„Mahler verändert den Herzschlag“

Interview: Markus Hinterhäuser


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© Luigi Caputo
„Die Modernität Mahlers ist dieses Seismografische, diese Frage des Individuums in der Welt.“ Markus Hinterhäuser

Die Salzburger Festspiele leuchten in ihren „Mahler-Szenen“ (3. bis 14.8.) das musikalische Umfeld Gustav Mahlers aus und zeigen ihn als überragenden Lied-Komponisten. Intendant und Konzertchef Markus Hinterhäuser über sein Mahler-Bild und die Leitlinien seines Programms.

Gustav Mahler ist in den letzten 30 Jahren zum meistgespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts geworden. Woran liegt das?

Hinterhäuser: Vielleicht hat das ein bisschen mit dem zu tun, dass bei Mahler diese Suche nach der Einheit vom Ich und der Welt so wesentlich ist. Vielleicht ist es eine Musik, in der der Zuhörer fühlen kann, was es heißt, wenn eine Zeit beschrieben wird, die kurz vor tektonischen Verschiebungen steht.

Bei den „Mahler-Szenen“ sind Bearbeitungen von Johann Strauß von der Zweiten Wiener Schule enthalten, aber auch Schostakowitsch, für den ja Mahler das große Vorbild war. Was ist der Bogen über dieser Konzertserie?

Hinterhäuser: Für mich ist es immer klar gewesen, dass ich nicht eine Gesamtaufführung der Symphonien machen wollte – es gibt hoffentlich andere Wege, um diesen „Kontinent Mahler“ irgendwie zu erfahren, ihm näher zu kommen. Verweise auf Schubert, Zemlinsky, Korngold oder Ives können da hilfreich sein – und natürlich Alban Berg, mit dessen Kantate Der Wein der ganze Mahler-Zyklus anfängt und mit dessen Violinkonzert der Mahler-Zyklus aufhört.

Es gibt Möglichkeiten, Mahler in unsere Zeit weiterzudenken, etwa über Schostakowitsch – zu dem man stehen kann, wie man will, für den aber Mahler ein wesentlicher Bezugspunkt war. Einen Komponisten, den ich außer­ordentlich wichtig finde und den ich auch in Zusammenhang mit Mahler sehe, ist Karl Amadeus Hartmann: die Symphonie als Weltbeschreibung.

Wenn Sie von Schubert und Mahler sprechen – wie sehen Sie die Persönlichkeit von beiden?

Hinterhäuser: Schubert und Mahler kommen vom Lied. Beider Werke sind völlig „Lied-durchdrungen“, beide atmen das Lied, zeichnen sich durch die Einfachheit des Liedes als kompositorische Möglichkeit aus. Ebenso durch die Unmittelbarkeit der Aussage und eine gewisse Naivität. Beide erreichen in einem relativ jungen Alter eine unbeschreibliche Tiefe der Aussage.

Die Spätwerke bei Schubert und bei Mahler sind das, worüber man nachdenkt. Und wenn man das Spätwerk hört, kann man auch ohne Übertreibung sagen, dass das Dinge sind, für die es sich zu leben lohnt. Sie hören zu dürfen, ist das Leben wert. Ich spreche hier von den letzten Klaviersonaten von Schubert, vom Lied von der Erde und der 9. Symphonie von Mahler.

Oder nehmen sie die Winterreise und die Lieder eines fahrenden Gesellen. Was das Innenleben der Protagonisten betrifft, sind diese Zyklen nicht weit voneinander entfernt. Und doch unterscheiden sich die Zyklen grundlegend, was die Naturbeschreibung betrifft. Bei Schubert ist der Protagonist gleichzusetzen mit der erfrorenen, erstarrten, vereisten Natur, die ein Ort der Trostlosigkeit ist. Bei Mahler ist die Natur wunderschön, sie ist hell, offen, fröhlich. Durch diese Schönheit gewinnt das Innenleben des Protagonisten, dessen Traurigkeit, dessen Verzweiflung und dessen Schmerz noch an Tiefe.

„Mahlers Werk ist ein großer Lebensroman.“

Für mich verbindet beide nicht nur die Sehnsucht nach einem verlorenen Land, sondern auch die nicht erreichbare Utopie.

Hinterhäuser: Gewiss, ja. Das stimmt so.

Der Schmerz kommt nicht nur daher, dass ich etwas verloren habe, sondern auch daher, dass ich weiß, dass ich etwas nicht erreichen kann.

Hinterhäuser: Ja, aber dieses „Nicht-erreichen-Können“ ist ja auch eine starke Triebfeder, ein enormer Antrieb weiterzugehen. Das ist nicht etwas, das zwangsweise in eine resignative Haltung führen muss. Selbst wenn sie dorthin führt, dann ist diese formulierte Resignation auch im besten Fall eine große künstlerische Aussage, und da treffen sich Schubert und Mahler sehr gut.

Es gibt bei Mahler immer einen sehr weit zurück­reichenden Blick, fast in die Kindheit, ein Blick in ein Land der Unschuld. Und das, was danach kommt, wird durch diesen Blick zurück schmerzhaft existenziell. Es gibt sehr viele Momente, in denen diese Musik tatsächlich den Herzschlag verändert.

Was wollte Mahler?

Hinterhäuser: Sich mitteilen. Sich zugeben – ganz bestimmt sich zugeben. Und die Welt beschreiben, seine innere Welt, den Einfluss der äußeren auf seine innere Welt. Was ich sage, ist natürlich sehr gefährlich, weil es sehr klischeehaft ist – aber Klischees haben manchmal auch ein Korn Wahrheit in sich. Ich glaube, dass Mahlers Werk ein großer Lebensroman ist, der manchmal fast tagebuchartig formuliert wird. Das ist ein Entwicklungsroman, dessen Dimensionen schwer von anderen erreicht worden sind.

Woran kann man die Modernität von Mahler festmachen?

Hinterhäuser: Man kann sagen, die Modernität Mahlers ist dieses Seismografische, diese Frage des Individuums in der Welt. Modern ist auch seine Montage-Technik, das Montieren disparater Elemente, die doch zu einer Einheit geformt werden. Die Frage nach Architektur, nach Zeitverläufen in der Musik, das sind alles Dinge, die auch spätere Komponisten betreffen. Aber grundsätzlich soll man mit dem Phänomen Mahler nicht zu akademisch vorgehen. Das ist eine Musik, die sagt: hört mir zu, hört, was ich zu sagen habe, hört, wie ich es sage, lasst euch ein auf diese unerhörten Dimensionen. Das ist eigentlich schon sehr viel.

Sind die Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber und die Offenheit vielleicht das eigentliche Merkmal Mahlers? Mahler reißt sein Innerstes auf und sagt: „Schaut euch das an!“

Hinterhäuser: Ja, das sind ganz bestimmt zwei der großen Qualitäten und Dringlichkeiten, die in dieser Musik sind.

Interview: Wolfgang Schaufler


Markus Hinterhäuser

ist 1959 in La Spezia (Italien) geboren, macht zunächst als Pianist und Liedbegleiter auf sich aufmerksam. Er ist Gründer (mit Tomas Zierhofer-Kin) und langjähriger Leiter (1993–2001) des Zeitfluss-Festivals im Rahmen der Salzburger Festspiele. Seit Oktober 2006 ist er Konzertchef der Salzburger Festspiele, in der Saison 2011 zudem deren Intendant.