Vom Triebleben der Klänge

Karol Szymanowski zwischen Klangekstase und Nationalstil


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© Universal Edition, Johannes Feigl
Karol Szymanowski

Die europäische Musik der Jahrhundertwende steht im Zeichen des Klangrausches. In der Nachfolge ­Richard Wagners wird das Orchesterpedal zum Medium ex­zessiver Klanginszenierungen: Das Wort »Klang« selbst bekommt eine magische Bedeutung, so dass Paul Bekker ein Buch Klang und Eros nennen kann. Camille Saint-Saëns berichtet noch ironisch über eine Episode der Wagner-Anbetung, in der eine hysterische Dame bei den Weckakkorden e-Moll/C-Dur aus dem Siegfried ohnmächtig dem Meister zu Füßen gesunken ist. Die schimmernde Gralswelt des Lohengrin, die züngelnde Venusbergmusik des Tannhäuser, die nacht- und todessüchtige Chromatik des Tristan, die Klangzauber der Ring-Tetralogie – all diese sehrenden, schwärmenden, blühenden, brünstigen ­Ausdrucksformen erotisierter Natur verdichten sich für die kommende Musikgeneration zu einer Klang-Metaphysik, die gleichzeitig Mysterium und Abenteuer, Andacht und Orgie, Meditation und Raserei in sich birgt.

Zu den Klang-Erotomanen muss auch der polnische Komponist Karol Szymanowski gezählt werden, der 1882 – im Sterbejahr Wagners – geboren wurde. Klammern wir die bewusst polnische Schaffensperiode Szymanowskis einmal aus, so sind viele seiner Werke – ungeachtet aller Differenzierung in Form, Struktur und Instrumentation – absolute Klangemanationen. Szymanowskis Cousin, Jugendfreund und späterer Librettist Jarosław Iwaszkiewicz berichtet ­davon, dass die Wörter »Klang« und »Klingen« Lieblingsausdrücke Karols waren. Entsprechend wird das »klangliche Wundererlebnis«, die »berauschende sphärische Geister­erscheinung des Tönens«, ein Ur-Thema im Schaffen Szymanowskis, das sich ohnehin Ritualen und antiken Symbolen verschreibt. »Sinnlich, dunstig und schwül« sind die Hauptattribute damaliger Kritiken, und Iwaszkiewicz schreibt an einer Stelle, dass es eine derart »unverschämt metaphysisch unanständige Musik« wie die Szymanowskis vorher noch nicht gegeben habe. Derselbe Iwaszkiewicz rühmt auch an den von ihm ­getexteten Liedern eines verliebten Muezzins die »Schwüle und den Moschusduft« – Attribute, die nach Fin de siècle, Décadence, Jugendstil und Orientalismus schmecken.

Polnische Verschlossenheit und Wiener Bohème, katholische Strenge und Dionysiertum.

In der Tat umgibt die Figur Szymanowskis etwas von der Aura des vergangenen Künstlerideals, das sich mehr im Mysterium gründet als in Schaffensemsigkeit, mehr in Morbidezza als in Motorik, mehr nach tiefen Schichten des Daseins forscht, als sich in robuster Musizierfreude auslebt. Biographisch setzt sich dieses Dasein zusammen aus polnischer Verschlossenheit und Wiener Bohème, ­katholischer Strenge und Dionysiertum, Ekstase und Askese. Und bedenkt man, dass die schillernde und faszinierende Existenz Szymanowskis tatsächlich vom Keim der Auflösung befallen, vom Hauch des Todes gestreift war – in Form einer schleichenden Tuberkulose – dann wird die Nähe zum Thomas Mannschen Künstler­typ geradezu verblüffend deutlich. Doch: Der Knabe Karol schwelgte zwar am Klavier in Wagnerklängen und gab sich auch später Tristan-Exzessen hin – er weilte sogar als Patient in Davos, dem Zauberberg. Dennoch offenbart sich in seiner Musik mit ihrem unbedingten Schönheitspostulat kein kränkelnder Jüngling oder gar lebens­feindlicher Charakter, sondern eine Persönlichkeit, die wie die großen Zeitgenossen um Individualismus der Form und des Ausdrucks ringt.

