„Rhythmen, wie mit Laser geschnitten“

Pablo Heras-Casado


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© Miguel Peñalver

Mit Kurt Weills Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (Text: Bertolt Brecht) eröffnete Gerard Mortier im Oktober 2010 seine Intendanz am Teatro Real in Madrid. In den Blickpunkt geriet dabei nicht nur eine bedrückend aktuelle
Inszenierung von La Fura dels Baus, sondern auch das von der Kritik einhellig bejubelte Dirigat von Pablo Heras-Casado.

Zunächst einmal sollte man festhalten: Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ist eine Oper mit allen dazugehörenden Ingredienzien.

Heras-Casado: Es war das erste Mal, dass ich Kurt Weill dirigierte, und es war schnell klar, dass er den Sängern viel abverlangt. Man braucht große Stimmen, fast schon mit Wagner-Qualitäten in jeder Stimme. Wir waren sehr glücklich, eine Besetzung zu haben, die diese dramatische Kraft besaß.

Eine andere herausragende Eigenschaft der Oper ist die szenische und musikalische Präsenz des Chores. Außergewöhnlich ist auch die dramatische Rolle des Orchesters, das psychologisch sehr komplex agiert.

All dies machte es sehr herausfordernd, die richtige Balance zwischen den Stilen zu finden, die Weill verwendet.

Weills Musik ist leicht zugänglich. Gleichzeitig spielt er mit dem Genre …

Heras-Casado: Die dramatischen Szenen von Maha­gonny haben Referenzpunkte in manchen Schlüssel­werken der Operngeschichte, wie Verdi, Janáček, Monteverdi oder Mozart. Verdi macht mit kleinen Dingen großen Effekt.

Auch in Mahagonny ist der Gebrauch von leichteren Momenten sehr genau kalkuliert. Zum Beispiel, wie man den Alabama-Song nehmen soll. Ganz allgemein: Der Schlüssel ist, nicht nur den freudvollen Charakter zu betonen, sondern auch die Bitterkeit herauszu­arbeiten, ihr den passenden Raum, das Tempo und die Farben zu geben.

Es schien, Sie hatten keine Scheu, diese Musik so kraftvoll und zugespitzt wie nur möglich zu dirigieren.

Heras-Casado: Absolut. Diese Musik braucht die ständige Erneuerung der Energie. In fast jeder großen Szene haben sie einen Ostinato-Rhythmus. Zum Beispiel bevor Jimmy Mahoney verdammt wird. Es ist sehr schwer, diese Rhythmen für eine längere Periode durchzuhalten. Das ist eine echte Herausforderung. Aber wenn sie diese Energie wirklich behalten, ist das Ergebnis erstaunlich.

Zur gleichen Zeit zeigten Sie die Melancholie von Mahagonny.

Heras-Casado: Sie ist einfach Teil der Oper. Diese Musik will immer eine andere Perspektive zur scheinbar netten Realität zeigen. Wann immer leichtgängige Melodien auftauchen, finden Sie in der Harmonie „falsche“ Noten, oder die Basslinie ist verschoben, um so Spannung zu erzeugen. Es ist nie nur „nett“, es gibt immer auch Bitterkeit. Die Musik spricht für sich selbst.

Was war die größte Herausforderung, Mahagonny zu dirigieren?

Heras-Casado: Da gab es viele. Alleine, die Oper zu koordinieren. Wenn Sie die Schärfe verlieren und den Fokus, dann verfällt alles in konturenlose Bewegung. Sie brauchen manchmal einen Rhythmus, wie mit Laser geschnitten. Die andere Herausforderung ist, das Orchester in einem multistilistischen Sound klingen zu lassen. Manchmal müssen sie auch richtig grob spielen.

Am Tag vor der Premiere war in Madrid Generalstreik. Mahagonny endet mit einem Volksaufstand. Wie haben Sie das erlebt?

Heras-Casado: Nach über einem Monat Probenzeit war das wirklich erstaunlich: es schien, als hätte ein Journalist am Tag vor der Premiere das Libretto geschrieben. Die soziale Atmosphäre in Spanien war sehr turbulent in diesen Tagen – und ist es immer noch. Die Arbeiter am Theater diskutierten, ob sie auch auf die Straße demon­strieren gehen sollten. Wir hatten eine große Sensibilität gegenüber dieser Situation, und jeder auf der Bühne spürte, dass sie Teil auch seines Lebens ist.

In jedem einzelnen Wort passt das Libretto auf unsere Zeit. Die Probleme sind immer noch dieselben. Unsere Gesellschaft wird von Geld regiert. Je mehr du hast, umso mehr willst du. Je weniger du hast, umso weniger bist du wert.

Könnte die Wüste in Mahagonny eine Metapher für die emotionale Wüste in uns selbst sein?

Heras-Casado: Auf alle Fälle. Mahagonny ist ein Stück über unsere Werte.

Aber wenn Gott erscheint, gibt es dennoch keine Erlösung.

Heras-Casado: Das ist ein sehr moderner Ansatz. Religion wurde immer für das Bewusstsein verwendet, dass es jemanden gibt, der dich rettet: eine letzte Hoffnung. Vielleicht ist es delikat, darüber zu sprechen, aber ich glaube: das ist eine Täuschung.

Zunächst sollten unsere humanen und innersten Wertvorstellungen nicht nur auf unserer intellektuellen Erziehung basieren, sondern auf unseren menschlichen Bindungen. Es ist wirklich ein Theatercoup, dass uns nicht einmal Gott retten kann. Wir sind alleine. Es gibt keine Hoffnung in Geld oder Gott.

Interview: Wolfgang Schaufler


Pablo Heras-Casado

1977 in Granada geboren, gehört der Spanier Pablo Heras-Casado zu den herausragenden Dirigenten seiner Generation. Sein Repertoire ist breit gefächert und reicht vom Barock bis hin zur Neuen Musik. Heras-Casado dirigierte u. a. die Dresdener Staatskapelle und das Los Angeles Philharmonic Orchestra. Seine Debüts bei den Berliner Philharmonikern und dem Cleveland Orchestra sind geplant.


Videofassung

Die Videofassung des Interviews finden Sie unter www.universaledition.com/heras-casado-interview