Zemlinskys »Die Seejungfrau«: Die neue kritische Ausgabe

Antony Beaumont


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Eines der faszinierendsten Werke der Orchesterliteratur des 20. Jahrhunderts entsteht neu. Der Autor arbeitet an einer kritischen Neuausgabe und überrascht mit einer bislang unbekannten Szene.

1976 tauchte in einer Wiener Privatsammlung das Autograph eines unbekannten Orchesterstücks von Zemlinsky auf. Unabhängig voneinander identifizierten vier Zemlinsky-Koryphäen der ersten Stunde (Alfred Clayton, Peter Gülke, Keith Rooke und Horst Weber) das Manuskript als ersten Teil der Seejungfrau und wiesen auf ein Konvolut in der Zemlinsky Collection der Library of Congress mit dem zweiten und dritten Teil desselben Werks hin. Damit gelangte das Werk in seiner ursprünglichen, dreisätzigen Form 1984 zur Aufführung – zum ersten Mal seit 75 Jahren – und zwar durch das Österreichische Jugendsinfonieorchester unter der Leitung von Peter Gülke.

Wie alle anderen, die sich damals für Die Seejungfrau einsetzten, musste Gülke aus einer Faksimile-Ausgabe der Originalpartitur dirigieren. Durch Zemlinskys winzige Notenschrift sowie zahlreiche Radierungen, Umstellungen und Überklebungen im Originalmanuskript stellte dies dem Dirigenten erhebliche Schwierigkeiten in den Weg. Die Problematik der Entzifferung hatte zur Folge, dass auch das neue Orchestermaterial fehlerhaft ausfiel. Aus diesem Grund musste es über die Jahre immer wieder überarbeitet werden.

Obwohl angekündigt wurde, dass Gülke eine neue Ausgabe der Partitur anfertigen würde, verlief das Projekt ins Leere. Als Notlösung fertigte die Universal Edition eine handgeschriebene Partitur des Kopisten für die Sätze II und III an. Was die Lesbarkeit anging, war diese Partitur eine entscheidende Verbesserung, jedoch war auch sie von zahlreichen Fehlern und Auslassungen überschattet. Die Kopie des 1. Satzes wurde 1997 durch eine maschinell gesetzte Partitur ersetzt, die für den persönlichen Gebrauch von James Conlon angefertigt und in weiterer Folge von der Universal Edition erworben wurde. Nun gab es zumindest eine lesbare Leihpartitur, mit der die ständig wachsende Nachfrage nach der Seejungfrau befriedigt werden konnte. Es fehlte jedoch an einem einheitlichen Konzept und einer sorgfältigen Bearbeitung. Im Laufe der Jahre haben verschiedene Dirigenten in einem noch nicht abgeschlossenen Prozess dazu beigetragen, Fehler und Auslassungen zu entdecken und zu korrigieren. Universal Edition ist allen voran Hans Graf zu Dank verpflichtet, der eine nahezu vollständige Liste mit Korrekturen vorgelegt hat, die auf seiner gewissenhaften Untersuchung des Manuskriptes basiert.

Schutzschild gegen Kritiker
Zemlinsky hatte Die Seejungfrau zunächst als zweisätzige, durchkomponierte Symphonie konzipiert, wobei jeder Satz aus zwei Abschnitten bestehen sollte. Im Verlauf der Arbeit (Februar 1902–März 1903) formte er das Werk jedoch in drei einzelne Teile um. Dabei entsprechen die geschilderten Vorgänge im 1. Teil – von der düsteren Eröffnung (»auf dem Meeresgrund«) bis zur Rettung des ertrinkenden Prinzen durch die Seejungfrau – dem bekannten Märchen von Hans Christian Andersen. Der 2. Teil, in erweiterter Gesangsform, stellt eine bei Andersen untergeordnete Szene (Ball im Palast des Meerkönigs) in den Mittelpunkt und geht dann zur entscheidenden Begegnung der Seejungfrau mit der Meerhexe über. Der 3. Teil stellt die Seejungfrau als menschliches Wesen dar: ihre Qualen, ihren Freitod und letztendlich ihre Verklärung.

