»Webern beschreibt die Seele, Bartók hat noch Fleisch«

Wolfgang Schaufler


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Was charakterisiert Béla Bartók als Mensch?

Eötvös: Bartók ist ein Maßstab, nicht nur als Künstler, sondern auch in seiner moralischen Haltung. Er war ein Weltbürger, vergleichbar mit einem Weltbaum, dessen Wurzeln in seiner Heimat stehen, dessen Äste aber die ganze Erde bedecken. Wenn es in der Welt um Brüderlichkeit, um Offenheit, um ein sauberes Denken geht, dann kann man Bartók als Vorbild nehmen.

Er war ein moderner Mensch aus seiner Zeit. Ich habe ein Foto aus dem Jahr 1927, auf dem man Bartók in der Gesellschaft von Walter Gropius und Paul Klee in Dessau sieht, wahrscheinlich im Garten des Bauhaus-Gebäudes. Es galt damals auch als modern, dass er in seiner Wohnung ungarische Bauernmöbel hatte. Das ist charakteristisch für Bartók: die selbstverständliche Verbindung und Einheit von Heimat und der großen Welt.

Was charakterisiert Béla Bartók als Komponist?

Eötvös: Er war seinerzeit nicht Avantgarde im Sinne des westeuropäischen Begriffs des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Westen langsam entdeckt, dass es auch eine andere, eine osteuropäische ­Avantgarde gab, wie Bartók oder Janáček oder die Russen, die in Russland geblieben sind, wie Schostakowitsch und Prokofiew.

Das bartóksche Ausdrucksspektrum ist sehr breit; es reicht von äußerst sensibel bis wild, energisch, tobend. Als Beispiel würde ich nennen: die Perfektion, im ersten Satz der Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, das ist so klar wie bei Bach, und die tobenden Tanzszenen im Wunderbaren Mandarin.

Was ist spezifisch ungarisch an Bartók?

Eötvös: Ich sehe ihn eher als eine Ausnahme. Seinen Typ gab es früher in Ungarn nicht. Er war ein Unikum und er ist es heute immer noch.

Was wir heute mit Abstand sehen können: Er hat sich nie geirrt. Er konnte die Situationen ruhig und klar erkennen. Als junger Mann hat er gegen die Habsburgermonarchie protestiert, politisch, aber nicht kulturell. Seine musikalische Herkunft liegt in der westeuropäischen Musiktradition, aber gerade die politische Haltung gegen die Monarchie hat ihn dazu geführt, dass er sich zur Volkskunst hingewendet hat. Das war der entscheidende Moment.

Er war in seinem ganzen Leben darum bemüht, seine Erfahrungen aus der Volkskunst in die europäische Kunstmusik zu integrieren. Diese Volkskunst war nicht nur aus dem damaligen ungarischen Staatsgebiet, sondern aus der Volkskunst im Allgemeinen aus Gebieten, die er in seinem Leben besuchen konnte: nach Süden bis Nord­afrika, nach Osten über Rumänien bis Bulgarien, Türkei.

Ich fand es immer interessant zu sehen, wie er seine Volksmusik-Sammlungen mit wissenschaftlicher Präzision notierte, in einer Weise, die man in der herkömmlichen Interpretationspraxis nicht gebrauchen kann, weil sie zu präzis ist.

Unser westliches Notationssystem lässt viele Parameter offen. Es ist auf die praktische Kommunikation reduziert, die man nur in Kenntnis der europäischen musikalischen Tradition realisieren kann. Bartók hat diese unterschiedlichen Notationssysteme sehr bewusst auseinandergehalten: jene der Volksmusik und jene der Kunstmusik.

Die Volksmusik-Notationen waren für die Wissenschaft, dafür müssen wir ihm sehr dankbar sein. Die traditionelle Notation war für die tägliche Praxis bestimmt.

Bartók verlangt Mut zum grotesken Charakter.

Peter Eötvös
© Eötvös Privatarchiv
Walter Gropius, Béla Bartók und Paul Klee (1927)

Was hat der Dirigent bei Bartók zu beachten?

Eötvös: Ich habe in Salzburg Herzog Blaubarts Burg mit den Wiener Philharmonikern aufgeführt. Nach der ersten Probe war das Orchester zufrieden mit mir: Sie haben gesagt, dass es sehr selten vorkommt, dass ein Dirigent so viele Rubati zu dirigieren wagt. Rubato, das heißt, flexibel im Tempo zu sein, ist nämlich gefährlich für das Zusammenspiel. Aber wenn diese Flexibilität natürlich ist, dann kann man das Orchester ohne Gefahr zusammenhalten und die Musiker haben das auch sehr gern.

