»Seine Stimme war einzigartig!«

James Conlon


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In Zeiten von Showbusiness, Pop-Kultur und Kommerzialisierung der klassischen Kunst gehen die Stimmen vieler ernsthafter Künstler in einem Meer von Lärm unter. Vor einem Jahrhundert, am Vorabend des Ersten Weltkriegs und des Untergangs der europäischen Weltordnung, war dies vollkommen anders. Die hohen Künste genossen immer noch eine Sonderstellung, und obwohl die Künstler im Wettbewerb miteinander standen, war dieser von einer für diese Zeit charakteristischen Ernsthaftigkeit geprägt.

Alexander Zemlinsky wurde in dieses Umfeld hineingeboren. Er schrieb seine Musik und lebte sein Leben. Die Tatsache, dass seine Musik weniger Anklang beim Publikum fand als die anderer Komponisten, wurzelt sowohl in seiner Persönlichkeit als auch in dieser wirren, turbulenten Zeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er wegen der unsäglichen Zerstörungen, die vom Dritten Reich ausgegangen waren, ignoriert.

Schönheit und Opulenz
Ich berichte von meinen Erfahrungen mit Zemlinskys Musik, nicht im Sinne einer Autobiografie, sondern um Einblick in das Phänomen der vergessenen Musik zu gewähren. Wie die meisten Musiker und Musikliebhaber kannte ich seine Musik anfangs gar nicht. Ich kannte während meiner gesamten Studienzeit und ungefähr zwei Jahrzehnte danach nur seinen Namen und hatte eine vage Vorstellung von seiner Nähe zu Mahler und später zu Schönberg. Nie hatte ich seine Musik gehört. Jetzt, da ich zurückschaue, muss ich erkennen, dass nicht einmal ich, ein praktizierender Musiker, der ab dem Alter von elf Jahren täglich die verschiedensten Stücke von Bach bis zu zeitgenössischer Musik studiert hat, zu der Zeit jemals seine Musik gehört oder zumindest eine Person getroffen hat, die mich dazu angeregt hätte. Das gilt nicht nur für mich, sondern auch für die meisten anderen Musiker und für das Publikum.

In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren hörte ich den Namen Zemlinsky immer häufiger, vor allem in Deutschland. Ich merkte ihn mir, und das war es aber auch schon.

Und dann, durch einen glücklichen Zufall, schaltete ich auf dem Nachhauseweg von einer Aufführung an der Kölner Oper mein Autoradio ein. Ich war so ergriffen von der Schönheit und Opulenz der Musik, die ich da hörte, dass ich mich nicht getraute abzuschalten, aus Angst davor, nicht zu erfahren, welches Stück das war – der Verlust hätte mich verfolgt wie The Lost Chord. Die Ansage würde die nächsten Jahrzehnte meines Schaffens maßgeblich beeinflussen: Die Seejungfrau von Alexander Zemlinsky!

»Aha«, dachte ich, »das ist also Zemlinsky.« Ich begann, über seinen Partituren zu brüten, hypnotisiert und fasziniert. Als mich das Musiklabel EMI fragte, was ich denn aufnehmen wolle, war mein erster Vorschlag Die Seejungfrau. Als nächstes kam die Sinfonietta: Die Länge war perfekt, und die Balance zwischen einem Früh- und einem Spätwerk ideal. Dann konzentrierte ich mich auf Der Zwerg

Zurückhaltende Persönlichkeit
Drei Live-Aufführungen und zwei Korrekturaufnahmen später war die CD fertig. Sie wurde veröffentlicht und fand großen Anklang. EMI entschloss sich, alle Orchesterwerke und so viele Opern wie möglich aufzunehmen. Am Ende meiner 13 Jahre währenden Anstellung in Köln waren das gesamte Orchesterwerk (inklusive Lieder und Chorwerke) sowie drei der acht Opern fertig. Während ich mich tief in Zemlinskys Werk vertiefte, durchdrang mich seine Musik dermaßen, dass ich mehr hören musste, genauso, wie es mir mit Mozart, Mahler und Wagner ergangen war. Sie war zeitlos und weckte, sobald man mit ihr Bekanntschaft machte, das Verlangen, sie wieder zu hören.