Als Schutzschild gegen konservative Kritiker wählte Zemlinsky einen Untertitel, der ihm alle Optionen offenließ. Mit der Werkbezeichnung »symphonische Dichtung« hätte er sich zum so genannten »Neu-Töner« deklariert. Stattdessen kündigte er sein Werk bei der Uraufführung am 25. Januar 1905 schlicht als »Phantasie für Orchester« an. Ob das Programm oder die Musik als Erstes entstand, geht aus den Skizzen nicht eindeutig hervor. Im 1. Teil trug Zemlinsky ins Particell einige nach dem Märchen frei erfundene, programmatische Zeilen ein; bereits im 2. Teil reduzierte er das Programm jedoch auf ein paar Stichworte, und obwohl der 3. Teil sich immer nach dem dramatischen Verlauf des Märchens richtet, versah er das Particell mit keinem weiteren Stichwort. In der Orchesterpartitur blieb vom ursprünglichen Programm lediglich der Titel übrig, zusammen mit einer einzigen Vortragsbezeichnung: »wie hilferufend« (Soloklarinette, 1. Teil, Takt 303).

Nachdem das Frühwerk Zemlinskys stark von Brahms und Wagner beeinflusst war, stellte Die Seejungfrau eine radikale Abkehr von diesen Vorbildern dar. Seit Brahms’ Tod hatte Zemlinsky vor allem die Musik von Richard Strauss zum Leitbild genommen, kein Werk steht der Seejungfrau konzeptuell näher als Ein Heldenleben. Dennoch erkannte Zemlinsky auch handwerkliche Schwächen in diesem Werk und beschloss, in der eigenen Musik um des reinen Effektes willen keine Zugeständnisse an die musikalische Logik zu machen. In frühen Jahren hatte er sich die Technik der variativen Entwicklung angeeignet. Obwohl seine Sichtweise sich seitdem verändert hatte, sah er keinen Grund, sich von dieser Kunst abzuwenden. Als Dirigent blieb er ein glühender Verehrer von Strauss, als Komponist erkannte er jedoch, dass die Musik von Gustav Mahler sich eher der Zukunft hinwendete, während die Ästhetik von Strauss letztendlich in die Stagnation führte.

Zemlinskys 1904–1906 entstandene Oper Der Traumgörge zeugt nicht nur von dieser neuen Verbundenheit mit Mahler, sondern auch von einem zunehmenden Interesse an der Musik seiner Zeitgenossen in Frankreich, insbesondere Ravel und Dukas, und einer andauernden Hingabe an die Experimente Schönbergs, dem er (wenngleich nur zögerlich) in seiner Suche nach »Luft von anderem Planeten« damals noch folgte. Somit sah Zemlinsky Die Seejungfrau zu dem Zeitpunkt, als das Werk zusammen mit Schönbergs Pelleas und Melisande uraufgeführt wurde, bereits als »Schnee von gestern« an.

»Die Seejungfrau ist eine ­radikale Abkehr von Brahms und Wagner.«

Antony Beaumont

 

Variative Entwicklung
Trotz positiver Kritiken in der Wiener Presse betrachtete Zemlinsky sein Werk offenbar als gescheitert. In einem handgeschriebenen Lebenslauf, den er im Dezember 1910 bei der Universal Edition einreichte, fand das Werk keine Erwähnung, obwohl es indessen mit einigem Erfolg in Berlin (Dezember 1906) und Prag (September 1908) aufgeführt worden war.

1914, nachdem er einen längerfristigen Vertrag mit der Universal Edition ausgehandelt hatte, schlug er einige seiner früheren Werke zur Publikation vor. Dabei kam ihm Die Seejungfrau jedoch nicht in den Sinn.

