»Singen in der Stratosphäre«

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Herr Tetzlaff, das 1. Violinkonzert von Szymanowski wird gemeinhin als das erste moderne Violinkonzert bezeichnet. Sollten Sie dem zustimmen: warum?

Tetzlaff: [lacht] Modern ist natürlich eine schwierige Definitionsfrage, aber es ist jedenfalls ein Solitär, und es gibt kein ähnliches Stück vorher, sowohl in der Anlage als auch in Bezug auf Inhalt und Geigenbehandlung. Also sagen wir einfach einmal ja, ein vollkommen neuartiges Stück.

Man spricht davon, dass Szymanowski eine neue Art von Expressivität eingeführt hat. Wie würden Sie das definieren?

Tetzlaff: Für mich steht die Erotik im Vordergrund, und wenn man das als eine Form der Expressivität bezeichnet, dann hat das eine Berechtigung. Also wie man dort spielen darf, welche Klänge man verwenden darf, und wie einen das Orchester umgarnt und alles in einer ekstatischen Grundstimmung stattfindet. Das ist sehr neu.

Wie würden Sie das Konzert jemanden beschreiben, der es nicht kennt?

Tetzlaff: Also als Spieler ist es das lustvollste Konzert, die Geige darf auf eine so ungewöhnliche Art singen, schreien und keuchen zu lassen.

Für den Zuhörer ist es, glaube ich, so schön, dass dieses Stück sich dadurch einer eigenen Form gegeben hat, dass es sich auf ein Gedicht bezieht. Man ist dadurch die ganze Zeit überrascht, aber der Ablauf ist vollkommen schlüssig. Also ich weiß noch gar nicht, wie er dieses Kunststück schafft, dass man in den letzten Takten weiß: »So muss es sein, so musste es enden, und so ist das ganze Stück perfekt« Darum sage ich Solitär, und das gilt für mein Gefühl nicht nur für die Violinkonzert-Situation, sondern auch innerhalb von Szymanowskis Schaffen. Von allen Stücken die ich kenne, scheint mir dies das zu sein, wo er den Stein der Weisen gefunden hat.

Es ist technisch nicht besonders schwer.

Als er 1916 das Stück komponiert hat, hat er ja mit einem Geiger zusammengearbeitet. Was gibt es zu den technischen Hürden zu sagen? Wenn Sie einen Geiger darauf vorbereiten sollten, was würden Sie ihm sagen?

Tetzlaff: Es ist technisch nicht besonders schwer. Man braucht aber unglaubliches Stamina. Man braucht sehr, sehr viel Kraft und man braucht eine sinnliche Sprache, und: es sollte liebevoll behandelt werden. Über Jahrzehnte wurde die Lautstärke nach oben gesetzt, daraus also ein opulentes Nach-Wagnersches Stück gemacht. Damit liegt man leider vollkommen falsch.

Wer vielleicht Aufnahmen oder Konzerte von früher kennt, würde nie auf den Gedanken kommen, dass sich ein großer Teil dieses Stückes als Tanz abspielt. Und das ist natürlich die erotische Komponente des Gedichtes und auch die erotische Komponente dieses Stückes, dass der Bezugspunkt eher ein Schleiertanz der Salome ist, denn irgendwelche riesigen Tristanarien.

Das Stück hat keine fixe Tonart: können Sie etwas über die Harmonik sagen?

Tetzlaff: Das ist eine Harmonik, die man immer noch als tonal hört, obwohl es unendlich viele Quart- oder Terzschichtungen sind, sodass sich das tonale Zentrum etwas verliert. Aber trotzdem sind alle Akkorde noch auf irgendeine Art tonal aufgebaut. Dann sind die anderen Einflüsse, oder Dinge die gleichzeitig passiert sind, sicherlich der französische Impressionismus mit sehr vielen Noten, die in die Grundakkorde mithineingenommen sind, die die Tonalität verschleiern. Das Faszinierende für mich ist auch, dass selbst in den größten Orchestertuttis diese Harmonien absolut klar und deutlich zu hören sind, und jede Basstubastimme ihren absoluten Platz hat. Und auch der Klang ist etwas, wenn gut geführt vom Dirigenten, was es auf die Art vorher nicht gegeben hat – zumindest nicht im Bereich des Violinkonzerts. Es ist ein riesiges symphonisches Opus in den Orchesterzwischenspielen und klingt fantastisch, schimmernd und bedrohlich und tief.

