Pierre-Laurent Aimard über Pierre Boulez
Erinnern Sie sich daran, wann Sie die Klaviermusik von Pierre Boulez zum ersten Mal gesehen oder gespielt haben?
Aimard: In meiner Heimatstadt Lyon hatten wir einen sehr guten Kurs für Neue Musik, der von einem dortigen Liebhaber zeitgenössischer Musik auf privater Basis organisiert wurde. Dort hörte ich von den Brüdern Kontarsky den zweiten Band der Structures und von Claude Helffer die Drei Sonaten; später hörte ich sie von ihm nochmals mit einem Einführungsvortrag. Dann kaufte ich also einige Partituren und versuchte meinen eigenen Zugang zu dieser Musik zu finden. Später spielte ich einige der Sätze, den dritten Satz der Zweiten Sonate erinnere ich mich etwa im Alter von 15 Jahren gelernt zu haben. Ich spielte ihn als Zugabe – eine meiner Lieblingszugaben bei Klavierabenden. Wenig später, ich glaube mit 17 Jahren, lernte ich die Erste Sonate – oder versuchte es –, ein Stück, das ich in meinem Leben oftmals gespielt habe und sehr liebe.
Würden Sie der Ansicht zustimmen, dass die Erste Sonate ein Statement von Boulez zur Veränderung des Musiklebens war?
Aimard: Ja, es ist ein Statement, jedoch unglaublich natürlich und intuitiv – impulsiv. Außergewöhnlich, wie er zu einer Sprache gelangen konnte, die so früh bereits so radikal, so pur, so »er selbst« war. Er drückt sich so voller Reichtum aus, und findet darin auch seine Gestik, seine Klangwelt. Sein Verhältnis zu Klang und Klangprojektion … extrem beeindruckend, wie ein so junger kreativer Geist bereits in diesem Alter ein derart radikal umfassendes Statement ablegen kann.
Er hatte eine Art, der Musik und der Musik anderer zu dienen.
Es ist interessant, dass hier so etwas wie ein Verlust an Orientierung herrscht – da führt keine Linie von A nach B – und dass es keine Harmonik im herkömmlichen Sinn gibt.
Aimard: Nun, später arbeitete er an seiner Sprache, um sie umfassender zu definieren und zu beherrschen, bereits in diesem frühen Stadium jedoch erschafft er eindeutig eine neue Klangwelt, einen neuen Diskurs, einen neuen Raum. Er hat sich wirklich sehr klar als ein großer Vorreiter seiner Zeit positioniert.
Er sprach davon, dass er das Klavier benutzte, weil es sein Instrument war …
Aimard: Definitiv! Und er spielte es auf eine außergewöhnliche Weise, extrem ursprünglich, aber zugleich auch extrem kontrolliert. Ich erinnere mich immer noch an die Klänge, die er hervorgebracht hat; genau auf diese Art hat er sie gehört und erdacht. Sie waren sowohl unglaublich zielgerichtet als zugleich auch breit und frei angelegt. Sehr beeindruckend. Pianisten sind sehr dankbar dafür, dass dies sein Instrument war, so wie jedermann sehr dankbar dafür ist, dass später das Dirigieren zu seiner Domäne wurde.
Zwei stark kontrastierende Elemente sind sicherlich nicht ausreichend für die Ausarbeitung eines Meisterwerkes der Musik. Ich glaube, dass Boulez selbst in diesem Fall über eine Illusion von Polyphonie spricht, welche diese Art des Rätselhaften herbeiführt, vor allem in der Ersten Sonate.
Aimard: Diese Musik ist gerade durch diese verschiedenen Ebenen so faszinierend, diese Rätsel, die Sie ansprechen. Er ist nicht jemand, der eine Anleitung oder der Arbeitshilfen liefert, wie seine Musik zu spielen sein soll. Man muss selbstverständlich über die Bedeutung nachdenken. Wenn Sie zum Beispiel über die versteckten Polyphonien in der Ersten Sonate sprechen, beziehen Sie sich, wie ich denke, auf diese zweiteilige Polyphonie im zweiten Satz, in dem sich die Linien so stark überlagern. Diese Linien steigen und fallen mit solchem Fantasiereichtum und das Gesamte schwingt in einer Art globaler Harmonie, sodass man am Ende eine Art globaler Resonanz wahrnimmt, die schwer in Echtzeit zu realisieren ist.
