„Manchmal entdeckt man sich selbst“
Pierre BoulezMit Le Marteau sans maître etablierte sich Pierre Boulez 1955 endgültig als Komponist von Weltruf. Wie sich seitdem seine Kompositionstechnik entwickelte und wie er heute dieses Meisterwerk sieht, erzählte er am Ort der Uraufführung, in Baden-Baden.
Herr Boulez, 1955 fand hier in Baden-Baden die Uraufführung von Le Marteau sans maître statt. Wenn Sie an die Zeit zurückdenken, als Sie mit der Komposition dieses Werks begonnen haben: Wollten Sie mit Le Marteau zeigen, dass Spontaneität und System tatsächlich nebeneinander bestehen können?
Boulez: Als ich zuvor Structures komponiert hatte, wollte ich als Komponist anonym bleiben, nur ein Übermittler sein, sonst nichts. Aber sehr bald wurde mir klar, dass das absolut unmöglich ist. In Ausnahmefällen vielleicht, aber man kann eine Komposition nicht auf der Grundlage dieser Idee aufbauen. Ich wollte allerdings nicht auf das Zwölftonsystem zurückgreifen, weil ich es als ungenügend und als Einschränkung der vorhandenen Möglichkeiten empfand. Daher begann ich ein System zu entwickeln, das Freiraum bot; ich eroberte meine eigene Freiheit nicht nur in Bezug auf das Zwölftonsystem, sondern auch hinsichtlich der Möglichkeit, innerhalb eines Systems zu komponieren. Deswegen war Le Marteau eine Art Anfang, der Anfang einer Eroberung und einer Freiheit, und das ist es auch aus heutiger Sicht, 50 Jahre danach.
Le Marteau wirkte wie ein Verbindungsglied zwischen zwei scheinbar unvereinbaren Erfahrungen: dem streng konstruktivistischen musikalischen Denken der Wiener Schule, wie sie von Webern vermittelt wird, und dem, was man als die eher ornamentalen Elemente in der französischen Musik, besonders bei Debussy und Messiaen, bezeichnen könnte. War es Ihre ursprüngliche Absicht, eine Balance zwischen diesen beiden Schulen zu finden?
Boulez: Ja, zwischen der Spontaneität auf der einen und dem Konstruktivismus auf der anderen Seite. Ich glaube wirklich, dass es notwendig war, einen Ausgleich zu begründen. Ich fand beide Seiten reizvoll. Sicherlich ist die Musik Debussys, gelegentlich zumindest, sehr leicht, das stelle ich nicht in Abrede. Auf seine Hauptwerke trifft das allerdings nicht zu – die sind so tiefgründig wie nur möglich. Der Konstruktivismus der Wiener Schule andererseits kann, so betrachtet, manchmal auch belastend sein. Deshalb muss man mit diesem Konstruktivismus so umgehen, dass man sich gleichsam davon befreit – darin besteht wahrscheinlich das Verhältnis von Konstruktivismus auf der einen und Spontaneität auf der anderen Seite. Für mich sind das die beiden Elemente, die einen Musiker ausmachen.
Le Marteau wurde vor allem für seinen Klang hoch gelobt, der der Neuen Musik neue Dimensionen eröffnete. Welche Klangvorstellung hatten Sie am Beginn der Arbeit?
Boulez: Damals interessierte ich mich gerade sehr für andere Kulturen und hörte viel außereuropäische Musik: balinesische und afrikanische Musik, traditionelle japanische Musik, chinesische Oper und so weiter. Ich war interessiert an den Klängen in dieser Musik, und ich glaube wirklich, dass jede Zivilisation ihren eigenen Klang hat.
Ich bin Klang gegenüber grundsätzlich sehr hellhörig und denke, dass er ein sehr wichtiges Element in der Musik darstellt – nicht nur etwas, das man im Nachhinein oberflächlich hinzufügt. Deshalb hört man in meinen Werken einen andersartigen Klang – zum Beispiel in Improvisations sur Mallarmé. Und die darauf folgenden Werke bis hin zu den jüngsten wie sur Incises – mit seinem unverwechselbaren Klang – haben Vorläufer. Sehen wir uns zum Beispiel Strawinskys Les noces an: es ist ein Vorläufer des Klangbildes von sur Incises; wenn ich dann aber Schlagzeug, das sehr wichtig ist, und die Harfen dazugebe, entsteht ein ganz anderer Klang. Es ist ein Klang, der auf Bali und den afrikanischen Kulturkreis verweist, überhaupt nicht auf den europäischen. Ich finde es sehr wichtig, dass wir uns auf andere Kulturen einlassen: nicht nur im Sinne musikalischen Gehalts, sondern auch hinsichtlich der Art der Übermittlung – folglich unter dem Aspekt des Klangs.
„Ich habe eine sehr sentimentale Beziehung zu meiner Arbeit.“
Sie erwähnten sur Incises: da verwenden Sie Steel Drums, aber, wenn ich das richtig verstehe, nicht um der exotischen Wirkung willen.
Boulez: Ich mag den Klang von Steel Drums wegen der ihnen eigenen Möglichkeiten: zuerst einmal wegen dem Klang selbst, aber auch wegen ihrer besonderen Eigenheiten bei einem Crescendo oder sehr starkem Sforzato – es ergibt eine sehr interessante Resonanz, der Klang verändert sich dermaßen, dass er am Ende ein ganz anderer geworden ist. Ich mag diese Transformation. Ein am Flügel gespieltes Sforzato verändert den Klang nur geringfügig. Bei den Steel Drums verändert sich der Klang aber so, dass er sich manchmal sogar elektronischen Klängen annähert – er kommt dabei einem elektronischen Klang näher als dem eines normalen akustischen Instruments.
