Kreative Stille

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Arvo Pärt und Paul Hillier (c) Michael Putland

Als Gründungsmitglied des Hilliard Ensemble waren Sie einer der ersten, der Pärts Vokalmusik im Westen bekannt gemacht und damit Neuland betreten hat. Damals war Pärt niemandem ein Begriff. War das nicht ein Risiko? Was war daran wichtig oder schwierig?

Hillier: Ich erinnere mich sehr deutlich an den ersten Eindruck, den die Noten von Arvo Pärts Musik in einem Artikel von Susan Bradshaw in der britischen Zeitschrift Contact auf mich machten. Sofort stellte sich für mich ein Bezug her sowohl zu den Noten als auch dazu wie diese aufzuführen wären … es schien mir, als würde ich sie schon kennen, obwohl ich sie noch nie zuvor gesehen hatte! Ich bestellte die LP »Tabula Rasa« (die gerade erschienen war) und als sie kam, hörte ich mir alles an und verspürte eine Art vollständiger Identifikation damit. Ich nahm Kontakt zur Universal Edition auf und ließ mir einige Partituren schicken. Dies führte zu meiner ersten Begegnung mit Arvo (in der Londoner Victoria Station!), wo ich ihm alle möglichen Fragen stellte, wie wir seine Musik aufführen könnten. Dann vereinbarte ich mit der BBC ein ganzes Programm mit seiner Musik einzuspielen.

Während dieses Prozesses überlegte ich keinen Augenblick lang, ob damit ein Risiko verbunden wäre. Und als wir begannen die Musik live in Konzerten zu singen, war die Reaktion spontan so positiv, dass wir einfach immer weiter machten. Als ich schließlich aufwachte und begriff, dass nicht jeder meine Ansichten teilte, war es zu spät. In den USA sagt man in so einem Fall: »we were on a roll«.

Ich sollte auch erwähnen, dass uns diese Musik vom Stilistischen her sehr vertraut erschien, war sie doch in vielerlei Hinsicht sehr nahe an der Musik des Mittelalters und der Renaissance, die ja unser Kernrepertoire darstellte. Wir sangen beide Arten von Musik (mehr oder weniger) in der gleichen Weise.

Die Bedeutung von kreativer Stille schätzen lernen …

Seit dieser Zeit ist Pärt ein integraler Bestandteil Ihrer Konzertprogramme für Vokalgruppen und Chöre. Wie gelingt es Ihnen, die Natur von Pärts Musik zu vermitteln und die Chormitglieder für diese Musik zu gewinnen?

Hillier: Die meisten Chöre und Vokalensembles, mit denen ich arbeite, sind bereits an der Musik interessiert und haben schon etwas von sich selbst in den Prozess eingebracht. Trotzdem gibt es viele technische Aspekte und gewiss auch eine geistige Haltung der Musik gegenüber, die entweder gepflegt oder zumindest verfeinert werden müssen. Die Noten sind zwar einfach, aber das macht es nicht leichter, die Musik gut aufzuführen – das gilt sowohl für die Instrumentalisten als auch für die Sänger. Dafür habe ich kein »Rezept«: jede Gruppe hat in ihre eigene Geschichte und lokale Kultur und man reagiert dementsprechend unterschiedlich. Aber mit der Art meiner Proben möchte ich die Sänger und Spieler soweit bringen, dass sie die Bedeutung von kreativer Stille schätzen lernen und wie sie diese herbeiführen können. Ich möchte auch, dass sie das spezifische Gewicht jeder einzelnen Note fühlen (also eigentlich die Gleichzeitigkeit der zwei Noten, die ja das Wesentliche des Tintinnabuli-Stils ausmachen). Um dahin zu kommen, probe ich die Musik zuerst sehr langsam, bevor wir das Spieltempo des Konzerts erreichen. Andererseits soll die Musik auch tanzen – ob als langsamer oder schneller Tanz – das muss aktiv vorbereitet werden. Insgesamt ist es eine Frage der Entwicklung einer Art von Phrasierung, die die Stille miteinbezieht, so dass die Energie der Musik sogar noch dann weiterfließt, wenn der Klang selbst wegfällt. Ich glaube, dass dieser Aspekt seiner Musik Arvo dazu brachte, sie als Tintinnabuli zu beschreiben.

