In der Tiefe schürfen

Mark Sattler


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© Lucerne Festival / Priska Ketterer
„Komponieren heißt für mich: im Klang denken.“ Georg Friedrich Haas

Georg Friedrich Haas wird dieses Jahr composer-in-residence beim LUCERNE FESTIVAL sein – dies aber nicht nur ob seiner inhaltlichen Nähe zum Jahresmotto „Nacht“. Haas’ Schaffen ist viel komplexer. Es fußt in der Tradition und bezwingt mit wahrhaft unerhörten, utopischen Klangabenteuern.

in vain – erste Begegnung mit der Musik von Georg Friedrich Haas vor vielen Jahren im Züricher Schiffbau, inszeniert von Anna Viebrock. Das Eindunkeln und der Strom der Musik – seitdem hat sich dieser Klang, einem Trip gleich, eingeprägt ins Tiefenkörperliche, vielleicht Unbewusste. Ein Unikum Neuer Musik. Heuer ist es so weit. Endlich mehr Musik von Georg Friedrich Haas beim Festival. Naheliegend, ihn zum Thema „Nacht“ mit einer kleinen Retrospektive als composer-in-residence einzuladen. Gefährlich naheliegend, weil fast schon abgegriffen, wurde er doch schon von der Presse als „Komponist der Nacht“ apostrophiert und zu anderen Festivals mit ähnlichen Schwerpunkten eingeladen.

Andere Sphären
Schon die Werktitel legen dies nahe: Nacht-Schatten, das 3. Streichquartett In iij Noct., die Kammeroper Nacht und andere Titel passen wie der Schlüssel ins Schloss – mit der Gefahr, dass man nicht weiter schaut und oberflächlich bleibt. Im Dunkeln sieht man bekanntlich nicht so gut, hört dafür jedoch umso besser. Und genau darum geht es Georg Friedrich Haas, der sich der gefährlichen Griffigkeit von Titeln durchaus bewusst ist. Gegen die begriffliche Reduzierung und Vereinnahmung setzt er: „Komponieren heißt für mich: im Klang denken“ – was zuerst heißt: hörend und denkend in der Tiefe zu schürfen.

Der Komponist sucht in anderen Sphären als der tageshellen Ratio oder der die natürlichen Obertöne zurechtstutzenden gleich temperierten Stimmung nach noch ungeborgenen Schätzen. Sein forschendes Tun hat denn auch mehr gemein mit einer „Mondgrammatik“ (Thomas Mann, „Josef und seine Brüder“) als mit der mystischen Dunkelheit einer nachtsüchtigen Romantik. Die Nacht als ein Zustand gesteigerter sinnlicher Empfindsamkeit und verschärfter Geistestätigkeit, das charakterisiert schon eher den Impetus des Haas’schen Schaffens, vor allem seine Erkundungen im Land der Mikrotemperierungen – und das interessiert mich auch bei der Programmierung unseres Festivals.

Haas führt in Bereiche, deren Boden nicht so sicher ist, wie es scheint.

In kompletter Dunkelheit
Unser Umgang mit der Haas’schen Musik möge anhand von drei Beispielen dargestellt werden. Mit Dozenten des Kairos Quartett und in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Musik wird es einen Streichquartett-Meisterkurs zum 3. Streichquartett In iij Noct. geben. Unter Anleitung von Haas erarbeiten verschiedene Streichquartette dieses in kompletter Dunkelheit aufzuführende Stück, welches am 17. September denn auch in vier unterschiedlichen Interpretationen zu hören sein wird.

Bekanntlich geht es dem Komponisten in seiner Hölderlin-Oper Nacht um „die Nacht der Seele“: „Der Begriff ‚Nacht’ ist für mich nicht mit romantisierenden Vorstellungen verbunden, sondern mit Realitätsverlust und Hoffnungslosigkeit, mit geistiger ,Um-Nachtung’, mit dem Verlust von Utopien“ – veranschaulicht durch den Hölderlin-Satz: „Es giebt ein Verstummen, ein Vergessen alles Daseyns, wo uns ist, als hätten wir alles verloren, eine Nacht unsrer Seele, wo kein Schimmer eines Sterns, wo nicht einmal ein faules Holtz uns leuchtet.“ So sind wir gespannt auf eine Premiere am 16. und 17. September beim Festival, bei der die Regisseurin Desirée Meiser und die Bühnen- und Kostümbildnerin Nives Vidauer das Stück, auch mit Hilfe einer Wärmebildkamera, neu inszenieren werden.

„Einklang freier Wesen“
Die für Haas so wichtige Beziehung zu Hölderlin wird in einem Workshop-Konzert im Rahmen der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY am 20. August vertieft, in dem verschiedene Versionen der Solo- und Kammermusikstücke ... aus freier Lust ... verbunden und dem Ensemblestück ... Einklang freier Wesen ..., moderiert von Georg Friedrich Haas, vorgestellt werden. Dazu wird der Herausgeber der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe D. E. Sattler über die aus Hölderlins Hyperion stammenden Sätze sprechen. Haas und der von ihm sehr geschätzte Sattler, dessen Arbeit auch für Luigi Nono und andere Komponisten bahn­brechend gewesen ist, begegnen sich zum ersten Mal.

Neben in vain und dem für das Hagen Quartett geschriebenen, gerade erst in Salzburg uraufgeführten 6. Streichquartett, wird es am 10. September auch eine zweite Premiere geben. Im Moment arbeitet Georg Friedrich Haas an seinem 7. Streichquartett mit Live-Elektronik für das Arditti Quartet und das Experimentalstudio des SWR, ein Auftragswerk des Festivals.

Apropos Griffigkeit: Keineswegs leicht greifbar sind seine beiden Werke Hyperion. Konzert für Licht und Orchester und limited approximations (für sechs im Vierteltonabstand gestimmte Klaviere und Orchester). In ihrem gängige Produktionsformate überschreitenden utopischen Ansatz sind sie Herausforderung für jeden Veranstalter und warten auf uns. Wir bleiben dran, weil wir diese Musik brauchen.

Mark Sattler, Dramaturg, Leitung zeitgenössische Projekte LUCERNE FESTIVAL