Boulez liebt Virtuosität – äußerste Virtuosität.
Irgendwo findet eine Verschiebung zwischen dem, was man sieht und dem, was man hört, statt. Das trifft auf viele seiner Stücke zu. Und das ist das Faszinierende an diesem Stück – irgendwo gibt es darin verschiedene Wahrheiten: was geschrieben ist, was klingt, was verborgen bleibt. Natürlich ist der Interpret jene Person, die ständig über diese Fragezeichen nachdenken muss, darüber, wie mit dieser Akustik umzugehen ist, diesem Instrument, der Zeit, der Situation, sodass das Publikum diese oder jene Dimension wahrnehmen wird. Das ist ein ständiges und zweifellos faszinierendes Spiel mit dem Sinngehalt des Stücks.
Wenn wir über die Erste Sonate und dann über Structures sprechen: wie hat sich Boulez’ Zugang zum Klavier verändert? Sehen Sie eine Entwicklung in seinem Schreiben für das Klavier?
Aimard: Ich denke, es besteht ein ständiges Spiel zwischen Gedanke, Konzept und Gestik. Das eine regt das andere immer irgendwo an. So ist etwa die Gestik in der Dritten Sonate vom Formplan viel mehr umrahmt. Auf der anderen Seite scheint die Gestik in der Ersten Sonate die Komposition zu jeder Zeit zu führen. Diese Art von Dialektik ist in Structures 2 durchgehend anzutreffen, worin einige Abschnitte des Stückes extrem von dessen Gesamtablauf kontrolliert werden, und andere Teile, wie die Kadenzen natürlich, extrem frei sind. Es scheint hier, dass die Wildheit der Gestik gegen Schluss zunimmt und eine eigene Freiheit außerhalb des strukturellen Rahmens gewinnt.
Was ist die größte Herausforderung, wenn man Boulez’ Klaviermusik spielt?
Aimard: Ich denke, man muss gleichermaßen die Kontrolle über den Gesamtablauf bewahren wie auch die Freiheit, wenn nicht gar Wildheit in der Gestik. Dann natürlich ist der Stil sehr besonders und sehr fordernd. Der Stil ist so komplex wie die Musik. Wie für jeden komplexen Stil gilt, wenn man dieser Musik wirklich Sinn und die richtige Eigenheit verleihen möchte, ist dies zu bewerkstelligen etwas ganz Besonderes.
Haben Sie das Gefühl, dass Boulez selbst immer bewusst war, was möglich und was unmöglich ist?
Aimard: Ich denke, dieser Mensch weiß alles [lacht]. Wirklich! Er weiß ganz genau, wohin er geht und er liebt Virtuosität – äußerste Virtuosität. Und natürlich liebt er Virtuosen als Interpreten. Er liebt Interpreten, die harte Arbeiter sind, die Risiken eingehen. Ich denke, er mag es, seine Interpreten an die Grenze des Machbaren zu führen. Wenn man das mag, ist es unglaublich aufregend. Und dann entwickelt man sich natürlich ständig weiter. Ich denke, er ist jemand, der sich in seinem Leben unaufhörlich weiterentwickelt hat, das finde ich außerordentlich.
Auf der Bühne begegnete man an manchen Abenden plötzlich dem glühenden Meisterwerk, das er präsentierte. Das war wirklich wunderbar.
Ich habe ihn getroffen, als er 50 oder 51 Jahre alt war. Für mich war er bereits damals der Mount Everest, der größte Musiker seiner Zeit, der auf jedem Gebiet die größten Errungenschaften erzielt hatte. Ich habe gesehen, wie dieser Mann ständig Fortschritte machte, mehr und mehr. Ich meine, er hat ständig an sich gearbeitet. Und natürlich! Weil er diese Leidenschaft geteilt hat – wenn auch sehr unaufdringlich. Ich glaube, Menschen um ihn herum wollten stets ihr Bestes geben. Man konnte in seiner Nähe so viel lernen.
Musikalisch gesprochen, wie hat Boulez Sie beeinflusst?
Aimard: Wissen Sie, wenn man das Privileg bekommt, mit einem solchen Giganten eng zusammen zu arbeiten, erstreckt sich der Einfluss auf viele Gebiete. Es ist nicht leicht zu erkennen, wie tief dieser Einfluss geht. Man konnte so viel von ihm lernen, es gab so viele Verbindungen, nicht nur in Bezug auf Professionalität und Kompetenz, sondern auch in Bezug auf menschliche Qualitäten: den Mut, die Unabhängigkeit und die Bescheidenheit. Wissen Sie, jemand, der sein ganzes Leben lang so viel für andere gekämpft hat. Wirklich Chapeau!