Ein Ausdrucksbedürfnis, das immer wieder als ekstatisch bezeichnet und dadurch in Beziehung zu Skrjabin gebracht wird. Doch wenn man Skrjabin einen Kon­strukteur und Programmatiker der Klangekstase nennen könnte, so vollzieht sich Ekstase im Werk Szymanowskis eher willkürlich, von innen heraus, entfaltet sich aus dem Misterioso der Satzanfänge in stetig steigender Fieber­kurve und entlädt sich in vokaler wie instrumentaler Apotheose. So in den Violinkonzerten, die Szymanowski für den fulminanten Geiger Pawel Kochańsky schrieb, so in der 2. und 3. Symphonie, so in der Oper König Roger, so aber auch in den Orchesterliedern, den Streichquartetten und der Klaviermusik.

Bei allem Klang-Hedonismus und aller üppigen Farbenpracht herrscht jedoch eine Vorliebe für Dunkel und Melancholie vor. Szymanowski verabsolutiert die Nocturne-Stimmungen seines Landsmannes Chopin; seine Klangfantasie flieht den »tückischen Tag«, so wie seine chromatisch wuchernden, weit ausschwingenden Melodiebögen mehr und mehr der Tonalität entwachsen. Szymanowskis ureigene Klangsphäre – das ist ein geheimnisvoll irisierendes, in lichter Höhe schwebendes oder in mystisches Dunkel getauchtes, ins »Grandioso« mündendes Lied der Nacht. Eine Musik, die das Tristan-Motiv vereinigt mit den Vokal- und Klanghymnen von Daphnis und Chloe, purpur-violett, in einer schwülen Luft und ein »Gemenge aus Nacht und Licht, schwarz und hell«.

Schon der junge Szymanowski muss gespürt haben, dass es mit der Gesellschaft, der er angehörte, zu Ende ging.

Karol Szymanowski wurde in Tymoszówka in der Ukraine, mithin als russischer Staatsbürger geboren; wie ­Mussorgskij und Rimskij-Korsakov entstammt er dem Landadel, der kulturtragenden Schicht kleinerer und mittlerer Gutsbesitzer.

»Von ihrer Umgebung unterschied sich die Familie Szymanowski durch ihre hohe künstlerische Kultur«, schreibt der Biograf Stanisław Golachowski und fährt fort: »Die Voraussetzungen für das musikalische Niveau schufen bereits die Eltern des Komponisten. Karols Vater […] zeichnete sich durch hervorragende Musikalität aus. Ihm verdanken sowohl Karol als auch seine Geschwister ihre musikalische Ausbildung, die sich auf beste Tradition der europäischen Musik stützte. Auf dem Flügel der ­Szymanowskis hatten ausschließlich Werke großer Komponisten Platz, voran Mozarts und Beethovens. Diese Schule […] gab Karols musikalischer Entwicklung die günstigste Richtung, da er sich in der Kindheit bereits die besten Werke der Musikliteratur aneignen konnte. Schon der junge Szymanowski muss gespürt haben, dass es mit der Gesellschaft, der er angehörte, zu Ende ging. Der end­gültige Ruin der Familie nach der Oktoberrevolution traf ihn nicht nur materiell, sondern vor allem seelisch, wie seine Briefe aus der Zeit von 1917 bis 1920 bezeugen. So versuchte er mittels seiner Musik, an Kultur hinüberzu­retten, was er nur konnte.

Jarosław Iwaszkiewicz teilt aus seiner Erinnerung viele Beobachtungen mit, die sich weniger auf die Musik als auf die Außenseiterrolle seines Cousins im Familienkreis beziehen. Es entsteht das Bild eines heranwachsenden jungen Dandys, der gleichwohl seine zunehmende Introversion geschickt vor der Außenwelt verbirgt. Da ist seine höfliche, aber kalte Distanz zur mütterlichen Fürsorge in Sachen Religion; und da ist zugleich sein früh erwachter Sinn für die heidnische Antike, gepaart mit dem Hang zu Stilisierung und Narzissmus. Im verdunkelten Salon zu Zymoszówka posiert er als sterbender Petronius Arbiter nach Sienkiewicz‘ Quo Vadis-Roman und symbolisiert damit zugleich seine eigene Rolle im Leben und in der Kunst; vorerst schockiert er damit die sittenstrengen polnischen Tanten, die ihn für einen »verdorbenen ­Menschen« und »komponierenden Dilettanten« halten.

