Rassenreinheit in der Musik

Béla Bartók


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Heutzutage wird – zumeist aus politischen Gründen – viel über die Reinheit und Unreinheit der menschlichen Rasse geredet, wobei gewöhnlich angenommen wird, dass die Reinheit der Rasse bewahrt werden sollte, sogar mit Hilfe gesetzlicher Verbote. Diejenigen, die sich mit der einen oder mit der anderen Seite des Problems beschäftigen, haben wahrscheinlich den Gegenstand gründlich studiert (oder sollten es wenigstens getan haben), indem sie viele Jahre damit zubrachten, das vorhandene Material zu überprüfen oder in eigenen Forschungen neue Daten zu sammeln. Da ich dies nicht getan habe, kann ich weder die eine noch die andere Seite unterstützen, ich würde dazu sogar überhaupt nicht berechtigt sein. Ich habe aber viele Jahre damit zugebracht, eine Erscheinung des menschlichen Lebens zu studieren, die von einigen Träumern, die man gewöhnlich Volksmusikforscher nennt, für mehr oder weniger lebenswichtig gehalten wird. Diese Erscheinung ist die urtümliche Musik des Volkes, besonders der Bauern. Im gegenwärtigen Stadium des Streites über Rassenfragen mag es an der Zeit sein, die Frage zu untersuchen: Ist rassische Unreinheit der Volksmusik (zum Beispiel der Bauernmusik) günstig oder nicht? (Ich wende das Wort »rassisch« hier auf die Musik selbst an und nicht auf die Menschen, die die Musik schaffen, überliefern oder aufführen.)

Meine Forschungen wurden vorwiegend in Osteuropa angestellt. Als Ungar begann ich meine Arbeit natürlich mit ungarischer Volksmusik, dehnte sie aber bald auf die benachbarten Gebiete – Slowakei, Ukraine, Rumänien – aus. Gelegentlich machte ich sogar Abstecher in entlegenere Gegenden (Nordafrika, Kleinasien), um einen weiteren Ausblick zu gewinnen. Außer dieser »aktiven« Forschungsarbeit, die die Dinge an Ort und Stelle untersuchte, leistete ich auch »passive« Arbeit, indem ich das von anderen gesammelte und veröffentlichte Material studierte.

Seit dem allerersten Anfang war ich höchst erstaunt über den ungewöhnlichen Reichtum an Melodietypen, der in den bearbeiteten osteuropäischen Gebieten vorhanden war. Als ich meine Untersuchungen fortsetzte, wuchs dieses Erstaunen. In Anbetracht der verhältnismäßig geringen Ausdehnung jener Länder mit einer Gesamtbevölkerung von 40 bis 50 Millionen Menschen ist diese Mannigfaltig­keit der Volksmusik wahrhaft bewundernswert. Das Vergleichen der Volksmusik der einzelnen Völker ließ klar erkennen, dass da ein ständiges Geben und Nehmen von Melodien vor sich ging, ein ständiges Kreuzen und Wieder­kreuzen, das seit Jahrhunderten anhält.

Ich muss nun eine sehr wichtige Tatsache hervorheben. Dieses Geben und Nehmen ist nicht so einfach, wie manche glauben könnten. Wenn eine Volksmelodie die Sprachgrenze eines Volkes überschreitet, wird sie – früher oder später – gewissen Veränderungen unterworfen werden, die durch die andere Umgebung und insbesondere durch die Sprachunterschiede bedingt sind. Je größer die Unähnlichkeit in Bezug auf die Aussprache, den Tonfall, die metrischen Verhältnisse, den Silbenbau usw. zweier Sprachen ist, desto größer sind die Veränderungen, denen die »emigrierten« Melodien glücklicherweise unterworfen sein können. Ich sage »glücklicherweise«, denn diese Erscheinung selbst erzeugt und erhöht weiter die Anzahl der Typen und Untertypen. Ich habe den Ausdruck ­»Kreuzen und Wiederkreuzen« gebraucht. Dieses »Wiederkreuzen« vollzieht sich im Allgemeinen in der folgenden Art: Eine ungarische Melodie wird zum Beispiel von den Slowaken übernommen und »slowakisiert«. Diese slowakisierte Form kann dann von den Ungarn rückübernommen und so »re-magyarisiert« werden. Aber – und wieder sage ich glücklicherweise – diese re-magy­arisierte Form wird von der ursprünglichen ungarischen Form verschieden sein.