Am Ende war vielleicht das Beeindruckendste: der große Künstler, die künstlerische Intuition des Schöpfers bei den Proben, wenn er teilte, was er das Geheimnis der Musik nannte. Natürlich war da auch Professionalität.
Und auf der Bühne begegnete man an manchen Abenden plötzlich dem glühenden Meisterwerk, das er präsentierte. Das war wirklich wunderbar. Sicher auch die menschlichen Qualitäten: am Ende stehen Künstler und Mensch.
Boulez musste für so vieles kämpfen. Aber ich denke, dass er am Ende seiner Karriere sehen konnte, dass die Kämpfe nicht vergeblich waren.
Aimard: Also, er komponierte einige der größten Werke in unserer Geschichte der Kunst, entdeckte eine neue Dirigierweise und eine neue Art der Gestaltung von Musik, dachte und schrieb über Musik am Collège de France, beeinflusste seine Zeit und baute Institutionen wie das IRCAM auf, das Ensemble intercontemporain, und irgendwo war er auch der Schlüssel für die neue Konzerthalle in Paris – ich denke, ja, dieser Mann kann sich bewusst sein, dass seine Leistungen nicht vergeblich waren.
Für mich definiert Boulez, dass jedes Stück anders ist. Es ist immer Boulez, aber er entdeckt immer neues Territorium.
Aimard: Er gehört zu jenen Schöpfern, die in sich die Notwendigkeit verspüren, jedes Mal aufs Neue nach dem Bedeutungsvollsten zu suchen. Und dafür gibt es in unserer Musikgeschichte sicher einige Beispiele. Von Alban Berg etwa hat man keine tausend Stücke. Aber jedes einzelne macht so viel Sinn und verleiht unserer Musikgeschichte wirklich eine neue Dimension. Ich glaube, dass Boulez dies in einer Weise vollzieht, wenn auch in einer anderen Kultur und zu einem anderen Zeitpunkt. Jedes Stück ist neu, ein großes Fragezeichen, und gleichzeitig eine Antwort auf diese Frage, die auf ihre eigene Weise so originär und erneuernd und verjüngend ist.
Wie haben Sie ihn als Lehrer erlebt?
Aimard: Er hat sich selbst nie als Lehrer aufgefasst und immer gesagt, »Also, ich bin kein guter Pädagoge, eigentlich bin ich gar kein Pädagoge«. Aber fast jede Probe gestaltete sich als eine Lehrstunde in Musik, ein Weg, ein Stück nach und nach zu entdecken. Am Ende der Probe hatte man das Gefühl, ein Stück verstanden und aufgenommen zu haben. Aber er war nicht jemand, der einen lehren würde, wie etwas zu spielen sei. Wenn man seine Musik für ihn spielte, sagte er nicht viel, aber er zielte auf die Information [zeigt mit seinem Finger], sang etwas vor oder zeigte Dinge oder dirigierte einen irgendwo hin, sodass die Botschaft durchdrang.
Außerordentlich an Boulez war seine Art musikalischer Moral. Da war eine Leidenschaft, ein Mann, der für Musik brennt, unaufhaltsam, und das war in jeder Sekunde seines Musizierens spürbar.
Es gibt zwei Dinge, die ich am Musizieren in einem von ihm geleiteten Ensemble faszinierend fand. Erstens war da die Präsenz, die er von einem Stück ableitete. Er vermittelte einem wie kein anderer das Gefühl, das Stück gehört und darin gelebt und es verstanden zu haben. Irgendwo brachte er einen dazu besser zu hören, besser zu musizieren, besser zu spüren, er inkorporierte einen in die große Konstruktion des Stückes. Natürlich machte er das aus diesem Können heraus, diesem scharfen Blick auf ein Stück, und auch, weil ihm diese tiefe Menschlichkeit eigen war. Er machte dies durch die Menschen möglich, die diese Erfahrung mit ihm teilten.
