Vom Zauber der Reduktion
Daniel EnderFriedrich Cerhas Spätwerk zeichnet sich durch elegische Eindringlichkeit und einnehmende Gelassenheit aus. Doch bei aller Leichtigkeit kommt auch ein ernster Zug zum Vorschein. Cerha schreibt am anderen Ende der emotionalen Skala ebenso eine Musik, die zum Trauern fähig ist, ohne in Depression zu verfallen. Gleich, wie dunkel oder gar düster die Farben auch werden, bleiben doch immer Humanität und Heiterkeit spürbar. Hätte Friedrich Cerha seinen 75. Geburtstag zum Anlass genommen, um sich zur Ruhe zu setzen: Mit seinen bis dahin entstandenen Werken wäre die unverrückbare Bedeutung des 1926 geborenen Wieners für die neuere Musikgeschichte mehr als gesichert gewesen.
Glücklicherweise scheint er aber an einen solchen Rückzug niemals auch nur gedacht zu haben – im Gegenteil: Cerha komponiert beständig weiter, und so wurde in den vergangenen Jahren sein ohnehin schon kaum überblickbarer Werkkatalog um eine stolze Zahl an neuen Stücken bereichert. Dazu gehören auch so großformatige und gewichtige Kompositionen wie das Konzert für Sopransaxophon und Orchester (2003/04) sowie das Konzert für Schlagzeug und Orchester (2007/08). In ihnen wird das zentrale Thema von Cerhas Bühnenwerken, die Beziehungen zwischen Individuum und Gruppe, nochmals auf absolut-musikalischer Ebene befragt und reicht dabei von bedrohlichen Konfliktsituationen bis zu heiter-musikantischer Dialoghaftigkeit und gelöster Harmonie.
Der häufig – und zu Recht – als Doyen der österreichischen Musik bezeichnete Cerha lässt die Öffentlichkeit in bewegender Weise daran teilhaben, wie er zu seinen Einfällen kommt: Nicht selten, berichtet er, ereilen sie ihn im Traum. Mit welcher geistigen Klarheit seine Stücke dabei ausformuliert sind, bildet nur eine der bewundernswerten Facetten seiner jüngsten Kompositionen, aber bei weitem nicht die einzige.
»Gibt es etwas wie eine übergreifende Charakteristik großer Spätwerke, so wäre sie beim Durchbruch des Geistes durch die Gestalt aufzusuchen«, schreibt Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie – rätselhafte Worte für ein rätselhaftes Phänomen, das im Falle Friedrich Cerhas allerdings mit Händen zu greifen scheint. Zwar war er schon immer ein Komponist, dessen Partituren trotz aller Souveränität im Handwerklichen niemals den Geruch ausstrahlten, dass hier jemand etwas beweisen müsse. In letzter Zeit vereinen sie aber die Perfektion in der Durcharbeitung mit einer nochmals gesteigerten, schwer zu erklärenden, aber deutlich vernehmbaren Kraft. Dass ein eindringlich elegischer Tonfall und zugleich größte Gelassenheit herrschen, ist eine der Paradoxien dieser Phase von Cerhas jüngstem Œuvre.
Nicht selten ereilen Cerha die Einfälle im Traum.
Historische Urteile über die Gegenwart sind zwar stets mit Vorsicht zu genießen, es spricht aber alles dafür, dass wir es hier mit einem echten Spätstil zu tun haben. »Ich glaube nicht, dass ich einen Stil habe«, formulierte der Komponist einmal im Gespräch. Einen unverwechselbaren Cerha-Ton gibt es dennoch zweifellos, der jedoch jenseits vordergründiger stilistischer Idiome liegt, ja die Erdenschwere der Noten durchaus im Sinne Adornos zugunsten intensiver geistiger Durchdringung abzustreifen scheint.
Welchen Tonfall er auch anschlägt, stets ist die Erinnerung an Früheres mitgedacht, schwingen die Ergebnisse von Cerhas frühen, großartigen Klangexperimenten mit, die jetzt unverkennbar eine noch größere Selbstverständlichkeit – man möchte sagen: Natürlichkeit – ausstrahlen.
Im ätherischen Bruchstück, geträumt (2009) wird ein von Röhrenglocken durchsetztes kontinuierliches Streicherflirren zum Ausgangspunkt eines Wechselspiels zwischen Flächen und Impulsen von irisierender Klarheit. Einen ähnlichen Zauber des Augenblicks erreicht Cerha in den blitzartig wechselnden symphonischen Szenen Instants für Orchester (2006/08), auch sie Bruchstücke, die wie durch ein geheimes Band verbunden sind. In denselben Zusammenhang gehören die Momente für Orchester (2005), deren elf Teile jeweils unterschiedliche Charaktere aufweisen und dennoch untergründig miteinander kommunizieren. In den letzten Jahren ist der Komponist auch mehrfach zu älteren Stücken zurückgekehrt, um sie einer Transformation zu unterziehen: Les Adieux (2005) zum Beispiel nimmt seinen Ausgangspunkt in einem Klavierstück aus den 1960er-Jahren und stellt langsam verklingende Töne und punktuell artikulierte Impulsfolgen einander gegenüber. Wer einmal erlebt hat, welchen Zauber dabei einige wenige Töne ausstrahlen können, weiß, dass hier ein wahrhaft großer Geist am Werk ist.