelt sich zwar um etwas, das wir nicht genau wissen, aber über dessen Beginn wir gewisse Erfahrungen haben.

Es muss jedem von Anfang an deutlich gemacht werden, dass es hier um etwas Existentielles geht.

Morgen und Abend beginnt mit harten, martialischen Schlägen im Schlagwerk. Was hat Sie zu diesem Anfang inspiriert?

Haas: Als ich mit dem Komponieren der Oper begonnen habe, waren meine ersten Gedanken über die Ouvertüre das Naheliegende. Ich habe mich zunächst gefragt, worum es geht? Es geht um Geburt, um Tod, um einen mystischen Beginn. Mit dieser Idee im Kopf war ich jedoch nicht glücklich. Dann wurde mir ein Satz in der Oper bewusst, in dem die Hebamme zu Olai sagt: »Denn geboren werden, das ist nicht leicht.« Diesem fügt sie hinzu: »Und es ist nicht leicht, zu gebären.« Ich würde hier noch ergänzen: »Und es ist nicht leicht zu sterben«. Da war mir klar, es muss jedem, der in die Oper hineingeht, von Anfang an deutlich gemacht werden, dass es hier um etwas Existentielles geht. Die semantische Bedeutung dieser Schläge wird sehr bald ersichtlich, denn diese Schläge bilden jeweils den akustischen Rahmen zu den Schmerzensschreien der Frau und dann zuletzt dem Geburtsschrei des Kindes.

Sie haben wahrscheinlich zuerst Fosses Roman Morgen und Abend gelesen und später das Libretto. War die Person des Olai, Johannes‘ Vater, für Sie von Anfang an eine Sprech- und keine Gesangsrolle?

Haas: Ursprünglich wollte ich, dass Olai gesungen wird. Fosse hatte mir dafür in seinem Libretto etwas geschenkt, worum ich ihn gebeten hatte, nämlich Vokale, die keine semantische Bedeutung haben, damit ich auf diese abstrakte Kantilenen komponieren könnte.

Als ich dann das Libretto gesehen und studiert habe, wurde mir klar, dass das nicht gesungen werden kann, sondern dass es gesprochen werden muss. So entsteht eine ganz wunderbare Kontrastwirkung zwischen den Persönlichkeiten. Olai im ersten Teil lebt und spricht. Johannes, seine Frau Erna und sein Freund Peter im zweiten Teil sind wiederum tot und singen. Ich finde diese Kombination von gesprochenen und gesungenen Texten sehr aufregend. Ich spiele hier auch mit der Erwartungshaltung der Zuschauer. Die Oper beginnt mit einem Schauspieler, der spricht. Dann kommen große klangliche Wogen, die sich wieder zurückziehen und Olai spricht erneut. Das Publikum wartet zu dem Zeitpunkt bereits verzweifelt darauf, dass endlich gesungen wird. Den Zuschauern ist vielleicht gar nicht bewusst, dass sie genauso auf die Sängerin warten wie der Vater auf die Nachricht, dass sein Kind geboren ist.

Es gibt außerdem einen Kontrast zwischen dem Schauspieler und der Frauenstimme in der Rolle der Hebamme und Johannes‘ Tochter Signe, die von derselben Sängerin gesungen werden müssen. Sowohl die Hebamme als auch die Tochter stehen zwischen den Welten, sie sind so etwas wie Botschafter. Mit diesem Gegensatz konnte ich dann arbeiten.

Ich wünsche mir, dass man einfach in die Oper geht und das Ganze wie Klanglandschaften wahrnimmt, durch die man wandert.

Ich zitiere aus einem Interview, das Sie dem Royal Opera House London gegeben haben: »Don’t expect melodies, don’t expect harmonies, just expect soundscapes.« Könnten Sie das genauer erklären?

Haas: Natürlich hat meine Musik melodische Elemente, sogar ganz traditionelle. Wenn zum Beispiel die Hebamme auftritt, hören wir ein ganz einfaches c-Moll. Die Zuhörenden sollten von einer zeitgenössischen Oper nicht erwarten, dass es bestimmte Harmonien, Dissonanzen und ästhetische Vorgaben gibt. Ich wünsche mir, dass man einfach hineingeht und das Ganze wie Klanglandschaften wahrnimmt, durch die man wandert. Für mich ist das wichtigste, dass man sich mit offenen Ohren, mit offenem Herzen und offenem Verstand hineinsetzt und dem Strom dessen, was da erklingt, was da gespielt und gesprochen wird, nachgibt.

In Morgen und Abend gibt es einen signifikanten Unterschied zu Ihren vorherigen Opernwerken: Vor allem Johannes‘ Tochter Signe singt Mikrotöne, die anderen Sänger jedoch nicht. Warum ist dies so?

Haas: Ich kann nicht verhindern, dass ich immer wieder zum Thema Mikrotonalität befragt werde. Ich schreibe Musik und ich setze das, was notwendig ist, das, was die Sängerinnen und Sänger realisieren können, in Töne. In dieser Oper ist mehr Mikrotonalität zu hören, als notiert ist – durch die Komplexität der Stimmen entsteht sie automatisch. Andererseits sollten die reinen Quinten d-a am Anfang der Oper, die tonalen Moll- und Dur-Akkorde ohne mikrotonale Veränderung (trivial formuliert: einfach richtig) intoniert werden.

Generell muss ich sagen: nicht alles, was in Aufführungen meiner Musik mikrotonal klingt, ist von mir auch mikrotonal gewollt, aber für die Menschen, die meine Musik hören, ist die Frage irrelevant, wie ich meine Musik notiere. Ich wünsche nicht, dass man denkt: »Ah, jetzt singt Sarah Wegener als Signe Sechsteltöne«, sondern nur: »Ja, das ist schön, was sie singt...«


Interview: Sarah Laila Standke
London, November 2015
(c) Universal Edition