»Man muss sich auf die Kreativität verlassen«

Harrison Birtwistle im Interview mit Sarah Laila Standke über »Gawain«


PDF herunterladen
Per E-Mail senden

© Hanya Chlala
Harrison Birtwistle

Wie haben Sie die Geschichte von »Gawain« entdeckt?

Birtwistle: Ich tendiere dazu, Opern über Themen zu schreiben, die mich bereits seit meiner Kindheit, meiner Jugend beschäftigen. Es gibt eine ganze Liste von Themen, über die ich schreiben könnte. Ich erinnerte mich, es gelesen zu haben. Für mich lagen die Problematik und gleichermaßen Faszination darin, wie man eine Sage wie diese bühnenmäßig adaptieren könnte.Wie kann man das Drama voranbringen?

Ich habe gelesen, dass Sie David Harsent eines Tages angerufen und einfach gefragt haben, ob er eine Oper mit Ihnen machen wolle. Wie sind Sie speziell auf Harsent gekommen und wie ist die Zusammenarbeit mit ihm verlaufen?

Birtwistle: Ach, das war ganz einfach: Ich habe eine Oper mit dem Titel Punch and Judy geschrieben, uraufgeführt im Jahr 1968, und erst später David Harsents Gedichtzyklus Mister Punch gelesen. Ich hatte mit einigen Leuten Gespräche über das Schreiben geführt und dabei erkannt, dass alles eine Frage der Persönlichkeit ist, ob man das Gefühl hat, mit dem Librettisten eine Beziehung aufbauen zu können – und es ist tatsächlich eine schwierige Beziehung.

Bei der Oper braucht man eine sehr spezielle Sprache. Es gibt bestimmte Dinge, die nicht funktionieren, bestimmte Worte, die man nicht verwenden kann – alles muss sehr direkt sein. Bei David hatte ich das Gefühl, jemanden vor mir zu haben, mit dem ich arbeiten könnte, und im Laufe der Jahre haben wir dann eine Arbeitsmethode entwickelt. Ich habe ihm nie etwas direkt vorgeschrieben, habe zwar vieles grundsätzlich besprochen, aber nicht behauptet: »Das ist, was ich möchte.« Es ist eine Zusammenarbeit wie beim Tennisspiel. Ich denke, der beste Zugang ist einfach zu sagen: »Das ist eine Oper. Bist du daran interessiert, sie zu machen?« Dann habe ich schon mal den ersten Aufschlag getan und warte nun darauf, dass der Ball zurückkommt. Ich habe zunächst Ideen über einen bestimmten Input, wie sich etwas entwickeln – oder nicht entwickeln – kann. Danach aber geht es nicht weiter, ehe ich etwas Musikalisches in der Hand habe. Das war schon immer so. Sobald ich eine Situation oder ein bestimmtes Detail habe, kann ich mich am Tennisspiel beteiligen, denn dann ist da ein Ball, den ich tatsächlich zurückschlagen kann. Mit einer vollendeten Tatsache könnte ich nichts anfangen.

Es gibt zwei Hemisphären in »Gawain«, welche Sie als den Kern des Werkes bezeichnen und worin Ereignisse parallel verlaufen: die Innenwelt – christlich, ritterlich und vermeintlich tugendhaft –, repräsentiert durch König Arthurs Hof im ersten Akt und Bertilak de Hautdeserts Burg im zweiten, sowie die Außenwelt – heidnisch, wild, ungebändigt und voller Gefahren. Beide Hemisphären werden auf der Bühne durch eine Tür voneinander getrennt dargestellt. Ferner spielt das Element der Reise eine wichtige Rolle, nicht nur im reellen Sinn, sondern auch in metaphorischer Weise: Gawains Reise, sein Entwicklungsweg von einem, dem Anschein nach heldenmütigen Ritter, frei von Tadel, zu einer menschlichen, unabhängigen und weisen Persönlichkeit. Die Struktur des ganzen Stückes ist zyklischer Natur: Worte, Musik und Handlung werden an mehreren Stellen dreimal hintereinander wiederholt. Am Ende des ersten Aktes deutet sich darin der Jahreslauf an, der Wechsel der fünf Jahreszeiten von Winter bis Winter und der Übergang von der Nacht zum Tag, währenddessen Gawain auf seine Reise, auf die Suche nach dem Grünen Ritter und der Grünen Kapelle vorbereitet wird.

