Janáček

Max Brod


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Leoš Janáček

Einer der missverstandensten Künstler unserer Zeit.

Aus zwei Gründen. (Abgesehen davon, dass er dem Zentrum Prag fern – im stillen Brünn lebt.)

Erstens: Er ist kein Extremist. Und unserer Zeit ist wie eine ausgeschriene Sängerin, die nur noch die hohen Töne, aber keine Mittellage hat. – Ich wage den Satz, dass das wahre Genie sich in der Mittellage bewegt. Es ruht viel zu sehr in seiner eigenen Konsequenz, um ständig darauf bedacht zu sein: aufzufallen. Die Werke der ganz grossen Genies zeichnen sich durch eine sehr merkwürdige Eigenschaft aus, für die ich das Wort, „Glanzlosigkeit“ riskiere – im vollen Bewusstsein, dass es nicht ganz adäquat ist. Glanzlos im Gegensatz zu den auf Glanz und Brillanz herausgebürsteten Werken der Halbgenies und Talente. Das Werk der ganz grossen Genies wirst du immer daran erkennen, dass es nicht direkt auf dich zugeht, sondern in merkwürdiger Stille und Geschlossenheit leise an dir vorbei und gerade in diesem Vorbeigehen, in dieser Eigenweltlichkeit rührt es dich, packt es dich an der Herzspitze. Dieses Vorbeigehen, scheinbar ohne dich zu beachten, erschüttert und zerschmettert dich. Hier gibt es keine Konversation. Sondern du folgst und musst in die Knie sinken!

Eine zweite Eigenschaft Janáčeks steht ihm im Wege: seine eigene Theorie. – Man darf sie nicht wörtlich nehmen. Er selbst nimmt sie nicht wörtlich. Aber wann hätte sich je die Welt das Vergnügen entgehen lassen, einen grossen Mann bei seinen eigenen Worten zu fangen? – Janáček studierte seit jeher die Melodie, die im gesprochenen Wort und Satz verborgen liegt. Er stellt dieses Beobachten obenan. Ist er deshalb blosser Realist, der aus beobachtetem Lebensmosaik seine Werke zusammensetzt? Die tschechische Musikkritik, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, wird Janáček durchaus nicht gerecht. Die tschechische Musikkritik huldigt oft einem abstrakten lebensfernen Akademismus, der zum realblutvollen Musizieren der wirklichen tschechischen Musik einen ganz seltsamen Kontrast bildet.

Nun, Janáček ist kein Realist. Man braucht doch seine Jenůfa (Její pastorkyňa) nur aufzuschlagen, um zu sehen, wie die wesentlichen Elemente dieser Musik, der lange melodische Atem und die ganz streng formale Architektonik, niemals aus Abschnitzeln erlauschter Wortmelodien zusammengestückelt werden könnten. – Wohl aber hat Janáček durch seine unendliche Liebe zu Natur und Naturmusik, zum Tonfall der Sprache und Volkslied, zu den Stimmen der Tiere und des Waldes neues Material für die Musik erschlossen. Die Bearbeitung dieses Materials ist dann schöpferisches, impulsives und stilisierendes Werk. Schon die reichen Quellen des Materials aber, die Janáček zufliessen, unterscheiden ihn vom Grossteil moderner Musik – die entweder von der Suggestion Beethovenscher Phrasierung nicht loskommt und immer wieder die alten Brocken wiederkaut – oder, wenn sie sich gegen dieses Hergebrachte auflehnt, einfach den Boden unter den Füssen verliert, unnatürlich, krampfhaft, aus Prinzip eyatant [sic] wird.

Janáček ist neuartigund doch nicht unnatürlich. Die Natur hat ihm Geheimnisse verraten, die sie andern bisher verborgen hielt. Natürlichkeit bewahrt ihn von auffallendem „glänzendem“ Extremismus; damit freilich auch vor jener Sensation, die alles bloss Ausgeklügelte, Auf-den-Kopf-Gestellte eine Zeit lang hervorruft.

Janáčeks Natürlichkeit mit „Naturalismus“ (also: mechanischem Abschreiben der Natur) zu verwechseln, wird immerhin noch ein Weilchen das blamable Vergnügen einiger Zeitgenossen bleiben. – Bei Mussorgski spielte sich das alles ganz parallel ebenso ab.


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Max Brod
Der Auftakt, Musikblätter für die tschechoslowakische Republik,
1923, Jg.3, Heft 1, s. 15-16