Im Nachhinein wissen wir, dass Zemlinsky irrte: In der Gunst der Zuhörer steht Die Seejungfrau heute an erster Stelle. Somit ist die Zeit gekommen, in den Wirr­warr von Fehlerlisten, die sich über die Jahre angesammelt haben, Ordnung zu bringen und auch jene Passagen genauer anzusehen, die damals weggestrichen wurden.

Im Autograph des 1. Teils klebte Zemlinsky die gestrichenen Partiturseiten mit einem starken Leim unwieder­bringlich zusammen. Obwohl die meisten Leim- bzw. Klebstoffsorten allmählich abbröckeln und nach einigen Jahrzehnten gelöst werden können (wie zum Beispiel im Pariser Autograph von Verdis Don Carlos), würde in diesem Fall ein Versuch, die Seiten zu trennen, das Manus­kript irreparabel beschädigen. Die ersten drei Takte der Musik für Fernorchester stehen allerdings frei zur Einsicht und gewähren Einblick in das Instrumentarium: Oboe, Es-Klarinette, zwei Hörner, zwei Trompeten und Tamburin. Sie zeigen außerdem, dass der Bacchanal anfangs von einem Paukenwirbel im Hauptorchester begleitet wurde. Theoretisch dürften diese Erkenntnisse ausreichen, um die Episode auf Grundlage des Particells zu rekonstruieren. In der Praxis hat Zemlinsky gerade diese Passage mehrmals überarbeitet, im Particell steht weder Endgültiges noch Vollständiges,
und auch die Überleitungen zwischen Fernorchester und Hauptorchester sind nicht schriftlich festgelegt. Da eine Rekonstruktion sich letztendlich als reine Mutmaßung erweisen würde, haben wir in der Neuausgabe darauf verzichtet.

Meereshexen-Episode
Im Falle der Episode »bei der Meereshexe« entfernte Zemlinsky einfach die entsprechenden Seiten aus der Orchesterpartitur und legte sie beiseite. Bis auf die ersten vier Takte sind sie im Skizzenkonvolut zur Seejungfrau bei der Library of Congress erhalten geblieben. Die vier fehlenden Takte dienten als Überleitung vom Trio des 2. Teils zu einer mystischen Akkordfolge für Blechbläser, die mit den Worten »von der unsterblichen Seele« gekennzeichnet sind. Die Akkordfolge setzt in Fis-Dur an und ertönt zum zweiten Mal, am Ende der Meereshexen-Episode, in Es-Dur. Um den Sprung zu ermöglichen, musste Zemlinsky lediglich die Überleitung anpassen, um nach Es-Dur statt Fis-Dur zu gelangen. Nachdem er den revidierten Übergang instrumentiert hatte, überklebte er damit die Erstfassung. Obwohl letztere deshalb nicht mehr einsehbar ist, war es möglich, sie ohne nennenswerten Authentizitätsverlust wiederherzustellen, da der vollständige Notentext im Particell erhalten ist und die Instrumentation aus der überarbeiteten Fassung hervorgeht.

Die Neuausgabe bringt die zwei Fassungen des 2. Teils Seite an Seite. Die Originalfassung steigert sich zu einem wilden, an Hysterie grenzenden Höhepunkt und wirbelt die Struktur des ganzen Werks gehörig durcheinander. Die revidierte Fassung hingegen gleitet elegant über Schmerz und Ekstase hinweg, als wollte sie sagen: »Der Rest ist Schweigen.« Welche Fassung wird auf die größere Zustimmung stoßen?


Im Brennpunkt der Arbeit des britischen Musikwissenschaftlers und Dirigenten Antony Beaumont stehen Busoni, Zemlinsky und Mahler. Für die UE betreute er mehrere Zemlinsky-Neuausgaben, darunter Eine florentinische Tragödie, Der Zwerg und die Lyrische Symphonie. Er vollendete auch die Instrumentierung von Zemlinskys letzter Oper: Der König Kandaules.