Bevor Szymanowski als fertiger Künstler ins Leben tritt, sammelt er gleichsam Impressionen, um seinem Schönheitskult einen möglichst reichen Inhalt geben zu können. »Den Philister mit einem gütigen und weisen Lächeln auf Welten der Schönheit zu weisen«, wird seine künftige Mission sein. Um diese erfüllen zu können, wandelt der junge Karol auf Oscar Wildes bzw. Dorian Grays Spuren. Für das Warschau um 1900 ist dieser Lebensstil ungewöhnlich genug; Szymanowski gilt als einer der »bestangezogenen« jungen Männer Polens, tritt nicht als gelehriger Schüler des Konservatoriums auf, sondern als »reicher junger Herr aus der Ukraine«, nicht als Liedkomponist, sondern als Herzensbrecher, der seinen zahlreichen Flammen Lieder widmet.

Sein Nationalkolorit: ein Ergebnis von Ästhetentum und Schönheitskult.

Zunächst also haben wir keinen energischen ­Erneuerer vor uns, der mit dem Notizbuch in der Hand den Wellenschlag der Donau notiert wie Leoš Janáček; wir finden einen jungen Mann, der sich Nietzsches Geburt der Tragödie zum Evangelium macht, eifrig die Musik von Chopin und Skrjabin studiert und das Land der Griechen mit der Seele sucht. Ein Künstler, der sein künftiges National­kolorit dem Ästhetentum und Schönheitskult abgewinnt. Iwaszkiewicz nennt diesen Kult etwas schwülstig eine »Religion der Liebe«, verbindet ihn aber treffend mit der Krankheit: »Bevor diese Religion geläutert worden war durch die vielen Reisejahre, durch unvergessene Eindrücke in Sizilien und Afrika, durch die kontemplative Betrachtung der Kunst in Italien und schließlich durch die mehrjährige Einsamkeit des Krieges und solche Früchte hervorbringen konnte wie König Roger – dieses geheimnisvolle Mysterium der Liebe und Toleranz, wo Amor und Caritas in eins verschmelzen –, nahm sein Kult der Schönheit des Lebens beunruhigende, ja mitunter vulgäre Formen an. Dabei meine ich, dass die Tuberkulose, die in Szymanowskis Organismus im Keim schon immer existiert hatte, das ihre zu der gewissen ekstatischen Erregung beitrug. Im Grunde genommen ist das wesentlichste Element seiner Kunst, jene ›Pression‹, von der die Kritiker mitunter sprechen und die zeitweise den Rahmen der herkömm­lichen Musikästhetik sprengt, vor allem seine Erotik.«

Dass sich jenes erotische Flair schon früh in den Werken Szymanowskis bemerkbar macht, ist zunächst durchaus nicht nur Symptom der Krankheit, sondern des Zeitgefühls. Unter dem Einfluss des Erotomanen von Bayreuth schreiben die wenigsten Komponisten noch »schlichte Weisen«. Skrjabin entwirft seine ekstatischen Poeme und Grieg komponiert ein Klavierstück mit dem Titel Erotik. Strauss schwelgt in erotischen Liebesszenen und Ravel entwickelt seinen Orchesterstil, dem Hans Heinz Stuckenschmidt »Paarungs-Besessenheit« und »klang­gewordenen Eros« attestiert. Selbst der spröde Schönberg lässt sich noch von Strauss zu einer passionierten Pelleas und Melisande-Musik inspirieren; später ist er es, der den Ausdruck »Triebleben der Klänge« formuliert.

Um die europäische Moderne um 1900, ja selbst Wagner, näher kennen zu lernen, war Szymanowski auf das Selbststudium angewiesen. Golachowsky schreibt: »Von Wagner und seinem künstlerischen Erben Richard Strauss wusste man in Warschau so gut wie nichts. Für die polnischen Komponisten, die in dieser Zeit die künstlerische Reife erreicht hatten, war Mendelssohn ein nachahmenswertes Vorbild. Die musikalische Situation des damaligen Warschaus charakterisierte Henryk Opiensky folgendermaßen: »Wagners Tristan war ein Mythos, dessen Kenntnis nur schädlich sein konnte.« Was für andere schädlich, sollte für Szymanowski zum Elixier werden. Um dem Akademismus des Warschauer Konservatoriums zu entgehen, taten sich die vier Komponistenfreunde Grzegorz Fitelberg, Ludomir Różycki, Karol Szymanowski und Apolinary Szeluto zu einer Gruppe ­zusammen, die sich wenig später »Jung-Polen« nannte. Da es so gut wie keine Wagner- und Strauss-Aufführungen gab, half sich der Verein durch Privatvorstellungen aus den Klavierauszügen.