Birtwistle: Die Vorstellung vom Reisen auf der Bühne, in einem begrenzten Raum interessiert mich. Ich erinnere mich, wie ich die Darstellung von The Passing of a Year bei mir auf dem Land in Frankreich entworfen habe und dabei lange auf- und abging, bis mir klar wurde, wie ich meine Vorstellungen musikalisch umsetzen könnte. Ich habe eine Art Maskenspiel für das Werk The Passing of a Year konzipiert, in dem ein Frauen- und ein Männerchor lateinische Motetten singen, eine für jede Jahreszeit – es ist wie Kino, es ist wundervoll. Man weiß nicht, ob Gawain ein Jahr auf seinen Aufbruch gewartet hat oder nicht, weil man ein Jahr später wieder am selben Punkt anlangt, an dem es begonnen hat. Es ist eine Märchengeschichte; man braucht diese Fragen nicht zu beantworten, weil in Märchengeschichten alles erlaubt ist.

Denken Sie in Musik, sobald Sie einen Stoff wie »Gawain« im Kopf haben? Woher kommt Ihre Musik?

Birtwistle: Woher kommt meine Musik? Aus meiner Vorstellung. Ich stelle mir eine Musik vor, die nicht existiert. Ich weiß es nicht – eine unmögliche Frage. Ich weiß niemals, was ich schreiben werde, bis ich mich hinsetze und komponiere. Es ist sehr schwer, Musik zu beschreiben und warum man etwas macht. Die Zeit, die man mit einem Werk verbringt, vergeht in gewisser Weise sehr langsam – all diese Viertel- und Achtelnoten müssen erst notiert werden. Dann aber ist etwas abgeschlossen und man harrt darauf, wie ein Detail zum nächsten führt. Ich beschäftige mich nie mit präkompositorischen Dingen, da es mir immer produktiver und interessanter erscheint, wenn es einen Kontext gibt und ich mich an einem Punkt wiederfinden kann, an den ich nicht gelangt wäre, wenn ich bereits zu Beginn darüber nachgedacht hätte.

Es gab eine Zeit, in der Komponisten so etwas wie Architekten waren. Sie skizzierten zuerst den Gesamtumriss und füllten ihn dann mit Farbe. So könnte ich niemals vorgehen. Ich spüre, dass man sich auf seine Kreativität verlassen muss und wissen oder zumindest darauf hoffen, dass in einer bestimmten Situation etwas geschehen wird. Es muss sich aus einer absoluten Notwendigkeit und einem Zusammenhang heraus einstellen, erst dann wird es wahrhaftig. Ich kann das nicht für andere Komponisten beantworten, aber ich bin mir nicht sicher zu wissen, was ich da tue. Beim Komponieren denke ich immer wieder: »Das wäre aber eine interessante Art zu beginnen, das werde ich so machen.« Am Ende eines Arbeitstages ist es schon keine besonders gute Idee mehr. Dann habe ich eine andere – keine Sache, die mir eine schlaflose Nacht bereiten würde. Irgendwie ist eine Idee so gut wie die andere – es geht darum, wie man damit umgeht. Wie die ersten Noten im ersten Satz von Beethovens 5. Symphonie. Ist das eine gute Idee? Eine tatsächlich ganz schön verrückte Idee.

Gawain war einfach etwas, das mir schon ganz lange durch meinen Kopf gegangen war, es hatte mit bestimmten erzählerischen und dramatischen Gegebenheiten zu tun. Ich erinnere mich, Alison Chitty, die Ausstatterin, mit der ich anlässlich der Uraufführung der Oper am Royal Opera House zusammenarbeitete, gefragt zu haben, ob es möglich sei, eine Pferdepantomime einzusetzen: ein Pferd, das von zwei Komödianten dargestellt werden sollte, einem am vorderen und einem am hinteren Ende, jedoch in erhabener Weise und nicht als Witzfigur. Die Vorstellung von diesem Pferd und jemandem, der es reiten sollte, hat mich richtig in Gang gebracht. Dann sagte ich: »Könnten wir den Grünen Ritter enthaupten?« Das waren die Dinge, die mich interessierten, mir die Gelegenheit und all jene Bestandteile boten, mit denen ich arbeiten wollte, eine Art kindischer Fantasterei, aber für Erwachsene. Es ist eine Musik, die von allen diesen Dingen handelt, über die ich spreche. Meine Faszinationskraft.


Harrison Birtwistle

Gawain
Oper in zwei Akten (1990–1991/1994/1999)
Libretto von David Harsent (* 1942) Ingo Metzmacher, Musikalische Leitung
Alvis Hermanis, Regie und Bühne
Christopher Maltman, Gawain
John Tomlinson, The Green Knight/Bertilak de Hautdesert
Laura Aikin, Morgan le Fay
Jennifer Johnston, Lady de Hautdesert
Jeffrey Lloyd-Roberts, King Arthur Premiere: 26.7.2013 Salzburger Festspiele, Felsenreitschule,
ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Salzburger Bachchor