Um auf Le Marteau zurückzukommen: Abgesehen davon, dass Sie die Instrumentierung gleich nach Abschluss des Werks bearbeitet haben, haben Sie es so belassen – was für Sie sehr ungewöhnlich ist. Als würden Sie damit dem besonderen Stellenwert von Le Marteau Rechnung tragen. Stimmen Sie dem zu?
Boulez: Ja, sicherlich, es war die Überwindung einer langen Phase des Zweifels. Ohne Zweifel wird man fertig – und mit Zweifel tendiert man dazu, niemals fertig zu werden.
Das hat mich dazu bewogen, manche Werke nicht mehr zu verändern. Aber es gibt einige Werke, die unvollendet sind, nicht, weil ich aufgegeben hätte, sondern weil ich mir über den Inhalt, die Struktur des Werks nicht eindeutig klar war. Deshalb komme ich auf Werke wieder zurück, aber es gibt auch welche, die ich nicht mehr antaste – Dérive II zum Beispiel werde ich nicht mehr angreifen. Es ist abgeschlossen, weil ich mehrere Jahre daran gearbeitet und einen Weg gefunden habe, das Werk so zu strukturieren und komponieren, dass es sich von allem, was ich bis dahin getan hatte, grundlegend unterschied: eine Art narrativer Aspekt der Arbeit.
Da habe ich bemerkt, dass die Erzählung beendet ist und ich nichts mehr hinzufügen kann – jede Erweiterung wäre völlig künstlich gewesen. Es gibt noch Werke, die ich fertigstellen möchte, einige andere wiederum möchte ich nicht abschließen. Ich habe eine sehr sentimentale Beziehung zu meiner Arbeit ...
Welches Werk würden Sie gerne fertigstellen?
Boulez: Ich möchte besonders gerne Éclat/Multiples fertigstellen. Das ist eines der Stücke, die fast fertig sind, und, wissen Sie, das Stück ist im jetzigen Zustand schon fast zweimal so lang wie der Zustand, den ich aufführe. Deswegen möchte ich es fertigstellen. Das Konzept für das Ende besteht schon. Ähnlich war es mit dem Konzept für das Ende von Dérive II: Es bestand schon vor fünfzig Jahren, aber es war zu früh: ich komponierte es, weil ich wusste, dass ich eine lange Entwicklung dazwischen komponieren würde. Ich sprang zum Ende vor, weil das Ende schon existierte. Manchmal denkt man an das Ende, lange bevor man an den Rest des Stückes denkt – deshalb behalte ich ihn in Reserve.
Wenn man Dérive I und Dérive II vergleicht: zwar aus demselben Material entstanden, sind sie doch völlig unterschiedlich.
Boulez: Sie sind aus dem gleichen Material entstanden, aber sind völlig verschieden, weil das erste – Dérive I – sozusagen improvisiert war.
Sir William Glock, der damalige Leiter für Musik bei der BBC, engagierte mich für den Sender und er war auch der Leiter eines Festivals. Da er vorhatte, dieses Festival zu verlassen, baten mich die Musiker um eine Hommage, da sie wussten, dass ich ihm sehr nahestand. Es war nur ein kurzes Stück, das ich in letzter Minute komponierte. Ich weiß noch, dass ich in Los Angeles war, um eine Reihe von Konzerten zu dirigieren. Zwischen den Proben arbeitete ich an der Partitur, damit ich sie in der letzten Minute abschicken konnte. Ich werde in der nächsten Dérive sicherlich auch das Schema von Dérive I verwenden, wenn auch auf eine komplexere Art. Dérive III habe ich schon im Kopf, und ich hoffe, dass ich genug Zeit haben werde, es zu vollenden.
„Ich bin Klang gegenüber grundsätzlich sehr hellhörig.“
Es gibt ein Zitat von Gustav Mahler, der gesagt haben soll: „Das Material habe ihn komponiert.“ Stimmen Sie dem in Hinblick auf Dérive II zu?
Boulez: Ja, absolut. Ich glaube, wenn man zu dem Material eine interessante und produktive Beziehung hat, wird es sicherlich für einen komponieren. Aber man muss wissen, wie es komponiert ist. Ich finde es wunderbar, mir vorzustellen, dass das Material tatsächlich für einen komponiert und man selbst mit dem Material. Es ist ein Austausch.
An Notations ist interessant, dass Sie vergessen hatten, dass diese Stücke existieren.
Boulez: Ich hatte es nicht wirklich vergessen, denn so etwas fällt einem schließlich spontan wieder ein. Also habe ich mich daran erinnert, dass ich sie komponiert hatte ... so etwas vergisst man nie völlig. Aber ich konnte mich nicht wirklich an die Noten erinnern. Als ich die Noten sah, dachte ich: Oh, das ist interessant! Ich wollte generell nicht, dass meine früheren Stücke als meine Werke gesehen werden. Aber bei diesen wollte ich das schon. Ich dachte mir: Sie sind einfach, sie sind naiv, aber sie sind involviert in einen Prozess, den ich nicht uninteressant finde. Ganz im Gegenteil, ich finde solche Ideen interessant, und ich möchte sie unter die Lupe nehmen.
Könnte man sagen, dass Notations für Orchester eine Art sur Notations ist?
Boulez: Das trifft es genau: Es ist, als wäre man ein Archäologe, der eine Zivilisation entdeckt – tiefer, tiefer und noch tiefer. Und manchmal entdeckt man sich dann selbst, Schritt für Schritt, so wie Archäologen eine alte Kultur entdecken.
Interview: Wolfgang Schaufler