Der Enthusiasmus für die deutsche Musik wurde von den konservativen Musikerkreisen Warschaus mitnichten geteilt. Szymanowski, der mittlerweile unter dem Einfluss Max Regers stand und eine Sinfonie geschrieben hatte, die er selbst ein »harmonisch-orchestrales Monstrum« nannte, verspielte durch diese Art von »Deutschtümelei« all sein Ansehen, das er durch frühe Kammermusik und Lyrik bereits gewonnen hatte. Um ein Bonmot des von ihm so bewunderten Oscar Wilde aufzugreifen: Szymanowski ging nach dieser Enttäuschung nicht ins Kloster, sondern zur Operette. Natürlich war der Männerlotterie, wie das Stück hieß, kein Erfolg beschieden.

In der 2. Symphonie in B-Dur sublimiert ­Szymanowski seine Strauss-Einflüsse und beginnt, diese mit ­seinem ­Personalstil zu verschmelzen. Einige Übergänge, Aufschwünge und Schlusskadenzen wirken wie aus ­Zarathustra und dem Heldenleben herübergenommen. Doch hätte der effektsichere Strauss eine Sinfonie wohl kaum so kammermusikalisch intim begonnen; auch in den chromatischen Verschleierungen des Themas, in der Verunklarung der Struktur durch polyphone Überlagerung und dynamische Überdehnung, schließlich in der allmählichen Steigerung der Bewegung zeigt sich der echte Szymanowski. Die Symphonie B-Dur wurde zur Gipfelleistung Szymanowskis in der zweiten Schaffens­periode. Obwohl sie hinsichtlich des Wertes seinen späteren Orchesterwerken den ersten Rang abtreten musste, blieb sie dennoch die hervorragendste Sinfonie der damaligen polnischen Musik. Selbst wenn man den gesamten in ihr enthaltenen Reichtum neuer musikalischer Ideen außer Acht ließe, würde das Niveau der kompositorischen Technik, mit dem Szymanowski in diesem Werk aufwartet, ihn unwiderruflich zum ersten Komponisten Polens erhoben haben.

Was für andere schädlich, sollte für Szymanowski zum Elixier werden.

Szymanowski sah sich nach neuen Aufführungs- und Veröffentlichungsmöglichkeiten um. Eingedenk eines prägenden Jugenderlebnisses mit Lohengrin wandte er sich nach Wien, der damaligen Metropole europäischen Musiklebens.

Am 18. Januar 1912 fand im großen Saal des Musik­vereins ein reines Szymanowski-Konzert statt: Grzegorz Fitelberg führte mit den Wiener Symphonikern die 2. Symphonie auf und Arthur Rubinstein spielte die 2. Klaviersonate in A-Dur. Zwei Monate später unterzeichnete Szymanowski einen 10-Jahresvertrag mit der Universal Edition. Verlagsdirektor Emil Hertzka schätzte Szymanowski außerordentlich, was der umfangreiche Briefwechsel beweist, der zwischen beiden bis zum Tode Hertzkas 1932 in einem ungewöhnlich herzlichen Tonfall geführt wurde. Da Hertzkas Passion der Oper galt, versuchte er auch gleich, den introvertierten Szymanowski für dieses Genre zu interessieren. So schreibt dieser an seinen Freund Stefen Spiess: »Ich fange an, immer mehr an eine Oper zu denken – einfach der Karriere wegen – das würde sehr wichtig sein, verschiebe auch auf weitere Sicht meine persönlichen Pläne und fange an, mich nach einem fertigen, effektvollen Text umzuschauen.«