Geben Sie einem Chor Hinweise im positiven wie auch im negativen Sinn, wie man sich der Musik von Pärt nähern soll? Was ist so anders an Pärts Musik?

Hillier: Das Intonieren ist sehr wichtig, damit der »Klang« erhalten bleibt. Auch die Tintinnabuli-Stellen (jene mit den »Arpeggios«) erfordern viel Praxis, damit sie auch richtig phrasiert werden. Die die höchsten Töne müssen oft nicht die lautesten sein, die Phrasierung muss vielmehr in Übereinstimmung mit dem Text erfolgen. Eine Komplikation, die jeder Chorleiter beachten sollte, besteht darin, dass Pärts Takteinteilung Wörter oft als einzelne Elemente betrachtet, und sie daher nicht in traditioneller Weise phrasiert. Mit anderen Worten: die taktgebenden Schläge des Dirigenten treffen oft auf unbetonte Silben und umgekehrt. Wenn ein Chor gewöhnt ist, Renaissancemusik oder Gregorianik zu singen, dürfte das kein Problem darstellen, aber es kann dennoch Schwierigkeiten bereiten.


Berliner Messe
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Ein besonderes Beispiel dafür ist die Berliner Messe. Hier haben es wahrscheinlich die Instrumentalisten am schwersten, die ohne führende Worte der Musik Gestalt verleihen müssen. Das ist ein Problemkreis, mit dem sich Dirigenten befassen müssen.

Viele Ihrer CD-Aufnahmen und Live-Konzerte sind in enger Zusammenarbeit mit Arvo Pärt entstanden. Gibt es eine Begebenheit oder ein Ereignis, an das Sie sich besonders gut erinnern?


Passio
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Hillier: Das Feilen an der Aufnahme von Passio mit Arvo, Manfred [Eicher] und dem Toningenieur Peter Länger, das die ganze Nacht über dauerte. Wenn ich mich recht erinnere, fand das in einem Vorort von Stuttgart statt. Eine weitere eindrückliche Erinnerung habe ich an das Heulen des Windes, der um die große Kirche im Norden Londons wehte, wo wir dieses Werk aufgenommen haben. Irgendwie wurde es Teil der Stimmung, die man auch in dieser Aufnahme nachfühlen kann. Meist erinnere ich mich an die Orte, wo wir Tonaufnahmen machten und die Grundstimmung jedes Projektes, nicht aber an Details der tatsächlichen Arbeitssitzungen.

Eine einzigartige Mischung aus Schwere und Leichtigkeit.

Im Jahr 1997 haben Sie Ihr erstes Buch über Arvo Pärt veröffentlicht, das einen Überblick über sein Leben gibt und auch eine stilistische Bestandsaufnahme seiner Arbeit bis dahin vorlegt. Seither sind eine Menge Dinge passiert und viele weitere Werke entstanden. Haben Sie an eine Neuauflage dieses Buches gedacht?

Hillier: Das habe ich mir schon überlegt, aber bisher war ich mit anderen Dingen zu beschäftigt. Im Augenblick bin ich gerade mitten in der Arbeit zu einem Buch über die Geschichte von Gesangsgruppen, das ich zu Ende bringen muss! Übrigens konnte ich das ursprüngliche Pärt-Buch nur aufgrund einer Professur an der U. C. Davis vollenden, was mir Zeit und Ressourcen verschaffte, um konsequent daran zu arbeiten. Jetzt als freischaffender Musiker ist es nicht mehr so einfach.

Eines möchte ich jedoch hier anfügen: der eine musikalische Aspekt, der meiner Ansicht nach mehr Diskussion verdienen würde, betrifft die russisch-orthodoxe Religion, und zwar welcher Art und in welchem Ausmaß sie die spirituelle Grundlage seiner Musik bildet. In meinem Buch entwickelte ich einige Gedanken zu diesem Thema, aber ich bin nicht qualifiziert, in dieser bestimmten Richtung weiter zu gehen. Allerdings hat jemand anderer gerade das in einem Buch realisiert, das ich nur wärmstens empfehlen kann: Ich beziehe mich auf Peter Bouteneffs »Arvo Pärt: Out of Silence«, das heuer bei St. Vladimir’s Seminary Press in New York veröffentlicht wurde. Es ist sehr klar, gut leserlich und doch sehr aussagekräftig.