Man muss aber mit dem Rubato vorsichtig sein. In den Klavieraufnahmen von Bartók können wir ­feststellen, dass er selbst relativ wenig rubato gespielt hat, und wenn ja, dann nicht so, wie es in der westeuropäischen Tradition vorkommt.

Es gibt zwei verschiedene Arten von Volksmusik: die getanzte und die gesungene. Die getanzte muss im Tempo sehr präzis und regelmäßig sein. Dagegen ist die gesungene im Charakter erzählend, psalmodierend und freier. Eine Melange von Text und Gefühl. Bartók wusste um die Natur dieser Arten von Rubato sehr genau Bescheid.

Das Rubatospiel ist meistens mit der ungarischen Sprache verbunden, und da können die ausländischen Dirigenten schwer entscheiden, was richtig ist. Herzog Blaubarts Burg wird heutzutage überall auf Ungarisch gesungen, daher ist es wichtig, an dieses »Rubato-Problem« zu denken.

Zudem ist eine sehr präzise Artikulation für die Dirigenten wesentlich. Da Bartók selbst ein sehr präziser Pianist war, findet man die Artikulationszeichen auch in seinen Partituren wieder. Die präzise Artikulation dient der Verständlichkeit genauso wie in der Sprache. Wenn jemand nicht klar artikuliert, dann sagt man sofort: Ich habe es nicht verstanden. Genauso ist es auch in der Musik. Es gibt zwei typische Artikulationszeichen bei Bartók, die man kennen muss: z. B. wenn zwei Töne mit einem Legato verbunden sind und der zweite Ton kurz sein soll, dann ist die Frage, ob dieser kurzer Ton extra angestoßen oder daran gebunden wird. Bartók benutzt zwei verschiedene Bezeichnungen: Wenn ein Staccatopunkt über dem Legatobogen liegt, dann wird er angebunden und kurz gespielt. Wenn der Punkt unter dem Legato­bogen liegt, dann wird der Ton noch einmal gestoßen.

Ein kleines, aber wichtiges Detail: Bei Bartók muss man die Glissandi immer sofort beginnen und für die Gesamtdauer gleichmäßig verteilen.

Bei Bartók müssen die Dirigenten Mut zum grotesken Charakter haben. Das Groteske in der Kunst lag damals in der Luft und es in der Musik so darzustellen, wie Bartók es gemacht hat, war ziemlich selten und sehr charakteristisch für ihn.

Ich denke zum Beispiel an den Alten Mann im Mandarin oder an das Fugato im Konzert für Orchester. Dieses Fugato ist eine Parodie, es wird aber von den meisten Dirigenten todernst »barock« interpretiert. Bartók zeigt den grotesken Charakter an den Holzbläsern, die so klingen wie ein Hühnerhof.

Die märchenhafte, erzählerische Atmosphäre am Anfang von Blaubart und im Konzert für Orchester braucht einen reinen Ton wie von einem Chor gesungen. Diesen Klang soll man nicht aus dem romantischen Nebel denken, sondern immer sehr einfach, schlicht.

Was hat der Komponist Eötvös von Bartók gelernt?

Eötvös: Vor allem die Ökonomie, aber anders als bei Webern. Webern beschreibt die Seele, Bartók hat noch Fleisch.

Ich war gerade 12 Jahre alt, als ich in unserer Musikschule zum ersten Mal Ernö Lendvay und seine Bartók-Analysen kennengelernt habe. Seine Denkweise über Bartók, die harmonische und formale Analyse haben mich bis heute begleitet. Nicht alle Musikwissenschaftler akzeptieren seine Thesen, für mich sind sie aber grundlegend wichtig, weil sie exakt aus einem kompositorischen Denken gedacht sind.

Die Goldene-Schnitt-Proportion, die Fibonacci-Reihe, die Quintenkreis-Tonalität sind auch unbewusst für mich wichtige Faktoren während des Komponierens. Oft empfinde ich meine Stimmführung von Intervallen sehr bartókhaft, ein normaler Zuhörer kann es nicht merken (wenn man es hören könnte, würde ich es nicht schreiben, es bleibt mein Geheimnis).

Was bewundern Sie am meisten an Bartók?

Eötvös: Sein Unabhängigkeitsbedürfnis, wie er es als junger Mensch schafft, seine traditionelle Ausbildung in seine Musik zu integrieren (!), statt abzuweisen. Etwas ganz Eigenes und Neues zu schaffen, aber dabei die Tradition mitzunehmen.