Da die erste große Oper, die Hertzka und die UE herausbringen, Der ferne Klang von Schreker ist, beginnt Szymanowski sich vor allem für dessen Werke zu inte­ressieren, findet die nächste Oper Das Spielwerk und die Prinzessin trotz »Unklarheiten und Inkonsequenzen« wunderschön, »voll von Poesie und Ausdruck«. Später wartet er voll Spannung auf die Oper Die Gezeichneten. Szymanowski spürt eine gewisse Wesensverwandtschaft mit Schreker – jenen gemeinsamen Zug zum Misterioso, zu Rausch, Ekstase und Entrückung, was sich in einem immateriellen Klingen, unbestimmten Raunen, Wogen und Glitzern manifestiert, einer Beschwörung der tönenden Sphären. Mit dem aus mehreren Instrumenten raffiniert gemischten Klangtriller des Gezeichneten-Vorspiels korrespondiert am deutlichsten der Anfang des 1. Violinkonzerts, eines Lieblingswerks Szymanowskis. Nach dem einleitenden Pizzicato des Soloinstrumentes bildet sich ein Wellengekräusel der Streicher, zu dem die Bläser kurze Motivfloskeln beisteuern. Harfenglissandi und Klavierfiguren verfremden den zunächst tonalen Klang immer mehr. Dann intoniert die Violine in hoher Lage ihr schlängelndes, in Sehnsuchtsgesten sich expressiv steigerndes Gesangsthema. Dieses immaterielle Singen der Geige in hoher und höchster Lage wird zu einem Spezifikum des Szymanowskischen Klangbildes.

»Ich fange an, immer mehr an eine Oper zu denken – einfach der Karriere wegen [...]«

Karol Szymanowski

»Wenn Italien nicht existierte, könnte auch ich nicht existieren. Ich bin weder Maler noch Bildhauer, doch wenn ich durch die Säle der Museen, die Kirchen, die Straßen gehe, wenn ich auf diese erhabenen, stolzen, mit einem ewig nachsichtigen und heiteren Lächeln auf alles Dumme, Niedrige und Empfindungslose herabschauenden Werke blicke – wenn ich mir diese vielen Generationen der schönsten, genialsten Menschen vergegenwärtige, fühle ich, dass es sich lohnt, zu leben und zu arbeiten …« Seine italienischen, besonders aber seine sizilianischen Eindrücke verarbeitet Szymanowski programmatisch, dann vor allem dramatisch in der Oper König Roger.

Neben dem Konzert ist es der dreiteilige Zyklus Mythen für Violine und Klavier, in dem der Komponist einen neuen impressionistischen Kammermusikstil entwickelt. Das erste Stück der Mythen heißt Die Quelle der Arethusa und bezieht sich auf die im Hafen von Syrakus entspringende Quelle, die der Überlieferung zufolge eine unterseeische Verbindung zum griechischen Arkadien hat. Wieder spannt sich in hoher Lage die Violinkantilene über die glitzernden, chromatisch changierenden Wellenfiguren der Klavierbegleitung.

Der mystische Ton Szymanowskis entsteht in seiner zweiten Schaffensperiode, die den Zeitraum der Kriegsjahre von 1914–1918 umfasst. In unmittelbarer Nähe der Mythen steht der Klavierzyklus Masken, der mit ­Scheherazade, Tantris der Narr und Serenade des Don Juan Charakterporträts präsentiert. Mit seinem pompösen bis expressionistischen Klavierstil, dessen Klang­hypertrophie sich bereits visuell auf drei Notensystemen mitteilt, bilden die Masken das Gegenstück zu Ravels Gaspard de la nuit. Für die Figur der Märchenerzählerin Scheherazade hatten sich bereits andere klangsensible Musiker interessiert: Von Schumanns melancholischem Klavierstück über Rimskij-Korsakovs farbige Sinfonie bis zu Ravels Liedern reicht die Skala, die Szymanowski um eine ­traumsüchtige, in alterierten, breit arpeggierten Akkorden hingetupfte Impression erweitert.
Die Geste des geheimnisvollen Anhebens, die zur unverwechselbaren Klangchiffre Szymanowskis wird, findet sich noch in seiner dritten, der nationalen Periode, wenn auch nicht mehr so verwirrend und frei schweifend, sondern klassizistisch gebändigt: Sein 2. Streichquartett von 1927, in dem der Komponist folkloristische Themen seines Balletts Harnasie verwendet, greift noch einmal wie in einer Reminiszenz auf den mystischen Anfang zurück; die schattenhafte Klangfläche besteht dieses Mal nur aus schlichten Ostinatosechzehnteln wie in Schuberts Unvollendeter. Über diese äußerst zarte Klangfolie wölbt sich in großem Bogen das kantable Thema.