Welches von Pärts Werken hat Sie am meisten in Bann gezogen?


Miserere
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Solfeggio
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Virgencita
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I Am the True Vine
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Hillier: Zuallererst muss ich hier Passio nennen, allerdings sollte dieses Werk im Idealfall eher als ein Sonderkonzert und -event – und daher nicht zu häufig – aufgeführt werden. Es lebt durch die Aufführung selbst und ich versuche daher, mit wenig Proben auszukommen. Dann folgt Miserere – von den größeren Werken war es jenes, an dessen Vorbereitung ich von Anfang an am intensivsten beteiligt war, und ich erinnere mich mit großer Freude an die ersten Aufführungen. Von den Werken danach ist es mir unmöglich, eines auszuwählen. Vor kurzem präsentierte ich mit Theatre of Voices (als Oktett) eine Pärt-Retrospektive, in der wir wenigstens ein Werk aus jeder Schaffensperiode von Pärt sangen – von Solfeggio (1964) bis hin zu Virgencita (2012) – das bereits zu meinen Favoriten unter den kleineren Stücken zählt. Eine wichtige Wiederentdeckung während der Arbeit an diesem Programm war I Am the True Vine. Dieses Werk habe ich vor rund 20 Jahren aufgenommen, seitdem ist es aber ohne nennenswerten Grund aus meinem Repertoire verschwunden. Es war gut, wieder daran erinnert zu werden, wie schön es ist, mit dieser einzigartigen Mischung aus Schwere und Leichtigkeit.


Fratres
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Tabula Rasa
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Spiegel im Spiegel
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Abschließend darf ich nicht vergessen, einige der Instrumentalwerke, insbesondere Fratres, Tabula Rasa und Spiegel im Spiegel zu erwähnen: diese zählten zu den ersten Pärt-Werken, die ich gehört habe und jedes von ihnen bleibt ein starker Favorit, aber für mich ist Fratres eines der wichtigsten Stücke von allen.

Hatte die Arbeit mit der Musik von Arvo Pärt einen Einfluss auf Ihre Beziehung zu Musik oder auf die Art und Weise, wie Sie Musik interpretieren?

Hillier: Ja, das funktioniert aber in beide Richtungen: Die Art, wie ich Musik interpretiere, hatte auch eine Auswirkung auf die Art, wie ich mit Pärts Musik arbeite. Alles trägt zu meiner Arbeit als Interpret bei.

Wenn ich über den Einfluss und demzufolge vielleicht über den Zusammenhang zwischen verschiedenen Komponisten rede, ist für mich John Cage als Komponist am ehesten mit Arvo vergleichbar, im Speziellen wie er Stille verwendet oder einzelne Noten und natürlich das präparierte Klavier. Ich glaube Arvo hat mir einmal erzählt, dass er als junger Mann die Musik von John Cage nicht gehört, sondern nur darüber gelesen hatte, was aber schon ausreichte, um auf ihn einen befreienden Einfluss auszuüben. Ein weiterer ist Luigi Nono, den Arvo traf, als dieser die Sowjetunion besuchte. Ich kann nicht sagen, ob es zu einer gewissen Beeinflussung kam, aber in Nonos Musik werden oft einzelne Noten sehr »schön gespielt« – was mich an das sehr ähnliche Ideal erinnert, das Pärt anführt. (»Es genügt, wenn eine Note schön gespielt wird.«)

Ganz allgemein über die Auswirkungen von Pärt auf andere Komponisten: Ich bekomme eine Menge Noten von Komponisten zugeschickt, die eindeutig von Pärts Werk beeinflusst ist. Leider hat man neben einem Pärt weniger Bedarf an weiterer Musik der gleichen Sorte. Ein sogenannter »heiliger Minimalismus« reizt mich nicht all zu sehr. Ich führe Pärt auf, weil die Musik wunderbar ist. Aber ansonsten mag ich Komponisten, die andere Dinge, ihre eigenen Dinge, so gut wie möglich machen.


Paul Hillier dirigiert Arvo PärtPaul Hillier dirigiert Arvo Pärt:

Aus gegebenem Anlass veröffentlich Harmonia Mundi USA im Oktober eine CD Box, die drei erfolgreiche CDS der vergangen Jahre zusammenfasst.

907182 De Profundis
907401 Da Pacem 
807553 Creator Spiritus


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