Gibt es Balanceprobleme?

Tetzlaff: Ja.

Wo?

Tetzlaff: Auf Seite 2. [lacht] Naja, relativ früh im Stück gibt es Szenen, wo die Geige sehr tief mit sehr vielen schnellen Noten liegt, und dort muss man ein bisschen Probenzeit aufwenden, dann ist das natürlich lösbar. Und man muss eben als Geiger extrem stark spielen.

Die Charaktere sind die ganze Zeit so eindeutig.

Stark heißt von der Dynamik her, damit Sie drüber kommen?

Tetzlaff: Ja.

Es gibt relativ schnelle Stimmungswechsel. Das Wort postmodern ist hier ganz falsch, aber es gibt schnelle motivische und auch klangliche Abfolgen. War das auch Neuland, und ist das für den Interpreten die größte Herausforderung?

Tetzlaff: Nein. Die Charaktere sind die ganze Zeit so eindeutig. Es ist ja sicherlich viel einfacher, kürzere Szenen melodisch zu gestalten. Nun kommt ein wilder Scherzo-Zwischenteil, und wenn, dann ist das der Charme und die Freude des Spielens, dass man die ganze Zeit andere Personen darstellen darf. Es ist ja im Vergleich viel schwieriger, sagen wir mal, einen Zwanzigminutensatz in der gleichen Art zu erfüllen und durchzugestalten als dieses schauspielerische Talent zu verwenden.

In dem Sinne ist es ein dankbares Konzert für den Solisten?

Tetzlaff: Ja, durchaus.

Haben sich Szymanowskis Metronomzahlen in der Praxis für Sie bewährt?

Tetzlaff: Ja, ich sage das ganz klar. Das gilt eigentlich für alle mir bekannten Metronomzahlen aller Komponisten, denn das sind die Herren, die sich damit am meisten beschäftigt haben.

Es ist natürlich lächerlich zu sagen, Metronomzahl 112 ist eben 112 und nicht 114 oder 110, so nicht. Aber gerade bei jeder Musik die neu ist, und das ist meistens die interessante, gute Musik, brauchen wir die Hilfe des Komponisten, damit er uns zeigt, was dieses Neue ist, und wie ich mich dem nähern muss. Denn wenn wir die neuen Dinge aus dem alten Bauchgefühl behandeln, dann wird das Beste davon immer auf der Strecke bleiben. Es bleibt immer noch die Beethovensymphonie eines jeden Dirigenten, aber der Grundtenor ist schon, dass die Stücke einfach sehr, sehr viel aufregender und vielseitiger geworden sind, seitdem man nichtmehr sagt: »Der war verrückt und das Metronom war kaputt.« Und das gilt für alle Komponisten. Wenn sie ernst genommen werden, fängt die Musik an, auf eine ganz andere Art zu leben, und zwar auf eine, die uns aufwühlt und überrascht.

Es wurde als ein einsätziges Werk mit fünf Phasen beschrieben. Sind die Phasen voneinander klar abgetrennt oder geht das in einem Fluss?

Tetzlaff: Das ist ziemlich eindeutig, und zwar immer mit Verbindung komponiert, aber es ist immer klar. Die Teile kommen dann auch innerhalb des Stückes wieder, sie sind wiedererkennbar. Zwar in einem Satz ineinander komponiert, aber klare Teile. Das Schöne ist, dass der Aufbau eben so ist, dass man als Zuhörer das Gefühl hat: »So, wir befinden uns zwar in einer großen fünfteiligen Wucherform, aber ach ja, jetzt kommt ausgedehnt dies wieder, jetzt kommt ausgedehnt dies wieder, also fühle ich mich zu Hause in dem Stück.«

Vom Charakter ist der Unterschied aber zu romantischen Konzerten, wo ein Drama verhandelt wird, ja eigentlich ganz anders.