Seine höchste Verdichtung erfährt das Einleitungsmisterioso in der 3. Symphonie, Das Lied der Nacht, die Szymanowski 1914 bis 1916 basierend auf Versen des persi­schen mittelalterlichen Dichters Dschalal-ad-din Rumi für Tenorsolo, Chor und großes Orchester komponierte. Wieder spannt sich über einem alterierten Bläserakkord in hoher Lage der Violingesang: »Cantabile molto espressivo« wogt diese Streicherlinie mit dem charakteristischen Intervall des Tritonus auf und nieder wie ein großer Nachtvogel. Dieser Anfang aus Nebelschleiern wirkt wie ein sinfonischer Abgesang der romantischen Sinfonien, die sich von Beethoven bis Mahler indirekt die Worte des Schöpfungsberichtes zum Motto nehmen: »Und der Geist Gottes schwebte auf der Fläche der Wasser.«

Schreker schöpfte für seine Opernkarriere Hoffnung, nachdem er die Grazer Aufführung von Strauss‘ Salome gesehen hatte. Auch Szymanowski verspürte während seines ersten Wiener Aufenthaltes den Drang, »seine« Salome zu schreiben, hatte er doch bereits Salome und Penthesilea in Liedform vertont. Ab 1912 geistert durch seinen Briefwechsel mit der UE der Plan Hagith, welcher bald die Gestalt eines üppig instrumentierten Einakters annahm. Mit Salome verbindet Hagith außer stilistischen Details, dass ihr drastischer Stoff nicht hoftheaterfähig war.

Strauss’ »Salome« öffnete ihm das Tor zum Orient und damit zu einem Kolorit, das für seinen künftigen Personalstil richtungsweisend sein sollte.

Für Szymanowski war die Erfahrung in anderer Hinsicht von Bedeutung: Sie öffnete ihm das Tor zum Orient und damit zu einem Kolorit, das für seinen künftigen Personalstil richtungsweisend sein sollte. Ab 1914 entstehen drei Zyklen, die man Höhepunkte orientalisierenden Liedgesangs nennen könnte: Des Hafis Liebeslieder, 6 Lieder einer Märchenprinzessin und Lieder des verliebten Muezzins.

Ravel soll dem Vorschlag, arabische Motive in seiner Musik zu verwenden, entgegnet haben: »Schriebe ich je so etwas, so wäre es arabischer als das alles hier!« Ebenso konnte Szymanowski mit Recht behaupten, in seinen Hafis-Liedern einen authentischen Ton gefunden zu haben, der weit über die Arabesken und Chinoiserien seiner Zeit hinausging. Der indische Pianist und Komponist Sorabji bezeichnet die Hafis-Lieder als »Musik von strahlender geistiger Klarheit, von erhabenem ekstatischem Ausdruck« und er fügt hinzu: »Diese Lieder sind nicht das Produkt eines kostümierten Europäers, sondern die Schöpfung eines Geistesverwandten, der uns musikalisch vermittelt, was wir instinktiv als Quintessenz der persischen Kunst erkennen.«

War die Oper Hagith wegbereitend für die Lieder­zyklen, so bilden diese wiederum die Vorstufe zu Szymanowskis dramatischem Hauptwerk: der Oper Król Roger. Und hier ist es besonders das lyrische Kernstück, das den Hafis-Ton hinüberträgt ins Szenische: Roxanas Lied. Bezaubert von der suggestiven Macht des schönen Hirten stimmt Rogers Weib ihre lockenden Koloraturen an. Dem gelegentlichen Vorwurf, Szymanowskis Musik sei esoterisch, kann man am besten mit Roxanas Lied begegnen. Diese mollsüchtigen und wollüstig sich höher schraubenden Melismen sind ein ausgesprochener »Ohrwurm«. 1918 schreibt Szymanowski an Hertzka: »Ich habe jetzt viel über Theaterwesen nachgedacht und bin zu der Überzeugung gekommen, dass es mit der eigentlichen ›Oper‹ fast zu Ende ist. Darum interessiert es mich so lebhaft, was Schreker mit seiner neuen Oper meint!« In einem späteren Brief fügt er hinzu: »Wäre es unmöglich, einen Klavierauszug der Gezeichneten zu bekommen? Schreker interessiert mich immer am meisten, als Künstler, aber auch als Mensch!« Dieses Interesse gerade an Schrekers Hauptwerk Die Gezeichneten sollte Früchte tragen: 1918, im Uraufführungsjahr dieser Oper, beginnt Szymanowski mit seinem König Roger.