Musiker stellen sich nach der Erarbeitung der ­Parti­tur eines schwierigen Stücks immer die Frage: Ist die ­Musik noch immer so interessant wie zuvor oder war das Entziffern von Mechanismus und Struktur das Ende des Prozesses? Die Antwort hängt von persönlichen Präferenzen ab. Für mich verdiente Zemlinskys Musik nicht nur sporadische, sondern regelmäßige Aufführungen.

Stimmt es wirklich, dass es keine verlorenen Meister­werke gibt? Ich lade jeden, der so denkt, ein, über kriegsbedingte Verwüstungen nachzudenken: Kultur und Menschlichkeit werden gemeinsam zerstört. Würden Sie zum Beispiel behaupten, dass die präkolumbianische Kunst, die wir zufällig kennen, besser ist als jene, die uns vorenthalten wurde?

Ungespielte Musik ist das Äquivalent verlorener Kunst. Eine Partitur ist irrelevant, wenn die Musik nicht gehört wird. Musik lebt durch ihre Aufführung und wächst mit wiederholtem Hören. Zemlinsky war als versierter Komponist, Dirigent, Pianist und Lehrer eine bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit. Er rang um Anerkennung als Komponist, war aber, was die Selbstdarstellung anbelangte, zurückhaltend, ja gleichgültig.

»Zemlinsky liebte die menschliche Stimme.«

James Conlon

 

Verschmelzung von Wort und Musik
Warum traf Zemlinskys Musik auf so viel Widerstand? Reduktionismus und Kategorisierung spielten im 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle, und seine Musik war schwer zu kategorisieren. Seine Stimme war einzigartig, und er blieb ihr bis zur Sturheit treu. Zu modern für die Konservativen und zu zurückhaltend für die Avantgarde passte er nicht in Kategorien. Kein Künstler oder Kunstwerk ist zu Konformität verpflichtet – das einzig Wesentliche ist es, der Essenz der Kunst treu zu bleiben. Falls das für andere verwirrend klingt, mag es so sein. Eine Werk­kategorie festzulegen oder ein Werk nach seiner Kategorie zu beurteilen, ist großes Unrecht.

Zemlinsky liebte die menschliche Stimme und die Verschmelzung von Wort und Musik leidenschaftlich. Seine Werke spiegeln das wider. Zählt man seine Lieder, Opern, Chorwerke und Orchester-Liederzyklen, erkennt man, dass außer den Streichquartetten (die zu seinen großartigsten Werken zählen) wenig übrig bleibt. Das war der Preis, den er zahlte. Seine Musik konnte nicht als Mittel zum Erfolg dienen. Er schrieb keine Klavierliteratur, keine Konzerte und nur wenige Stücke für Orchester ohne Sänger. Für die Lyrische Symphonie, sein Meisterwerk, benötigt man zwei großartige Solisten, was einige Dirigenten davon abgehalten haben mag, sie aufzuführen. Sein Verlag drängte ihn, Stücke für Orchester allein zu schreiben, damit, wie man ihm schrieb, »Dirigenten, die zu eitel sind, um die Bühne mit anderen zu teilen, sich für ihn einsetzen« würden. Das Ergebnis: die Sinfonietta. Das einzige Werk, das Zeit seines Lebens in Amerika aufgeführt und übertragen wurde, wurde von Dimitri Mitropoulos und dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall aufgeführt. Zu diesem Zeitpunkt war der Komponist leider zu krank, um das Konzert zu besuchen.

Im zwanzigsten Jahrhundert blieb das Schaffen großer Komponisten, abgesehen von ein oder zwei Werken, nahe­zu unbekannt. Sibelius war vielen ausschließlich als der Komponist von Finlandia ein Begriff. Sein Name und seine Musik wurden von Geigern, die sein Violinkonzert spielten, in die Welt hinausgetragen. Es sollte mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis sein produktives Schaffen allgemein anerkannt war. Hätte Zemlinsky ein Konzert, mehr Symphonien oder Werke für Orchester komponiert, wäre seine Geschichte vielleicht anders verlaufen. Auch ein besserer Geschäftssinn oder ein Talent für Selbstdarstellung hätte den Lauf seines Lebens beeinflusst.