Tetzlaff: Ja, dadurch dass das Material nicht durchführungsartig in andere Richtungen bugsiert wird. Aber insgesamt ist doch eine Art entwickelnde Kompositionsweise drinnen, als dass die Teile, wenn sie später wieder kommen, subtil verändert sind, und sich das Schlusstutti auf ein früheres Tutti bezieht, aber in vollkommen weiterer Ekstase. Die Dinge sind die ganze Zeit im Fluss, bis zum letzten Ende.

Noch eine Frage zum Interpreten: auch wenn Sie ganz nahe am Notentext sind, glaube ich, dass das Stück davon lebt, wenn der Solist eine quasi-improvisatorische Freiheit zumindest suggeriert.

Tetzlaff: Ja. Aber das würde ich jetzt gar nicht diesem Stück andichten. Ich finde, das ist eine Grundhaltung, die der Interpret haben sollte. Es sollte immer so klingen, wie »Dies ist das, was ich jetzt erfinde.« Weil ich erzähle ihnen etwas, und selbst wenn ich ein Märchen rezitiere, das jeder kennt, hat das ja keinen Sinn zu sagen: »Es war einmal…« Man will jeden Moment so gestalten, als ob es einem in dem Moment einfällt. Szymanowski gibt uns sehr, sehr viel Freiraum in diesem Stück.

Könnte man sagen, dass Szymanowski mit dem Konzert in einer gewissen Weise das Tor zu einem neuen Verständnis vom Violinkonzert aufgestoßen hat?

Tetzlaff: Ja, für mich ist es eben auch in der Geigenbehandlung so neu, weil sich eben so ganz viel in der Stratosphäre abspielt, in der zu singen dann die schöne Herausforderung ist.

Es liegt zum Teil sehr hoch, nicht?

Tetzlaff: Ja, und das ist eben die ekstatische Übersteigung – das gibt es natürlich bei allen, bei Tschaikowski natürlich auch. Wenn man schön auf der Geige singt, ist ja sicherlich der Vergleich zu einer Sopranstimme naheliegend. Aber dann gerät diese Sopransolistin in eine solche Ekstase, dass sie auch noch zwei Oktaven höher schön singen kann.

Woran liegt es, dass das Konzert eigentlich erst jetzt wirklich im Repertoire landet?

Tetzlaff: An den Geigern. Logischerweise. Hätte das Stück zur Entstehungszeit und danach bessere Bedingungen gehabt, wäre es vielleicht ganz und gar durchgekommen, aber die Zeiten waren eben für so etwas nicht ideal, und dann war nach dem Krieg in einem großen Teil des Kulturraums opulente, schöne Musik vielleicht aus der Zeit nicht das, was gesucht wurde. Speziell im deutschen Raum hat man versucht, all das, was wirklich verboten und ganz anders war, erstmals besonders zu unterstützen und mitzunehmen.

Komponisten, die mit den Geigern der 50er, 60er, 70er Jahre konfrontiert waren, hatten es im allgemeinen sehr, sehr schwer, weil fast alle Leute diese Kompositionen durch die Bank sehr, sehr schludrig behandelt haben. Und ein Tschaikowsky und ein Brahms hat das immer noch überlebt, aber Stücke die so viel Neues und noch nicht viel Gehörtes haben, die haben dann keine Chance.

Ist in dem Sinne die Aufnahme mit Pierre Boulez und den Wiener Philharmonikern eine Art von Perspektivenwechsel?

Tetzlaff: Ich weiß es nicht. Ich kenne jetzt nicht die jüngere Aufnahme. Thomas Zehetmair hat es auch aufgenommen, und dann bin ich sicher, dass der sich auch ankuckt, was Szymanowski schreibt und mit großem Verständnis dafür umgeht. Das kann ich also nicht beurteilen. Aber wir machen selbstverständlich erst ein bisschen mehr was da steht, und wie immer kommt da, wenn der Komponist ein guter Komponist ist, auch etwas Interessantes dabei heraus.


Interview: Wolfgang Schaufler
Salzburg, August 2013
(c) Universal Edition