In beiden Opern geht es, grob gesprochen, um den Sieg entfesselter Sinnlichkeit über Ordnung und Zwang. Am Schluss der Gezeichneten zerreißt der schöne Ver­führer Tamare Vitellozzo »mit Riesenkraft« seine Ketten. Die symbolische Bedeutung dieser Szene muss Szymanowski beeindruckt haben, denn gegen Ende des 2. Aktes seines König Roger lautet die Regieanweisung zu dem gefesselten Hirten: »Er zerreißt seine Ketten und wirft sie dem König vor die Füße.« Dieser Analogie entspricht in beiden Opern die Tendenz, dass sich das dionysische Prinzip von Rausch, Ekstase und Auflösung zunehmend durchsetzt gegen die apollinische Strenge, die in den Gezeichneten durch die Kunst, im König Roger durch die Macht der Kirche repräsentiert wird.

Szymanowski – der Meister der Ekstase, der Mystik und des Misterioso – diese Stilmerkmale entsprachen nicht unbedingt dem Eigenbild des Komponisten.

Szymanowski – der Meister der Ekstase, der Mystik und des Misterioso – diese Stilmerkmale entsprachen nicht unbedingt dem Eigenbild des Komponisten, dessen künstlerisches Ideal laut eigener Aussage »die Polyphonie der Fuge« war. Selbstverständlich gibt es den formstrengen und strukturbewussten Szymanowski, dessen polyphoner Stil an Bach und Reger geschult ist und dessen mitunter komplizierte Rhythmik Affinität zu Bartók und Strawinsky besitzt. Den Anfang des 1. Violinkonzertes könnte man eine ideale Vermittlung nennen zwischen den Schrekerschen Klangnebeln und der gläsernen Transparenz von Petruschka. Ebenso vermitteln die drei Klaviersonaten, die alle in eine ausgedehnte Fuge münden, zwischen der romantischen Dramaturgie der Lisztschen h-moll-Sonate und dem harten Martellato-Stil der Bartók-Sonaten.

Der Umschwung europäischer Kunst nach dem Ersten Weltkrieg – markiert durch die Verwandlung subjektivistischer Tendenzen in ein neues »objektives« Kunstideal – ging auch an Karol Szymanowski nicht spurlos vorüber, wenn man bei ihm auch keinesfalls von einer Stilwende sprechen kann. Auffallend jedoch sein Hang zu objektiveren Formen und Inhalten sowie eine wachsend national­bewusste Tendenz. 1920 bis 1925 entstehen neben der Komposition des König Roger die Słopiewnie-Lieder, dann drei Wiegenlieder, die Kinderreime, die reizende Ballettgroteske Mandragora sowie die 20 Klaviermazurken op. 50 – und schließlich das Stabat Mater für Soli, Chor und Orchester, das Szymanowski als volksgläubiges »Bauernrequiem« konzipiert hat. Gleichzeitig beginnt die Arbeit an der großen Ballettpantomime Harnasie, in der Szymanowski dem Volksleben der polnischen Tatra und der Podhale-Kultur ein Denkmal setzt. In all diesen Werken ist eine Abkehr von mythischen Themen, von der schönheits- und todestrunkenen Geste zu spüren und eine Hinwendung zu konkreteren, nationalen und folkloristischen Themen.

Bedenkt man, dass der Komponist eine Kompositions­stelle in Kairo ausschlägt zugunsten einer für seine Gesund­­heit ruinösen, aufreibenden Direktion am Warschauer Konservatorium, so kann man nur von tragischem Patriotismus sprechen. Doch gehört auch dieser zu Szymanowskis schillernder Persönlichkeit: einer Dialektik von Künstlerindividualismus und Volksverbundenheit, Extravaganz und sozialem Verantwortungsgefühl.


Wolfgang Molkow