Zahlreiche Faktoren erklären den fast ununterbrochenen Austausch von Melodien: soziale Bindungen, freiwillige oder zwangsweise Auswanderung und Kolonisierung von Einzelnen oder Völkern.

Zahlreiche Faktoren erklären den fast ununterbrochenen Austausch von Melodien: soziale Bindungen, freiwillige oder zwangsweise Auswanderung und Kolonisierung von Einzelnen oder Völkern. Wie jedermann weiß, ist Ost­europa (Russen, Polen und Ukrainer ausgenommen) hauptsächlich von kleinen Völkern bewohnt, von denen jedes ungefähr 10 Millionen oder weniger Menschen zählt, ohne dass an den Grenzen unüberwindliche geographische Hindernisse bestünden. Einige Gebiete haben eine völlig gemischte Bevölkerung, Resultate von Kriegsverwüstungen, denen zur Besiedlung der unbewohnten Landstriche Kolonisation folgte. Der ständige Kontakt zwischen diesen Völkern mochte leicht gewesen sein. Auch haben Eroberungen stattgefunden (zum Beispiel die Eroberung des Balkans durch die Türken). Eroberer und Unterworfene haben sich vermischt und ihre Sprachen und ihre Volksmusik gegenseitig beeinflusst.

Kontakt zwischen fremden Völkern bewirkt nicht nur einen Austausch von Melodien, sondern – und dies ist noch wichtiger – regt auch zur Ausbildung neuer Stilarten an. Gleichzeitig werden aber auch die mehr oder weniger alten Stilarten gut am Leben erhalten, und dies zieht eine weitere Bereicherung der Volksmusik nach sich. Die Tendenz, die fremden Melodien umzuändern, verhindert die Internationalisierung der Musik jener Völker. Das Material jeder solchen Musik, wie heterogen es auch ursprünglich sein mag, erhält so eine ausgeprägte Individualität. Der Stand der Volksmusik in Osteuropa kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Als das Resultat einer ununterbrochenen gegenseitigen Beeinflussung zwischen der Volksmusik der verschiedenen Völker ergeben sich eine gewaltige Mannigfaltigkeit und ein riesiger Reichtum an Melodien und Melodietypen. Die »rassische Unreinheit« ist entschieden zuträglich.

Und nun sehen wir uns einmal das entgegengesetzte Bild an! Wenn man eine nordafrikanische Oase, zum Beispiel Biskra, oder eines der benachbarten Dörfer besucht, hört man Volksmusik von ziemlich einheitlichem und einfachem Aufbau, die aber dennoch sehr interessant ist. Wenn man dann sagen wir 1500 Meilen weiter nach Osten geht und sich die Volksmusik in Kairo und Umgebung anhört, trifft man auf genau dieselben Musiktypen. Ich weiß nicht sehr viel über die Wanderungen und die Geschichte der Arabisch sprechenden Bewohner Nordafrikas, aber ich glaube behaupten zu dürfen: Eine derartige Einheitlichkeit in einem so großen Gebiet zeigt an, dass hier verhältnismäßig wenig Wanderungen und Bevölkerungsveränderungen stattgefunden haben. Auch spielt da noch ein anderer Faktor eine Rolle: Die Araber mögen zahlreicher sein als jene kleinen osteuropäischen Völker, sie leben aber in einem weit größeren Gebiet und sind nicht durchsetzt mit Völkern verschiedener Rasse und Sprache.

Wenn für die nähere oder fernere Zukunft ein ­Überleben der Volksmusik erhofft werden darf (eine ziemlich zweifelhafte Aussicht, angesichts des rapiden Eindringens höherer Kultur in die entferntesten Weltgegenden), dann ist offensichtlich die künstliche Errichtung von chinesischen Mauern zur Trennung eines Volkes vom andern für die Entwicklung der Volksmusik sehr ungünstig. Eine vollkommene Absperrung gegen fremde Einflüsse bedeutet Niedergang; gut assimilierte fremde Anregungen bieten Bereicherungsmöglichkeiten


Béla Bartók – Weg und Werk

Zusammengestellt von Bence Szabolcsi »Béla Bartópks Oper – von Zoltán Kodály«
Verlag Boosey & Hawkes GmbH Bonn © Corvins Verlag, Budapest 1957