Eines ist klar: Zemlinsky fiel auch der Unterdrückung jüdischer Komponisten durch das Nazi-Regime zum Opfer. In den Nachkriegsjahren wurde seine Musik aus verschiedenen Gründen nicht wiederbelebt.

Unangepasstes Leben
Für Musiker und Musikwissenschaftler lohnt sich das Studium von Zemlinskys Musik aufgrund der Komplexität, der technischen Struktur und der motivischen Entwicklung in seinen Werken. Wie seine Wiener Zeitgenossen Schönberg, Berg, Schreker und auf ihre eigene Weise auch Mahler und Strauss hatte Zemlinsky auf die Brahms-Wagner-Polemik seine eigene Antwort. Die kompositorische Disziplin Brahms’ und die harmonischen, theatralischen und dramatischen Aspekte von Wagners Genie waren auch ihm keineswegs fremd. Es war Schönberg selbst, der gegen Ende seines Lebens die Meinung vertrat, dass Zemlinsky das Musiktheater besser als jeder andere im zwanzigsten Jahrhundert verstehe.

Ich bewundere und liebe den Reichtum von Zemlinskys Musik ebenso wie seine Ehrlichkeit und seinen Mut, wenn es darum ging, ein unangepasstes Leben zu führen. Er gehörte zur Avantgarde, so lange es seiner Natur entsprach, und entschied sich schlussendlich für eine andere Richtung. Nicht, dass er nicht den gleichen Weg wie Schönberg hätte gehen können (er hatte zweifellos die kompositorischen Fähigkeiten dazu); er hat es einfach nicht »getan«. Diese Einstellung war sowohl während seines Lebens als auch vor allem in der Nachkriegszeit mit all ihren kompositorischen Orthodoxien von Nachteil.

Die Vorurteile der Nachkriegszeit gehören der Vergangenheit an. Jetzt ist es an der Zeit, Zemlinskys Musik zu hören. Mit ihrer tiefen Menschlichkeit, Leidenschaft, Erotik und der furchtlosen Darstellung von Hässlichkeit und Schönheit erfasst sie die seismische (Adornos Metapher) Turbulenz seiner Zeit und übersetzt sie in die Gegenwart. Wenn über sein Schaffen geurteilt wird, sollte die Grundlage dafür ein tiefes Verständnis seines Werkes sein und nicht oberflächlicher Umgang, beiläufiges Zuhören und vorgefertigte Meinungen. Wer sich seiner Musik leidenschaftlich und engagiert widmet, wird sie auch verstehen.

Die berühmte Bemerkung Mahlers, dass »seine Zeit kommen« werde, hallt in Schönbergs Einschätzung Zemlinskys wider. Ich bin davon überzeugt, dass seine Musik jenen Stellenwert bekommen wird, den sie verdient, obwohl sie dafür vielleicht noch eine Generation überdauern muss. Eine größere Vertrautheit mit seinem Vokabular wird dies vereinfachen. Meiner Erfahrung nach transportieren manche Werke (Lyrische Symphonie, Die Seejungfrau und vor allem Der Zwerg) seine Ideen selbst beim ersten Hören überzeugend. Meine Mission ist es, für Zemlinsky die Werbetrommel zu rühren und dabei zu helfen, seine Musik aus dem Wrack des zwanzigsten Jahrhunderts zu bergen. Seit die Bewegung an Schwung gewinnt, finden sich mehr und mehr Bewunderer Zemlinskys. Jenen, die skeptisch sind, antworte ich, dass Schönberg und Berg Zemlinsky zutiefst bewunderten; Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die klassische Musikwelt nachziehen wird.


Dieser Text orientiert sich an James Conlons Nachwort aus dem Buch Alexander Zemlinsky: A Lyric Symphony von Marc D. Moskovitz, veröffentlicht von Boydell Press, August 2010. James Conlon ist musikalischer Leiter der Los Angeles Opera, des Ravinia-Festivals und des Cincinnati-May-Festivals.