Ich fand, dass man bei ihm immer gänzlich man selbst sein konnte. Ich sage das, weil das nicht immer seinem Image entspricht. Meiner Meinung nach ist sein Image oftmals falsch, es spiegelt nicht wirklich den Mann und den Künstler wieder. Aber ich hatte immer das Gefühl, wenn er einen führte, einen Rahmen, Anleitungen und Energie gab, man atmen und leben konnte, so wie man war, mit seinen Emotionen und seiner Persönlichkeit.
Und ich habe viele, viele ähnliche unvergessliche Erinnerungen. Wie zum Beispiel die Suite op. 29 von Schönberg. Das ist für jeden ein sehr schwieriges Stück. Er konnte jedoch wirklich die Form, die Phrasen, die Reinheit der Polyphonie und den Stil des Stückes wiedergeben. Er konnte jedem Spieler absolute Freiheit in der Phrasierung geben, die Phrasen zu leben, so als ob sie diese selbst fühlen and artikulieren. Und das ist eine Qualität, die ich wirklich außergewöhnlich finde.
Er ist alles andere als eine dogmatische Person …
Aimard: Er hat sicher nichts mit einem Dogmatiker gemein. Er war dafür immer viel zu kritisch. Schauen Sie sich seine Kompositionen an: immer wenn er eine neue Ordnung etablierte oder ausprobierte, war er selbst ihr erster Kritiker. Sogar im Hinblick auf sein experimentellstes Stück, Structures Premier livre, für zwei Klaviere, das wirklich eine Erfahrung in automatisiertem Schreiben darstellte. Es war ein Dada-Spiel, nur ein halbes Jahrhundert später. Er versuchte zu verstehen, welches Resultat ein automatisierter Weg zur Organisation von Musik bringen könne. Selbstverständlich reagierte er sofort, sogar im Titel selbst drücken sich die Grenzen dieser Übung aus: der erste Titel des Stücks lautet À la limite du pays fertile [Am Rand des Fruchtlandes]. Er sieht sofort, natürlich impulsiv und intuitiv, die Ränder des Rahmens. So gestaltete er ständig und verlieh der Gestaltung und auch dem Leben Flexibilität.
Außerordentlich an Boulez war seine Art musikalischer Moral. Da war eine Leidenschaft, ein Mann, der für Musik brennt, unaufhaltsam, und das war in jeder Sekunde seines Musizierens spürbar. Natürlich gut kontrolliert und irgendwo fast hinter dem Kontrollierenden zurücktretend, aber immer vorhanden. Er hatte eine Art der Musik und der Musik anderer zu dienen. Das ist etwas, das – denke ich – Generationen beeinflusst hat und hoffentlich noch beeinflussen wird.
Es gab nicht viele Komponisten, die dermaßen für ihre Kollegen eingestanden sind. Es gab welche: Liszt hat im 19. Jahrhundert viel für die moderne Musik getan. Auch einige von uns, aber nicht so viele. Diese Großzügigkeit und Bescheidenheit, gepaart mit dieser unfassbaren Energie und diesem Leistungsvermögen – das erklärt, warum er von so vielen Kollegen immer respektiert, bewundert und geliebt wurde.
Das zählte, denke ich, für junge Leute zu den beeindruckendsten Dingen. Dass jemand von diesem Bekanntheitsgrad, jemand so Berühmter, der alles machen könnte … wenn es ein Problem gäbe, würde er es mit uns allen lösen. Gäbe es ein Problem mit Notenständern, würde er sich einbringen. Gäbe es ein Problem mit der Aufstellung eines Klaviers, würde er dazukommen und dabei helfen, das Instrument zu verschieben. Gäbe es ein Problem damit, wie eine bestimmte Phrase zu spielen sei, würde er zeigen, wie man einen Klang erzeugt, et cetera.
Er war immer bereit, als einfacher Musiker an der Konstruktion von Musik mitzuwirken. Ich spreche natürlich nicht über die unzähligen Male, wenn er für wenig Geld dirigierte oder zu Gunsten einer Fernsehaufzeichnung oder Aufnahme auf seine Gage verzichtete. Das wäre ohnehin endlos – eine Persönlichkeit von höchstem Moralanspruch.
Und in der späten Blüte seiner Laufbahn gab er das den jungen Studenten in Lucerne weiter, was ebenso beachtlich ist.
Aimard: Ja, und wenn man mit ihm darüber sprach, sagte er »Schauen Sie. Wo liegen die Prioritäten?« Das war immer seine Redewendung. Also die Priorität: die junge Generation. Das stimmt. Das ist die richtige Wahl.